Die juristische Presseschau vom 30. Juni 2022: Urteile im Bata­clan-Pro­zess / Mehr Kli­maklagen welt­weit / BSG zu gesetz­li­cher Unfall­ver­si­che­rung

30.06.2022

Ein Pariser Gericht verurteilt die Attentäter und Hintermänner der Bataclan-Anschläge von 2015. Die Zahl der Klimaklagen international steigt. Das BSG entschied gleich zweimal zur Reichweite gesetzlicher Unfallversicherungen.

Thema des Tages

Frankreich – Bataclan-Prozess: In Paris wurden gestern die Urteile gegen 20 Angeklagte im Prozess um die Anschläge in Paris vom 13. November 2015 gesprochen. Der Hauptangeklagte Salah Abdeslam, das einzig noch lebende Mitglied des Terrorkommandos, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte sich zu Beginn des Prozesses selbst noch als Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" bezeichnet, im Verlauf des Verfahrens aber eine Entschuldigung an die Opfer gerichtet und sich in seinen Schlussworten geläutert und einsichtig gezeigt. Es berichten FAZ (Michaela Wiegel), tagesschau.de und zeit.de. Die SZ (Nadia Pantel) betont zudem, dass sich die Justiz alle Mühe gegeben habe, dass es während des gesamten Verfahrens zu keinen Pannen kommt.

Rechtspolitik

Ersatzfreiheitsstrafe/Geldstrafe: Auf dem Verfassungsblog diskutiert Frank Wilde, Projektleiter in der freien Straffälligenhilfe Berlin, das Für und Wider der umstrittenen Ersatzfreiheitsstrafe und erörtert, warum eine Änderung nur möglich sei, wenn das Verfahren der Geldstrafe reformiert wird. Um die Geldstrafe sozial gerechter zu machen und die Ersatzfreiheitsstrafe in die "Bedeutungslosigkeit zu verbannen", seien fünf Schritte notwendig, die Wilde näher erläutert.

Arbeitsbedingungen: Am 1. August 2022 tritt die Reform des Nachweisgesetzes in Kraft. Danach müssen Arbeitgeber:innen die wesentlichen Arbeitsbedingungen schriftlich niederlegen, also eigenhändig unterschrieben, und nicht in elektronischer Form (wie es die EU-Arbeitsbedingungen-Richtlinie zulässt). Rechtsanwalt Thomas Frank befasst sich im Expertenforum Arbeitsrecht mit den neuen Pflichten und Tücken des Nachweisgesetzes und dessen Umsetzung in der Praxis.

Justiz

Klimaschutz vor Gericht: Die Zahl der Klimaprozesse ist weltweit seit dem Jahr 2020 stark gestiegen und während in Deutschland noch wenige Klimaklagen gewonnen werden, enden global betrachtet mehr als die Hälfte der Prozesse pro Klimaschutz. Das geht aus einer Studie der London School of Economics zu "climate litigation" hervor, über die die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet. Laut der Studie wird zum einen erwartet, dass Kläger:innen zunehmend versuchen werden, Unternehmensführer:innen persönlich zur Verantwortung zu ziehen. Zum anderen wird damit gerechnet, dass sich Unternehmen ihrerseits häufiger gegen politische Maßnahmen zum Schutz des Klimas vor Gericht wehren werden.

Dass das Durchsetzen von Klimaschutz vor Gericht eine kleinteilige Angelegenheit ist und das Potenzial der Klimaklagen noch nicht erschöpft ist, beschreibt die SZ (Wolfgang Janisch). Zwar zeigen jüngere Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen und auch ein Aufsatz der Verfassungsrichterin Gabriele Britz, dass vom BVerfG erstmal keine weiteren Vorgaben zu den Klimaschutzgesetzen folgen werden. Allerdings seien in letzter Zeit einige Entscheidungen verschiedener Landes- und Bundesgerichte vor allem im Bau- und Verkehrsrecht ergangen oder noch zu erwarten, in denen der Klimaschutz eine entscheidende Rolle spielte oder spielen wird.

BSG zur Unfallversicherung/Rauchen im Stadtpark: Verlässt ein Schüler zum Rauchen in der Pause das Schulgelände und geht in den Stadtpark, ist er nicht mehr gesetzlich unfallversichert. Das entschied das Bundessozialgericht und bestätigte damit die Entscheidung eines Landessozialgerichts, wie LTO schreibt. Ein Stadtpark könne nicht als erweiterter Schulhof angesehen werden, vielmehr sei der organisatorische Verantwortungs- und Einflussbereich der Schule auf das Schulgelände beschränkt.

BSG zur Unfallversicherung/betriebsinterner Fußballcup: Ein Unfall bei einem betriebsinternen Fußballturnier ist kein Arbeitsunfall und unterfällt nicht der gesetzlichen Unfallversicherung, entschied das Bundessozialgericht. Vorliegend hatte das betriebsinterne Gesundheitsmanagement alle "fußballinteressierten Mitarbeiter" aufgefordert, sich zu Mannschaften zusammenzutun und an einem Fußball-Cup teilzunehmen. Weil dies nur für bestimmte Beschäftigte interessant war, ließe sich das Turnier nicht als betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung einstufen und wegen des fehlenden Ausgleichszwecks auch nicht als Betriebssport, weshalb laut BSG im Ergebnis kein Arbeitsunfall vorliegt. Es berichtet LTO.

BVerfG zu Bayerischem Verfassungsschutzgesetz: Rechtsprofessor Mark Zöller setzt sich bei LTO mit dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zum bayerischen Verfassungsschutzgesetz und den Auswirkungen des Urteils für Bund und Länder auseinander. Ende April diesen Jahres hatten die Karlsruher Richter:innen einen erheblichen Teil des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes für verfassungswidrig erklärt und entschieden, dass der Verfassungsschutz einige weitreichenden Befugnisse zwar anwenden darf, aber eben nicht mehr voraussetzungslos, sondern nur schrittweise, begrenzt und kontrolliert. Damit habe das BVerfG die Leitplanken auch für die bundesweite rechtsstaatliche Ausgestaltung des deutschen Nachrichtendienstrechts gezogen und Reformbedarf im gesamten Recht der innneren Sicherheit ausgelöst.

BSG zur anwaltlichen Sozialversicherungspflicht: Anwält:innen, die als Gesellschafter-Geschäftsführer:innen tätig sind, können unter bestimmten Bedingungen aufgrund abhängiger Beschäftigung als Angestellte ihrer GmbH anzusehen und damit grundsätzlich sozialversicherungspflichtig sein. Voraussetzungen sind, so das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung, dass sie nicht zu mehr als 50 Prozent an der Gesellschaft beteiligt sind oder nicht über vertragliche Möglichkeiten verfügen, negative Beschlüsse zu verhindern. Dass Anwält:innen unabhängige Organe der Rechtspflege sind, stehe einem Angestelltenstatus nicht entgegen. Wie LTO (Martin W. Huff) schreibt, arbeiten Anwält:innen heute kaum noch als Selbstständige, sondern überwiegend im Angestelltenverhältnis oder als Syndikusanwält:innen.

LG Erfurt – Neonazibande Turonen: Vor dem Landgericht Erfurt begann am Mittwoch ein Großprozess gegen sechs Männer und drei Frauen, wie die taz (Konrad Litschko) berichtet. Als Mitglieder der Neonazibande "Turonen" um den mitangeklagten Rechtsextremisten Thomas W. sollen sie sich unter anderem des Drogenhandels und der Zwangsprostitution schuldig gemacht haben. Das so erlangte Geld sei vom mitangeklagten Szeneanwalt Dirk Waldschmidt gewaschen worden und habe laut Staatsanwaltschaft politischen Zwecken gedient, aber auch der Unterstützung von Ralf Wohlleben, der dem NSU die Waffen beschafft hatte.

LG Essen zu MySugarDaddy-Betrug: Die Zeit (Laura Meschede) schildert in ihrer Verbrechen-Rubrik den Fall einer Gruppe von zwei jungen Frauen (eine davon minderjährig) und zweier junger Männer, die über die Plattform MySugarDaddy Kontakt zu wohlhabenderen älteren Männern aufnahm, um diese später gemeinsam zu betrügen und zu bestehlen. Sie wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zwei und sieben Jahren verurteilt. Nicht thematisiert worden war während des Prozesses die Absicht der geschädigten Männer, gegen Bezahlung sexuelle Handlungen mit möglicherweise Minderjährigen vorzunehmen. Der Richter übte auch in seiner Urteilsverkündung keine Kritik an den Männern und bezeichnete eine der Angeklagten gar selbst als "Zuckerstück".

AG Frankfurt/M. zu erhöhter Regelgeldbuße bei SUV: Eine SUV-Fahrerin muss für einen Rotlichtverstoß ein erhöhtes Bußgeld von 350 Euro zahlen. Das entschied das Amtsgericht Frankfurt am Main. Die Bauweise von SUVs erhöhe das Verletzungsrisiko für andere Verkehrsteilnehmende. Aufgrund dieser größeren abstrakten Gefährdung sei ein Rotlichtverstoß gravierender als normalerweise und rechtfertige eine höhere Regelgeldbuße. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, berichtet LTO.

Durchsuchungen in Bundesministerien: Die niedersächsische Justizministerin Barbara Havlitza (CDU) hat schriftlich Fragen der Grünen zu den während des Bundestagswahlkampfs im September 2021 von der Staatsanwaltschaft Osnabrück geplanten Durchsuchungen bei den SPD-geführten Bundesministerien für Justiz und Finanzen beantwortet. Das Vorgehen war später gerichtlich als rechtswidrig eingestuft worden. Havlitza betonte, sie habe im Vorfeld nichts Konkretes gewusst und hätte auch nicht interveniert, weil das geplante Vorgehen der Staatsanwaltschaft vertretbar gewesen sei. Deutlich wurde aber, dass die Generalstaatsanwaltschaft und die niedersächsische Polizei im Vorfeld Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen zeigten. LTO (Markus Sehl) berichtet. 

Recht in der Welt

EGMR/Russland - Angriff auf die Ukraine: Die Ukraine wirft Russland gezielte, wahllose und unverhältnismäßige Angriffe gegen Zivilist:innen und deren Eigentum in der Ukraine vor und hat deshalb vergangene Woche eine erste Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Russland ist noch bis zum 16. September Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), kündigte aber schon an, sich an Urteile des EGMR nicht mehr zu halten. LTO berichtet.

USA – Ghislaine Maxwell: Ein New Yorker Gericht hat die frühere Vertraute von Jeffrey Epstein unter anderem wegen Menschenhandels mit Minderjährigen zu Missbrauchszwecken zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren und einer Geldstrafe von 750.000 Dollar verurteilt. Maxwell hatte neben Epstein eine zentrale Rolle beim Aufbau eines Rings zum sexuellen Missbrauch von Mädchen gespielt. Es berichten die FAZ (Christiane Heil), SZ (Christian Zaschke), spiegel.de und LTO.

USA – Sturm aufs Kapitol: Nach den Aussagen von Cassidy Hutchinson, einer ehemaligen Mitarbeiterin von Donald Trump, vor dem Untersuchungsausschuss des US-Repräsentantenhauses ist nun klar, dass der frühere US-Präsident einen gewaltsamen Putsch wollte, schreiben die FAZ (Majid Sattar) und SZ (Fabian Fellmann). Wie die SZ (Nicolas Freund) erläutert, gab es bisher nicht genügend Beweise dafür, dass Trump über die Gewalt Bescheid wusste. Die neuen Erkenntnisse könnten nun dazu führen, dass Trump möglicherweise doch noch angeklagt wird, die Ausschreitung mitinitiiert und bei dem gewaltsamen Marsch auf das Kapitol sogar als Anführer fungiert zu haben. 

Juristische Ausbildung

Jura-Bachelor: Nicht der Umfang des Prüfungsstoffs oder das drohende endgültige Nichtbestehen des Examens sei der Grund für die oftmals unkontrollierte und übertriebene Prüfungsangst im Jurastudium, sondern die kommerziellen Repetitorien, deren "Geschäftsmodell gerade diese Angst" sei. Die Einführung eines staatsexamensbegleitenden Bachelors helfe da wenig, im Gegenteil. Der "Loser-Bachelor" führe dazu, dass vor allem "Jura-ungeeignete" Studierende, anstatt das Jurastudium abzubrechen noch den Bachelor machen und anschließend in die Rechtsberatung gehen, mit weitreichenden Folgen für diesen Bereich, meint Rechtsprofessorin Tiziana Chiusi in der FAZ.


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LTO/ali

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. Juni 2022: . In: Legal Tribune Online, 30.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48891 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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