Die juristische Presseschau vom 5. Mai 2022: BAG zu Über­stunden / BGH zu Fit­nes­stu­dios und Corona / AG Bie­le­feld zu durch­löchertem Kondom

05.05.2022

Die Anordnung und Leistung von Überstunden muss weiterhin von Arbeitnehmenden dargelegt werden. Corona-geschlossene Fitnesssstudios müssen Mitgliedsbeiträge zurückzahlen. Umgekehrtes Stealthing gilt als sexuelle Nötigung.

Thema des Tages

BAG zu Überstunden: In einem Grundsatzurteil hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass es weiterhin Sache der Arbeitnehmenden ist, nachzuweisen, dass die geltend gemachten Überstunden notwendig, angeordnet oder zumindest vom Arbeitgeber geduldet waren und auch geleistet wurden. Daran habe sich durch das so genannte "Stechuhr-Urteil" des Europäischen Gerichtshofs von 2019 nichts geändert. Der EuGH hatte damals von Unternehmen verlangt, "ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem“ einzuführen. Das BAG stellte nun klar, dass sich das EuGH-Urteil aus Kompetenzgründen nur auf den gesundheitlichen Schutz vor Überschreitung von Höchstarbeitszeiten beziehen könne, denn die EU sei für Lohn-Fragen nicht zuständig. Aus dem EuGH-Urteil könne also nicht geschlossen werden, dass sich die Darlegungslast für die Vergütung von Überstunden ändert, wenn der Arbeitgeber kein präzises Arbeitszeiterfassungssystem nutzt. Im konkreten Fall legte der Arbeitnehmer - ein Getränke-Ausfahrer - technische Aufzeichnungen (Stechuhr-Nachweise) vor, die eine Mehrarbeit von 429 Stunden belegen sollten. Die Aufzeichnungen ließen jedoch offen, ob und wie viele Pausen er während der Arbeitszeit gemacht hatte. Nach der unveränderten Darlegungslast hätte der Fahrer beweisen müssen, dass er - wie von ihm behauptet - keinerlei Pausen gemacht, sondern während der Arbeit gegessen und geraucht habe. Pläne von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für die gesetzliche Vorgabe präziserer Arbeitszeiterfassung werden von der FDP mit der Warnung vor "Dokumentierungswahn" abgelehnt. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Katja Gelinsky), taz.de (Christian Rath), beck-aktuell (Joachim Jahn) sowie  Rechtsanwalt Michael Fuhlrott auf LTO.

Ukraine-Krieg und Recht

Kriegseintritt und Völkerrecht: Auf dem Verfassungsblog mahnt Rechtsprofessor Stefan Talmon, den Blick nicht zu sehr auf die Stellung Deutschlands als mögliche Kriegspartei zu verengen. Selbst bei einer Ausbildung von ukrainischen Soldaten in der Ukraine werde Deutschland nicht zur Kriegspartei - es sei denn die Ausbildung erfolge im Gefecht. Und selbst wenn Deutschland die Ukraine als Kriegspartei militärisch unterstützen würde, gäbe dies Russland nach dem jus ad Bellum kein Selbstverteidigungsrecht gegen Deutschland. Zu denselben Ergebnissen kommt spiegel.de (Dietmar Hipp), der sich dabei insbesondere auf Rechtsprofessor Matthias Herdegen beruft.

Gas-Embargo: Um sich auf einen möglichen Lieferstopp von russischem Gas vorzubereiten, könne Deutschland nicht einseitig die Regeln zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit ändern, schreibt die FAZ (Katja Gelinsky). Die sogenannte SoS-Verordnung der EU schließe es aus, zunächst Privatkund:innen den Gashahn zuzudrehen oder ein Lossystem über den Zugang der Unternehmen zu Gaslieferungen entscheiden zu lassen, wird Rechtsprofessorin Charlotte Kreuter-Kirchhof zitiert. Denkbar seien jedoch marktwirtschaftliche Instrumente wie ein Versteigerungsverfahren.

Rohstoffimporte und Menschenrechte: Im Zuge der Diskussionen um das geplante Embargo der EU-Staaten gegen russisches Öl mahnt Bernhard Pötter (taz), auch bei alternativen Energie-Importen die menschenrechtlichen Implikationen nicht aus dem Blick zu verlieren. "Ist Wasserstoff aus Marokko akzeptabel, wenn die Besatzung der West­sahara andauert? Solaranlagen, wenn sie in China unter Zwangsarbeit entstehen?" Der Autor fordert klare europäische Regeln, die sich am Vorbild der EU-Richtlinie zu Lieferketten orientieren sollten.

Geschlechtergerechtigkeit im Krieg: Reinhard Müller (FAZ) macht sich Gedanken darüber, was Geschlechtergerechtigkeit in Zeiten eines Angriffskrieges bedeuten kann. Er begrüßt, dass vor dem Internationalen Strafgerichtshof auch sexuelle Gewalt geahndet wird, weist aber darauf hin, dass in westlichen Staaten die Wehrpflicht mit wenigen Ausnahmen (Israel, Norwegen und Schweden) nur für Männer gelte. "Eine Politik, die den Geschlechtern Gerechtigkeit widerfahren lassen will", so Müller, "muss auch deren Unterschiede anerkennen. Vor dem Gesetz ist jeder gleich; aber das Gesetz muss nicht alle gleich behandeln."

Rechtspolitik

Europol: Das EU-Parlament hat mit großer Mehrheit einer Erneuerung der Europol-Verordnung zugestimmt, mit der Befugnisse von Europol ausgeweitet werden. So soll Europol z.B. im Bereich von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern künftig große Datensätze von Firmen erhalten und forensisch auswerten können. netzpolitik.org (Matthias Monroy) berichtet.

Verantwortungseigentum: Im FAZ-Einspruch sprechen sich Rechtsprofessor Rainer Hüttemann und Rechtsanwalt Peter Rawert gegen die Einführung sogenannten Verantwortungseigentums aus. So verstießen die derzeitigen Pläne gegen die kürzlich verabschiedete EU-Mobilitätsrichtlinie, wonach keine europaweit wirksame ewige Kapitalbindung in Gesellschaften mit entmachteten Eigentümern zugelassen sei.

Vorkaufsrecht/Milieuschutz: Das Hbl (Heike Anger) berichtet nun auch ausführlich über die Pläne der Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD), das kommunale Vorkaufsrecht neu zu regeln. So wird der Verwaltungsrechtler Martin Burgi zitiert, der kritisiert, dass alle Käufer:innen "in einen Topf" geworfen würden und private Käufer:innen kein Vorzug gegenüber großen Investoren gewährt werde. Die taz (Jasmin Kalarickal) trägt  auch Stimmen aus der Politik zusammen. Insbesondere das FDP-geführte Justizministerium habe aktuell noch "Beratungsbedarf".

Gesundheitsdaten: netzpolitik.org (Alexander Fanta) berichtet nun auch über die Pläne der EU-Kommission zur Schaffung eines grenzüberschreitenden "Europäischen Gesundheitsdatenraums". Kritiker:innen warnen davor, zu vielen privaten Akteur:innen Zugang zu sensiblen Gesundheitsdaten zu geben.

Justiz

BGH zu Fitnesstudios und Corona-Schließungen: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass Betreiber:innen von Fitnessstudios zur Rückzahlung der Mitgliedsbeiträge verpflichtet sind, die sie in der Zeit der coronabedingten Schließungen von Kund:innen per Lastschrift eingezogen haben. Ein ehemaliges Mitglied eines Fitnessstudios hatte geklagt, nachdem die Betreiberin nur eine "Gutschrift über Trainingsstunden" angeboten hatte. Der BGH bestätigte nun einen Rückzahlungsanspruch wegen dauerhafter rechtlicher Unmöglichkeit, dem Kunden während dieser Zeit die Nutzung des Fitnessstudios zu gewähren. SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Katja Gelinsky) und LTO berichten.

AG Bielefeld zu durchlöchertem Kondom: Das Amtsgericht Bielefeld hat eine Frau zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil sie heimlich Kondome eines Sexualpartners zerstochen habe, um schwanger zu werden und den Mann an sich zu binden. Unter Stealthing wird normalerweise das heimliche Abstreifen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs durch den Mann beschrieben. Die Richterin erachtete nun erstmals auch die umgekehrte Konstellation als strafbare sexuelle Nötigung. bild.de (Markus Brekenkamp) und spiegel.de berichten.

BVerfG zu Auslieferungen: Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Verfassungsbeschwerden überwiegend stattgegeben, in denen es um Auslieferungen nach Schweden bzw. an die Türkei geht. In beiden Fällen sei das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt worden, weil die Verfahren nicht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt wurden. Dieser habe bisher nicht geklärt, ob ein zuständiges Gericht vorab prüfen muss, ob durch die Überstellung ein schwerer gesundheitlicher Schaden droht und ob in diesem Fall die Überstellung abgelehnt werden darf. In dem anderen Fall ging es um die umstrittenen Frage, ob die Anerkennung als Flüchtling in einem EU-Land (hier Italien) einer Auslieferung an seinen Heimatstaat (hier an die Türkei) grundsätzlich entgegensteht. LTO berichtet.

VerfGH Berlin – Berliner Hochschulgesetz: Die CDU- und die FDP-Fraktionen in Berlin haben laut LTO beim Berliner Verfassungsgerichtshof eine Normenkontrollklage gegen den umstrittenen § 110 des Berliner Hochschulgesetz eingereicht. Sie kritisieren die fehlende Gesetzgebungskompetenz des Landes für diese Regelung, nach der mit Nachwuchswissenschaftler:innen frühzeitig eine unbefristete Anschlussbeschäftigung vereinbart werden muss.

LG Berlin – Springer-Betrug: Der ehemalige Logistikchef von Axel Springer, Markus Günther, muss sich gemeinsam mit vier Kleinunternehmern vor dem Landgericht Berlin verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, den Medienkonzern mithilfe eines Scheinrechnungssystems um mehr als sechs Millionen Euro betrogen zu haben. Demnach sollen u.a. Spediteure Touren abgerechnet haben, die sie niemals gefahren waren. Günther zeigt sich von Anfang an geständig. Das (seiner Aussage nach) bereits bestehende Betrugssystem habe er lediglich weiterentwickelt und es auch auf Geheiß und zum Vorteil von Springer-Führungskräften genutzt. Das Hbl (Philipp Alvares de Souza Soares) berichtet.

VG Hamburg – Protestcamp bei G20: Die taz-nord (Robert Matthies) berichtet über das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Hamburg, das sich derzeit mit dem Verbot eines Protestcamps gegen den G 20-Gipfel 2017 in Hamburg sowie dem Polizeieinsatz zu dessen Auflösung befasst. Dabei gehe es dem Klägeranwalt Martin Klingner vor allem um die Frage, ob die vor Ort am Mittag des 1. Juli mündlich überbrachte "Zwischenverfügung" einen wirksamen Verwaltungsakt dargestellt habe, der den Polizeieinsatz rechtfertigen könne. Wenige Tage zuvor hatte noch das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Camp vorläufig als Versammlung zu behandeln sei.

StA Stuttgart – Innenminister Strobl: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt gegen den baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU) wegen Anstiftung zu einer verbotenen Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen (§ 353d StGB), nachdem dieser einräumte, in einer Affäre um Vorwürfe der sexuellen Nötigung durch einen ranghohen Polizisten ein offizielles Schreiben von dessen Anwalt an einen Journalisten weitergegeben zu haben. spiegel.de berichtet.

StA'in Anne Brorhilker: Anlässlich einer Durchsuchung in den Frankfurter Büros der US-Bank Morgan Stanley im Zusammenhang mit dem Cum-Ex-Skandal erscheint auf bloomberg.com (Karin Matussek) ein ausführliches Porträt (in englischer Sprache) der durch ihre rigorosen und ausdauernden Ermittlungen bekannt gewordenen Staatsanwältin Anne Brorhilker.

Stephan Mayer gegen Burda-Verlag: Der ehemalige CSU-Generalsekretär Stephan Mayer hat angekündigt, gegen den Burda-Verlag aufgrund schwerwiegender persönlichkeitsverletzender Berichterstattung Klage erheben zu wollen. Dabei geht es um die Berichterstattung über Mayers unehelichen Sohn. Mayer trat Anfang der Woche als Generalsekretär zurück. Zuvor hatte er dem Autor des Bunte-Berichts gedroht, ihn bis ans Ende seines Lebens zu verfolgen. Es berichten SZ (Roman Deininger u.a.) und LTO.

Antisemitische Straftaten: Die Welt (Frederik Schindler) gibt einen Überblick über den Ausgang der zahlreichen Strafverfahren im Zusammenhang mit antisemitischen Übergriffen im Mai 2021, als der israelisch-palästinensische Konflikt erneut eskaliert war. So wurden teilweise Freiheitsstrafen von bis zu über drei Jahren für Körperverletzungen und Volksverhetzungen verhängt, Brandstiftungen teilweise gar nicht aufgeklärt und die Beleidigung durch einen 17-Jährigen mit dem Abfassen eines Entschuldigungsbriefes bestraft.

Recht in der Welt

USA – Abtreibungsgesetz Mississippi: Auf dem Verfassungsblog erläutert die wissenschaftliche Mitarbeiterin Sarah Katharina Stein den jüngst an die Öffentlichkeit gelangten Entwurf einer Entscheidung zum Abtreibungsgesetz in Mississippi und die Auswirkungen eines entsprechenden Urteils. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Valentina Chiofalo geht auf dem Verfassungsblog auch noch auf die möglichen Effekte auf die internationale Fortentwicklung reproduktiver Rechte, auch in Deutschland, ein. Die SZ (Susan Vahabzadeh) gibt im Feuilleton einen Überblick über aktuelle Gesetzgebungspläne einzelner Bundesstaaten und die politische Diskussion in den USA. zeit.de berichtet, dass der Gouverneur von Oklahoma als Reaktion auf den Leak ein Gesetz unterzeichnet habe, nachdem Schwangerschaftsabbrüche bereits nach der 6. Schwangerschaftswoche verboten seien.

Sonstiges

Klimastiftung Nord Stream 2: Ein Rechtsgutachten im Auftrag der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Anfang 2021 vom Landtag errichtete "Stiftung Klima- und Umweltschutz MV" aufgelöst werden müsse, da eine Werbung für den Klimaschutz unmöglich geworden sei, weil die Stiftung negativ mit dem russischen Überfall auf die Ukraine verknüpft sei. Notfalls könne das Land als Stiftungsaufsicht die Auflösung der Stiftung verfügen, da sie wegen ihrer Gazprom-Finanzierung gegen das Gemeinwohl verstoße. Gegen eine Auflösung setzt sich jedoch der Chef der Stiftung, Erwin Sellering (SPD), mit einem Gegengutachten zur Wehr. Es berichten Welt (Matthias Kamann u.a.) und spiegel.de (Philipp Kollenbroich u.a.).

BKartA zu Meta: Das Bundeskartellamt stuft Meta Platforms (früher Facebook) als Unternehmen mit überragender marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb ein. Mit dieser Feststellung werde es für das BKartA in Zukunft leichter, gegen etwaige Wettbewerbsverstöße vorzugehen, berichten Hbl (Julian Olk) und LTO. Anfang des Jahres wurde bereits Google in diese Kategorie eingestuft.

Gerichtsvollzieher: Wegen drohendem Nachwuchsmangel an Gerichtsvollzieher:innen in ostdeutschen Bundesländern sowie komplexerer Aufgaben fordert die Vorsitzende des Verbandes der Gerichtsvollzieher in Sachsen-Anhalt, Daniela Merke, eine Neuausrichtung der Ausbildung. Sie schlägt vor, direkt nach dem Abitur ein duales Studium anschließen zu lassen anstelle des Weges über den mittleren Justizdienst plus rund 20-monatiger Sonderlaufbahn. LTO berichtet.


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LTO/jpw

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 5. Mai 2022: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48344 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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