Die juristische Presseschau vom 11. Februar 2022: BVerfG zu Böh­m­er­mann-Gedicht / Razzia im BMJV unver­hält­nis­mäßig / Streit um Auto­bahn-Blo­c­kaden

11.02.2022

Das BVerfG lehnte Jan Böhmermanns Verfassungsbeschwerde ab. Das LG Osnabrück beanstandete die Durchsuchung des Justizministeriums vor der Bundestagswahl. Die Bundesregierung ist uneinig über zivilen Ungehorsam.

Thema des Tages

BVerfG zu Böhmermann-Schmähgedicht: Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Verfassungsbeschwerde des TV-Satirikers Jan Böhmermann gegen das weitgehende Verbot seines Gedichts "Schmähkritik" ab. Die Verfassungsbeschwerde habe keine Aussicht auf Erfolg; eine weitere Begründung des Gerichts unterblieb. Böhmermann hatte das Gedicht, das zahlreiche Beleidigungen des türkischen Präsidenten Recep Tayiip Erdoğan aneinanderreihte, im März 2016 in seiner TV-Show vorgetragen. Nach eigener Ankündigung wollte er damit Erdogan die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland erläutern, nachdem zuvor ein harmloser deutscher Satire-Beitrag die türkische Regierung erzürnt hatte. Das Oberlandesgericht Hamburg untersagte 2017 von den 24 Zeilen des Gedichts 18 Zeilen. Die übrigen 6 Zeilen blieben erlaubt, weil hier die Machtkritik im Vordergrund stehe. Böhmermann hatte Verfassungsbeschwerde erhoben, weil er sich in seiner Kunstfreiheit verletzt sah. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert), taz (Christian Rath) und LTO (Felix W. Zimmermann).

Jost Müller-Neuhof (Tsp) sieht im Fall Böhmermann einen Versuch, "verloren geglaubte Sittlichkeit" wiederherzustellen, der leider "auf Kosten der Satire" erfolgt. Schließlich handele es sich um ein Stück Unterhaltungskritik, das nicht die Kränkung Erdoğans als Ziel habe. Felix W. Zimmermann (LTO) findet enttäuschend, dass das Bundesverfassungsgericht den Fall zwar für bedeutsam hält, ihn aber ohne weitere Begründung ablehnt. Auf diese Weise sei die Chance vertan worden, grundlegende Aussagen zur Kunstfreiheit zu treffen. Auch Christian Rath (taz) hält den Ausgang der unproduktiven Affäre für unbefriedigend. Die Heilserwartungen in das BVerfG seien enttäuscht worden, weil ihm wohl auch keine vernünftigen Maßstäbe für derartige Fälle eingefalllen sind. Wolfgang Janisch (SZ) befürchtet, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit einer stattgebenen Entscheidung, vor dem Hintergrund der medialen Angriffe auf die Grünen-Politikerin Renate Künast, dem "diplomatisch heiklen Vorwurf der Ungleichbehandlung" ausgesetzt hätte. Künast sei zwar beliebter als Erdoğan, was aber kein juristisches Kriterium sein könne. 

Rechtspolitik

Corona – Impfpflicht: Die eigentlich für kommende Woche geplante erste Lesung der Gesetzentwürfe für und gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht muss verschoben werden, weil einer der parteiübergreifenden Gruppenanträge nicht rechtzeitig fertig wird. Der verspätete Gesetzentwurf, den der FDP-Abgeordnete Andrew Ullmann federführend vorbereitet, soll eine Impfpflicht für Menschen ab 50 Jahren regeln. Die erste Lesung im Bundestag ist nun wohl erst in der Woche ab dem 14. März möglich. Die SZ (Roland Preuss/Henrike Rossbach/Mike Szymanski) berichtet. 

Corona – Pflege-Impfpflicht/Bayern: Auf dem Verfassungsblog erläutert Rechtsprofessor Josef Franz Lindner, dass er die von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) angekündigte Aussetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht für verfassungsrechtlich unproblematisch hält. Angesichts der Untätigkeit des Bundes, der wichtige Fragen ungeklärt gelassen habe, müssten die Länder nun "vollzugsleitende Verwaltungsvorschriften" erlassen, was eine Verzögerung des Vollzugs unausweichlich erscheinen lasse.

Bundesgerichte: Wer eine Führungsposition an einem Bundesgericht übernehmen will, muss künftig wieder fünfjährige Erfahrung am jeweiligen Gericht aufweisen. Das entschied Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und korrigierte damit eine Entscheidung seiner Amtsvorgängerin Christine Lambrecht (SPD), die das Kriterium abgeschafft hatte und damit in der Justiz viel Kritik auslöste. Es berichtet LTO.

Justiz

LG Osnabrück zu BJMV-Durchsuchung: Das Landgericht Osnabrück hat den Durchsuchungsbeschluss aufgehoben, aufgrund dessen die Staatsanwaltschaft Osnabrück 2021 kurz vor der Bundestagswahl das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) und das Bundesfinanzministerium (BMF) in Berlin durchsuchen ließ. Laut Gericht war die Anordnung der Durchsuchung unverhältnismäßig, weil die gesuchten Unterlagen teilweise bereits vorlagen und weil das Justizministerium sich zur freiwilligen Herausgabe von Unterlagen bereit erklärte. Hintergrund der Durchsuchung war ein Ermittlungsverfahren gegen namentlich nicht benannte Mitarbeiter der Financial Intelligence Unit (FIU) des Zolls wegen Strafvereitelung im Amt. Es berichten FAZ (Reinhard Bingener), LTO (Alexander Cremer/Markus Sehl) und spiegel.de (Jörg Diehl/Hubert Gude/Ansgar Siemens).

Ulrike Herrmann (taz) kritisiert den "beispiellosen Justizskandal". Nun sei klar, dass CDU-Mitglieder in der niedersächsischen Justiz die Razzien benutzten, um vor der Wahl politisch Stimmung zu machen. "Es wäre daher schwer erträglich, wenn der zuständige Staatsanwalt und die Amtsrichterin auf ihren Posten bleiben dürften."

EuGH zu Kündigungsschutz von Behinderten: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass eine Kündigung von Arbeitnehmern, die aufgrund einer neu entstehenden Behinderung nicht mehr für ihre bisherige Stelle geeignet sind, auch dann unwirksam ist, wenn der Arbeitnehmer noch in der Probezeit ist. Die EU-Anti-Diskriminierungs-Richtlinie von 2000 sei auch während der Probezeit anwendbar. Arbeitgeber müssten betroffenen Arbeitnehmern ggf. eine andere geeignete Stelle im Unternehmen anbieten, sie dürften dabei aber nicht unverhältnismäßig belastet werden. Geklagt hatte ein Mann, der bei der belgischen Bahn eingestellt wurde und später wegen Herzproblemen nicht mehr in der Gleisanlage eingesetzt werden konnte. Es berichtet die FAZ (Katja Gelinsky).

BGH zu Dieselskandal/VW: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass Gebrauchtwagenkäufer:innen, die vom Dieselskandal betroffen sind und erst im Jahr 2020 Klage gegen VW erhoben haben, kein Schadensersatz zusteht. Die dreijährige Verjährungsfrist nach § 195 BGB sei vor Klageerhebung abgelaufen. Für den Fristbeginn der Verjährung genüge die Kenntnis der Käufer:innen hinsichtlich des Dieselskandals im Allgemeinen und der Betroffenheit des Fahrzeugs. Ungeklärt bleibt die Frage, was für Neukund:innen gilt. Damit wird sich ein anderer Senat des BGH am 21. Februar befassen. Es schreibt LTO.

BFH zu Kindergeld und Krankheit in der Ausbildung: Der Bundesfinanzhof hat entschieden, dass erwachsenen Kindern ein Kindergeldanspruch zusteht, wenn sie krankheitsbedingt ihre Ausbildung unterbrechen müssen, diese aber fortführen wollen. Der Anspruch bestehe hingegen nicht mehr, wenn die Ausbildung aufgrund einer Erkrankung dauerhaft beendet wurde. Es berichtet LTO.

ArbG Braunschweig zu Dieselskandal/VW-Führungskräfte: Das Arbeitsgericht Braunschweig hat entschieden, dass die Kündigung eines ehemaligen VW-Motoren-Bereichsleiters durch VW unwirksam ist. Der Vorwurf, er habe die Nutzung der manipulativen Abgassoftware nicht unterbunden, könne nicht belegt werden. Sein Verhalten stelle keine Pflichtverletzung dar, so das Gericht. Es berichtet LTO.

OLG München zu Käpt'n Iglo: Das Oberlandesgericht München hat die Berufungsklage des Hamburger Fischstäbchenherstellers Iglo im Streit um Werbefiguren abgewiesen. Iglo nutzt die Figur "Käpt'n Iglo" und ging wegen einer ähnlichen Werbefigur gegen den Konkurrenten Appel Feinkost vor. Die Begründung des Gerichts steht noch aus. Der Vorsitzende Richter ließ jedoch erkennen, dass er die Verwechslungsgefahr für Verbraucher:innen für gering halte, berichtet LTO.

BayObLG zu Hatespeech: Das Bayerische Oberste Landesgericht hat Ende Januar einen YouTuber wegen Beleidigung der Grünen-Politikerin Tessa Ganserer verurteilt. Der Angeklagte hatte auf seinem Youtube-Kanal ein Foto Ganserers mit anderen Transfrauen veröffentlicht und verglich sie mit Schockbildern auf Zigarettenschachteln. Dies sei nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt, so das Gericht. Es berichtet die SZ (Ronen Steinke).

LG Traunstein – falscher Impfarzt: Am Landgericht Traunstein hat der Prozess gegen einen 50-jährigen Theologen begonnen, der in mehr als 306 Fällen ohne ärztliche Zulassung Menschen geimpft und in 1144 Fällen medizinisches Fachpersonal beim Impfen überwacht haben soll. Hierfür soll er 20.000 Euro in Rechnung gestellt haben. Er gestand, die Vorwürfe seien korrekt. Er habe Approbationsurkunden gefälscht und zu Unrecht Impfstoff verabreicht. Es schreibt spiegel.de

LG Stuttgart zu "Milckprodukten": Das Landgericht Stuttgart hat entschieden, dass das Startup "The Hempany" im Rechtsstreit mit der Frankfurter Verbraucherzentrale seine pflanzlichen Milchersatzprodukte nicht als "Milckprodukte", "hemp milck" oder "Pflanzenmilck" bewerben darf. Dem Gericht zufolge verstoße die Bezeichnung "Milck" gegen die EU-Marktorganisationsverordnung und sei damit wettbewerbswidrig. Sie erwecke den Eindruck, es handele sich um ein Milcherzeugnis. Es berichtet LTO.

LG Bonn zu Cum-Ex/Warburg-Bank: Nils Wischmeyer (SZ) kritisiert das Verhalten der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Angeklagten. Obwohl dieser im Lauf des Prozesses ein umfassendes Geständnis ablegte, habe die Staatsanwaltschaft eine siebenjährigen Haftstrafe gefordert und so den Anreiz gemindert, sich oder andere zu belasten. Die Staatsanwaltschaft könne froh sein, dass dann das Landgericht Bonn in dieser Woche nur eine rund halb so hohe Freiheitsstrafe verhängte.

AG München – Drogen bei Münchner Polizei: Am Amtsgericht München hat der Prozess gegen einen suspendierten Polizeibeamten begonnen, der wegen 79 Straftaten angeklagt ist, unter anderem wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, wegen Unterschlagung und wegen Verrats von Dienstgeheimnissen. Das Verfahren gehört zum 2020 bekanntgewordenen Drogenskandal im Polizeipräsidium München. Die Staatsanwaltschaft führte 39 Ermittlungsverfahren gegen 37 Polizeibeamte durch und erhob sechs Anklagen. Der 28-Jährige gestand und räumte ein, mit Kolleg:innen zusammen gefeiert und konsumiert zu haben. Es berichtet spiegel.de.

Musterfeststellungsklage gegen Stromio: Laut Hbl (Kathrin Witsch) wird die Verbraucherzentrale Hessen eine Musterfeststellungsklage gegen den Energiediscounter Stromio einreichen. Der Stromdiscounter hatte im Dezember Hunderttausenden Kunden rückwirkend und ohne Vorwarnung gekündigt, woraufhin die Betroffenen in eine deutlich teurere Ersatzversorgung gefallen sind und Schäden erlitten hatten. Es sei mit einer Schadensersatzsumme zwischen mehreren Hundert Euro bis 2000 Euro pro Kund:in zu rechnen.

Klagen der Hohenzollern: Im Interview mit spiegel.de (Klaus Wiegrefe) analysiert Rechtsanwalt Marcellus Puhlemann, der betroffene Journalisten und Historiker vertritt, das juristische Vorgehen der Hohenzollern gegen Kritiker ihrer Entschädigungs-Forderungen. Georg Friedrich Prinz von Preußen (Sprecher der Hohenzollern) gehe mit Abmahnungen auch gegen angeblich falsche Nebensächlichkeiten in Artikeln vor und erzeuge damit eine einschüchternde Wirkung. Anders als vom Prinz behauptet, habe es auch 2020 und 2021 neue Verfahren gegeben.

Rechtsextremer Richter Jens Maier: Die Grünen im sächsischen Landtag haben Rechtsprofessor Christoph Möller damit beauftragt, ein Rechtsgutachten zu einer möglichen Richteranklage gegen den AfD-Politiker und Richter Jens Maier zu erstellen. Laut LTO sei im März mit der Fertigstellung des Gutachtens zu rechnen.

Richter Ruben Franzen gibt auf LTO einen Überblick über die Voraussetzungen einer Richteranklage.

Recht in der Welt

Österreich – Impfpflicht: Auf LTO analysiert Rechtsprofessor Stephan Rixen die Impfpflicht in Österreich und ob sie für Deutschland ein Vorbild sein könnte. Laut Rixen liege die eigentliche Herausforderung einer Impfpflicht in der erfolgreichen organisatorischen Umsetzung.

Russland – Haft wegen Chat: In Russland hat, wie die FAZ (Friedrich Schmidt) berichtet, ein Militärgericht den 16-Jährige Nikita Uwarow zu einer fünfjährigen Lagerhaftstrafe verurteilt, weil er eine "Schulung zu einer terroristischen Tätigkeit durchlaufen" habe. Neben ihm wurden zwei weitere 16-Jährige zu Bewährungsstrafen verurteilt. Dem Gericht zufolge hatten die drei in Social-Media-Chats über "Minecraft", Feuerwerkskörper, Sprengung und Politik gesprochen.

Sonstiges

Autobahnsitzblockaden: Wie die FAZ (Markus Wehner) berichtet, kam es auf der Berliner Stadtautobahn A100 und deren Zufahrten erneut zu Sitzblockaden von Klimaaktivist:innen, wobei die Frage, ob solche Proteste gerechtfertigt sind, die Ampel-Koalition spalte. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grünen) hält es für legitim, für sein Anliegen auch mit Hilfe von "zivilem Ungehorsam" zu demonstrieren, solange kein Menschenleben gefährdet werde. Justizminister Marco Buschmann (FDP) entgegnete: "Zivi­ler Unge­hor­sam ist im deut­schen Recht weder Recht­fer­ti­gungs- noch Entschul­di­gungs­grund."

Reinhard Müller (FAZ) sieht zwar in Protesten einen Bestandteil der Demokratie, aber hierfür sei kein Rechtsbruch nötig. Den Grünen stünden alle Mittel zur Verfügung, um Klimaschutz zu fördern. Laut Müller wird derjenige "Sturm ernten", der "rechtswidrigen Protest sät".

Waffen: Die SZ (Ronen Steinke) zeigt im Zusammenhang mit den Polizisten-Morden von Kusel die schwache Kontrolle des Staates im Waffenrecht auf. Es hänge zu häufig allein davon ab, wie ernst ein einzelner Beamter Hinweise auf Verstöße nehme. "Mit Waffenbesitzern geht der Staat zu lässig um", folgert der Autor.

Vater des Attentäters von Hanau: Die SZ (Annette Ramelsberger/Benedikt Warmbrunn) portraitiert auf ihrer Seite 3 ausführlich den Vater des Attentäters von Hanau, der seinen angeblich unschuldigen Sohn als Opfer einer Verschwörung sieht. Gleichzeitig bedrohe er seine Nachbar:innen und schüchtere sie ein. Ein Beleidigungsverfahren gegen den Vater endete mit einer Geldstrafe und nicht mit der von vielen erhofften Einweisung in die Psychiatrie.

Das Letzte zum Schluss

Russland – Gemäldekritzelei: In Jekaterinburg hat ein Museumswärter ein Gemälde von Anna Leporskaja dadurch "verschönert", dass er den Figuren Augen malte. Das Gemälde war mit knapp 900.000 Euro versichert. Das Museum war hiervon jedoch weniger begeistert und hat ihn entlassen. Die Polizei ermittelt nun wegen Vandalismus. spiegel.de berichtet.

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ok

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 11. Februar 2022: . In: Legal Tribune Online, 11.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47506 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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