Sondertribunal für Aufarbeitung des russischen Angriffskriegs gefordert. Mieterin des teilbesetzten Hauses Rigaer Straße 94 zu Räumung verurteilt. Wirtschaftskanzleien wollen eigenen Interessenverband abseits des DAV gründen.
Thema des Tages
Ukraine-Sondertribunal: Der frühere britische Premierminister Gordon Brown und der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba werben für die Errichtung eines internationalen Sondertribunals, vor dem das Verbrechen der Aggression im Ukraine-Krieg verhandelt und Russlands Präsident Wladimir Putin bestraft werden könnte. Das berichtet die FAZ (Stephan Klenner). Vor dem Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sei eine Anklage wegen Aggression nur gegen Bürger der 123 Vertragsstaaten möglich, zu denen Russland nicht zählt. Unterstützung findet der Vorschlag eines Sondertribunals u.a. vom 102-jährigen Ben Ferencz, dem einzig noch lebenden Chefankläger der Nürnberger Prozesse. Dabei komme ein Ad-hoc-Gerichtshof nach dem Vorbild der Tribunale zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in Jugoslawien und Ruanda nicht in Betracht. Diese Organisationsform habe zwar den Vorzug, alle UN-Mitgliedstaaten zu binden, sei jedoch faktisch ausgeschlossen, da sie vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einzurichten wäre und Russland dort ein Vetorecht hat. Brown favorisiert daher die Gründung eines Sondertribunals mittels eines völkerrechtlichen Vertrags von Staaten, die das Verbrechen der Aggression ernsthaft bestrafen wollen.
Ukraine-Krieg und Recht
Regimewechsel/Tyrannenmord: Die FAZ (Reinhard Müller) beschreibt den Wunsch nach einem Regimewechsel in Russland, der teilweise so weit gehe, einen Tyrannenmord nach dem Vorbild des (versuchten) Attentats von Stauffenberg auf Hitler ins Spiel zu bringen. Viele der "[a]llergrößte[n] Schlächter", die Zeitung nennt hier Mao, Stalin und Pol Pot, seien friedlich gestorben. Der irakische Diktator Saddam Hussein landete vor einem Sondertribunal in Bagdad, wo er zum Tode verurteilt wurde. Der jugoslawische Präsident Milosevic starb in Untersuchungshaft in Den Haag, wo er vor dem UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) u.a. wegen Völkermordes angeklagt worden war. Die Forderung nach einem Regimewechsel bleibe auch in einer gewandelten Welt ein Tabu. Das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung und Demokratie werde nicht "herbeigebombt".
Sanktionen gegen Russland/RT und Sputnik: Wie die FAZ (Jürg Altwegg) berichtet, sind die Sender RT und Sputnik in der Schweiz bislang nicht verboten. Die Zeitung führt diese Entscheidung der Regierung u.a. auf den Stolz der großen Mehrheit in der Schweiz auf die Erhaltung ihrer Meinungsvielfalt zurück.
Asyl für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer: Der FDP-Politiker Johannes Vogel fordert laut SZ (Violetta Hagen) ein Sonderprogramm für die Aufnahme russischer Soldaten, die sich dem Krieg verweigern. Auch die Linksfraktion im Bundestag fordert ein vereinfachtes Asylverfahren für Deserteure. Laut Innenministerin Nancy Faeser (SPD) finden entsprechende Gespräche auf europäischer Ebene statt. Die taz (Christian Rath) schildert eine ähnliche Initiative der NGO connection e.V., die sich für Deserteure einsetzt, sowie die unterschiedliche rechtliche und tatsächliche Lage für männliche Kriegsflüchtlinge aus Russland, Belarus und der Ukraine.
Ukrainische Flüchtlinge und Arbeitsrecht: Auf spiegel.de (Florian Gontek/Franca Quecke) findet sich ein Überblick in Frage-und-Antwort-Format zu den wichtigsten arbeitsrechtlichen Fragestellungen, die sich ukrainischen Geflüchtete und Arbeitgeber:innen in Deutschland derzeit stellen.
Arbeitsrecht und Ukraine-Krieg: Im FAZ-Einspruch erscheint ein Beitrag von Gregor Thüsing und Lena Bleckmann, Rechtsprofessor und wissenschaftliche Mitarbeiterin, zu der Frage, ob Äußerungen zum Krieg in der Ukraine eine fristlose außerordentliche Kündigung rechtfertigen können. Am Beispiel des Münchener Dirigenten Waleri Gergijew, der sich nicht öffentlich von Putin distanzierte, erläutern sie den Abwägungsprozess. Trotz Meinungsfreiheit verpflichte insbesondere die Staatsnähe seines Berufs zu einer gewissen Loyalität. Auf der anderen Seite sei er Kulturschaffender, sodass die Gefahr des Vertrauensverlustes der Bürger in den Staat hier geringer sei als etwa bei Beamt:innen.
Billigung des russischen Angriffskriegs: Politiker:innen verschiedener Bundesländer machen sich aktuell für ein Verbot des öffentlichen Zurschaustellens des als propagandistisches Symbol für den Angriff auf die Ukraine verwendete "Z" stark. Das irritiert Rechtsprofessor Uwe Murmann, da eine entsprechende Gesetzesnorm bereits existiere, wird der von der FAZ (Reinhard Bingener) zitiert. So könne das Tragen eines T-Shirts mit einem "Z" in der Fußgängerzone oder das Hissen einer "Z"-Fahne in der Kleingartenkolonie mit entsprechendem Vorsatz bereits ausreichend sein für den Tatbestand des § 140 Nr. 2 Strafgesetzbuch (StGB), die öffentliche Billigung eines Angriffskrieges. Ein "Aktionismus des Gesetzgebers" sei hier nicht nötig. Ein von spiegel.de (Dietmar Hipp/Peter Maxwill) beschriebenes Gutachten des Wissenschaftlichen Diensts des Landtags von Sachsen-Anhalt kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
EuG-Prozess trotz Ukraine-Krieg: An diesem Mittwochnachmittag soll am Gericht der Europäischen Union eine mündliche Verhandlung stattfinden, obwohl die Kiewer Anwälte einer Prozesspartei wegen des Krieges nicht anreisen können und um Verlegung des Termins gebeten hatten. Konkret geht es um die Schließung einer Bank in Lettland, die mehrheitlich Ukrainern gehört. bild.de (Peter Tiede) berichtet empört.
Rechtspolitik
Corona – Maßnahmen: Zwei Länder – Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern – planen derzeit, die sogenannte Hotspot-Regelung des neuen Infektionsschutzgesetz (IfSG) zu nutzen, um weitgehende Corona-Schutzmaßnahmen aufrechterhalten zu können. Die AfD und die FDP in Hamburg sowie u.a. die FDP in Mecklenburg-Vorpommern haben bereits angekündigt, gerichtlich dagegen vorgehen zu wollen. Einen Überblick darüber sowie die künftig geltenden Maßnahmen geben FAZ (Reinhard Bingener/Reiner Burger), taz (Manuela Heim), LTO (Hasso Suliak) und Welt (Ulrich Exner u.a.).
In einem Gastbeitrag auf zeit.de verteidigt Wolfgang Kubicki (FDP) die aktuellen Änderungen. Die Rücknahme der Maßnahmen sei unter den gegebenen Bedingungen mit einer deutlich weniger pathogenen Corona-Variante für ihn verfassungsrechtlich zwingend. Thomas Holl (FAZ) wiederum bezeichnet die aktuelle IfSG-Änderung als "liberalen Großversuch am lebenden Objekt", der maßgeblich von der FDP entworfen sei. Nun zeige sich, ob Eigenverantwortung und Vernunft auch bei einer derart niedrigen Impfquote genauso stark seien wie staatlicher Zwang.
Digitale Dienste: Auf dem Verfassungsblog befasst sich der Doktorand Paddy Leerssen (in englischer Sprache) mit der geplanten Verordnung zur Regulierung digitaler Dienste (Digital Services Act/DSA) und kritisiert deren Fokus auf Algorithmen. Die Verordnung lasse einen systemischen Ansatz vermissen, der sowohl Input (z.B. Nutzerverhalten) als auch Output (z.B. Empfehlungen) umfasse.
Ebenfalls auf dem Verfassungsblog machen Jennifer Cobbe und Jat Singh, Senior Research Associate und Leiter der "Compliant & Accountable Systems" in Cambridge, (in englischer Sprache) Vorschläge zur besseren Regulierung digitaler Plattformen. So sollten ihrer Ansicht nach algorithmische Nutzerempfehlungen nur auf opt-in-Basis verfügbar sein.
Justiz
AG Berlin-Kreuzberg zur Räumung "Rigaer 94": Das Amtsgericht Berlin-Kreuzberg hat eine Mieterin des teilbesetzten Hauses "Rigaer 94" dazu verurteilt, die Wohnung zu räumen und herauszugeben. Als Gründe hatte der Vermieter angegeben, der Raum werde als Sportraum verwendet und damit zweckentfremdet. Zudem dulde die Mieterin rechtswidrige Zustände im Gebäudekomplex. Geklagt hatte eine Eigentümergesellschaft mit Sitz in Großbritannien, deren Rechtsfähigkeit nach deutschem Recht in einer anderen Abteilung des AG derzeit gutachterlich untersucht wird. Eine Zivilkammer des Landgerichts Berlin entschied vor gut einer Woche, nach dem Brexit sei die Firma als rechtsfähige Personengesellschaft deutschen Rechts zu behandeln. Es berichten taz (Marie Frank) und LTO.
OLG Hamm zur Blockade von Rettungskräften: Das Oberlandesgericht Hamm hat die Verurteilung eines Autofahrers zu einer Geldstrafe in Höhe von 110 Tagessätzen zu 65 Euro (insgesamt 7.150 Euro) sowie ein viermonatiges Fahrverbot bestätigt. Erstinstanzlich ist er wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamten gleichstehenden Personen in Tatmehrheit mit Beleidigung und falscher Verdächtigungen verurteilt worden. Bei einem Unfall kam es zu einer stark blutenden Kopfplatzwunde einer älteren Radfahrerin. Der Angeklagte hatte sich über den von Polizei und Ersthelfer entstandenen Rückstau beschwert und mit seinem Kfz die Ankunft der Rettungskräfte um mindestens eine Minute verzögert, Ersthelfer beleidigt sowie unzutreffende Strafanzeigen gegen Polizeibeamte gestellt. LTO berichtet.
LG Dresden – Einbruch ins Grüne Gewölbe: Im Prozess um den Juwelendiebstahl aus dem Dresdner Grünen Gewölbe hat sich erstmals einer der Angeklagten geäußert. Der 28 Jahre alte Rabieh Remo ließ über einen seiner Verteidiger erklären, dass er zwar an der Vorbereitung, nicht aber an der Ausführung der Tat beteiligt gewesen sei. Er habe ein Auto besorgt und sei auch mit den Tätern zur Inspektion des Tatorts nach Dresden gefahren. Am Tattag selbst habe er Berlin nach einer Polizeikontrolle jedoch nicht verlassen. Es berichten faz.net (Stefan Locke) und spiegel.de (Wiebke Ramm).
LG Darmstadt – Zweifachmord wegen Lärmbelästigung: Der 2011 wegen Mordes veruteilte Andreas Darsow will in einem Zivilprozess doch noch seine Unschuld beweisen. Das Landgericht Darmstadt hatte Darsow 2011 wegen Mordes an seinem Nachbarn, dessen Ehefrau sowie versuchten Mordes an deren Tochter in einem Indizienprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Er habe wohl die Lärmbelästigung durch die Nachbar:innen nicht mehr ausgehalten, hieß es zum mutmaßlichen Motiv. Inzwischen macht das Land Hessen in einem Zivilprozess Kosten für die Heimunterbringung der Tochter geltend. Dies versucht Darsow mit Hilfe des Strafverteidigers Gerhart Strate zu nutzen, um neue Beweise einzubringen. Wie das LG Darmstadt weiter vorgeht, soll am heutigen Mittwoch verkündet werden. Die SZ (Gianna Niewel) berichtet
LG Braunschweig – Dieselskandal/VW-Führungskräfte: Der Diesel-Strafprozess gegen vier frühere Führungskräfte von Volkswagen wird wegen der Corona-Erkrankung eines Beteiligten erst nach Ostern fortgesetzt. Die Beweisaufnahme in dem Betrugsverfahren soll laut LTO am 19. April fortgesetzt werden.
Querulant:innen: Der aktuelle SWR-RadioReportRecht (Bernd Wolf) nimmt das Phänomen renitenter Querulant:innen in den Blick, die es darauf anlegen, um jeden Preis vor Gericht Recht zu bekommen und damit die knapp bemessenen Ressourcen des Rechtsstaates belasten.
Recht in der Welt
Ungarn – Parlamentswahl: Anlässlich der am 3. April anstehenden Parlamentswahl in Ungarn hat Rechtsprofessor Herbert Küpper für LTO einige Änderungen an Verfassung und Wahlrecht dargestellt, die die seit 2010 bestehende parlamentarischen Zwei-Drittel-Mehrheit der Fidesz-Partei umsetzte. Sollte die Fidesz-Regierung tatsächlich abgelöst werden, hätte sie das Problem, dass mittlerweile zahlreiche einfachgesetzliche Regelungen nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden können. Das seit 2011 geltende ungarische Wahlsystem führe aktuell dazu, dass die Fidesz-Regierung aber auch mit weniger als 50 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit der Mandate erreichen könne, was einer breiteren Koalition nicht gelingen dürfte.
EuGH/Polen – Unabhängigkeit der Justiz: Auch wenn er seinen Eid noch zu Zeiten des Kommunismus schwor, erfüllt ein polnischer Richter die unionsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, entschied der Europäische Gerichtshof. Dasselbe gilt für Richter:innen, die zwischen 2000 und 2018 vom Landesjustizrat ausgewählt worden waren, obwohl das polnische (hier bereits regierungsnahe) Verfassungsgericht dessen Struktur 2017 für verfassungswidrig einstufte. Die EuGH-Entscheidung war durch die Vorlage eines regierungsnahen "neuen" Richters am Obersten Gericht Polens ausgelöst worden. taz (Christian Rath), faz.net (Marlene Grunert) und LTO berichten.
USA – Angriff auf das Kapitol: In einer Entscheidung des kalifornischen Bundesrichters David Carter verfügte dieser die Herausgabe von 101 E-Mails des Trump-Beraters John Eastman an den Untersuchungsausschuss zur Erstürmung des Kapitols. Auch wenn dies keine Maßnahme der Strafverfolgung darstelle, ist er der Ansicht, dass sich der ehemalige US-Präsident Donald Trump strafbar gemacht haben könnte, indem er die Bestätigung des Wahlsiegs von Joe Biden durch den Kongress verhindern wollte. Es berichten FAZ (Oliver Kühn) und LTO.
Sonstiges
Bundesverband der Wirtschaftskanzleien: Jenseits des Deutschen Anwaltvereins (DAV) soll es fortan auch einen Bundesverband der Wirtschaftskanzleien in Deutschland geben. In Frankfurt haben sich Vertreterinnen und Vertreter von 31 auf dem deutschen Markt tätigen Wirtschaftskanzleien um die Initiatoren Stefan Rizor und Thomas Wegerich getroffen, um den Grundstein für den neuen Verband zu legen. Der DAV hatte zuvor noch versucht, den unzufriedenen Wirtschaftskanzleien mehr Einflussnahme zu ermöglichen. LTO (Stefan Schmidbauer/Hasso Suliak) berichtet über erste Reaktionen.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/jpw
(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)
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Die juristische Presseschau vom 30. März 2022: . In: Legal Tribune Online, 30.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47984 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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