Die juristische Presseschau vom 26. Januar 2022: Erfolg für Deniz Yücel am EGMR / Neue Prä­si­dent:innen an BAG und BFH / BVerwG zu Zwi­schen­lager in Hanau

26.01.2022

EGMR verurteilt Türkei zu Entschädigung Deniz Yücels für dessen Inhaftierung. Inken Gallner wird BAG-Präsidentin, Hans-Josef Thesling wird BFH-Präsident. BVerwG erteilt Zwischenlager für radioaktiven Abfall in Gewerbegebiet Absage.

Thema des Tages

EGMR/Türkei – Deniz Yücel: Die Türkei muss an den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel eine Entschädigung in Höhe von 12.330 Euro (plus 1.000 Euro Verfahrenskosten) zahlen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei wegen Verletzung von Yücels Recht auf Freiheit und freie Meinungsäußerung verurteilt. Dass Yücel (Türkei-Korrespondent der Welt) von Februar 2017 bis Februar 2018 ein Jahr in türkischer Untersuchungshaft verbringen musste, sei nicht gerechtfertigt gewesen. Es habe keinen vernünftigen Verdacht für Straftaten Yücels gegeben. Die 2019 vom türkischen Verfassungsgericht gewährte Entschädigung (rund 3.700 Euro) sei unzureichend gewesen. Auch wenn Yücel in einer ersten Reaktion das Urteil begrüßte, zeigte er sich auch enttäuscht, dass trotz neunmonatiger Isolationshaft sowie mehrtägiger körperlicher und seelischer Misshandlungen im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 kein Verstoß gegen das Folterverbot festgestellt worden sei. Yücel kritisierte auch, dass der EGMR keine politische Absicht der Türkei gemäß Artikel 18 der Europäischen Menschenrechtskonvention feststellte, obwohl es in dem Verfahren gegen ihn "keine Faser [gibt], die nicht politisch motiviert gewesen wäre". Yücel sah sich als Geisel für einen Deal mit der Bundesregierung. Er war im Februar 2018 freigelassen worden und lebt wieder in Deutschland. Es berichten FAZ, taz (Christian Rath), Welt (Daniel-Dylan Böhmer) und LTO.

Christian Rath (taz) begrüßt das Urteil, das jedoch eher in Deutschland als in der Türkei wahrgenommen werde, weil es in der Türkei "noch viel krassere Fälle von Menschenrechtsverletzungen" gibt. Das Verhältnis zwischen Europa und Türkei werde sich vor allem entlang der Fälle des regierungskritischen Mäzens Osman Kavala und des prokurdischen Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş entscheiden. Beide seien aus ebenfalls konstruierten Gründen schon seit Jahren in Haft, obwohl der EGMR bereits ihre Inhaftierung beanstandet und ihre Freilassung gefordert hat.

Rechtspolitik

BAG-Präsidentin Gallner: Die FAZ (Corinna Budras) porträtiert die nunmehr vom Bundespräsidenten ernannte neue Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner. Die BAG-Richterin war zwischenzeitlich auch schon Amtschefin des baden-württembergischen Justizministeriums. Außerdem ist sie Herausgeberin des Standardkommentars zum Europäischen Arbeitsrecht und sie plant, den Austausch mit dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auszubauen.

BFH-Präsident Thesling: Der ehemalige Präsident des Finanzgerichts Düsseldorf, Dr. Hans-Josef Thesling, ist neuer Präsident des Bundesfinanzhofs. Nach anderthalbjähriger Vakanz wegen einer nunmehr zurückgewiesenen Konkurrentenklage sowie einer erfolglosen Anhörungsrüge einer unterlegenen Bewerberin erhielt Thesling nun die Ernennungsurkunde von Justizminister Marco Buschmann. Thesling wird auch Vorsitzender des IX. Senats, der für die Besteuerung von Miet- und Pachteinkünften und der gewerblichen Einkünfte aus dem Verkauf von Anteilen an Kapitalgesellschaften zuständig ist. Es berichten FAZ (Corinna Budras)SZ (Stephan Radomsky) und LTO.

Corona – Impfpflicht: Am heutigen Mittwochnachmittag findet im Bundestag die erste Debatte über eine allgemeine Impfpflicht statt. Eine Einordnung der Rechtslage nimmt der SWR-RadioReportRecht (Klaus Hempel) vor. Die SZ (Henrike Roßbach/Mike Szymanski) widmet der anstehenden Debatte ihr "Thema des Tages". Auch LTO erläutert vorab die bislang bekannten Gruppen-Anträge und errechnet, dass bei einer Entscheidung im Bundestag Ende März unter Berücksichtigung einer dreimonatigen "Schonfrist" eine Impfpflicht ab Juni, Juli oder August greifen werde.

Corona – Impfpatente: Auch die neue Bundesregierung lehnt die Patentfreigabe von Corona-Impfstoffen ab: "Eine Aussetzung geistiger Eigentumsrechte würde Rechteinhabern einen wichtigen Anreiz nehmen, ihre Technologie und ihr Know-how freiwillig zu teilen", schreibt der Parlamentarische Staatssekretär Benjamin Strasser (FDP) auf eine Frage des Linkspartei-Abgeordneten Jan Korte. Die taz (Pascal Beucker) berichtet.

§ 219a StGB: Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Valentina Chiofalo zeichnet für den JuWissBlog noch einmal nach, wie es zu dem Referentenentwurf zur Streichung von § 219a Strafgesetzbuch (StGB) kam. Die Streichung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche könne nur der Anfang sein, so die Autorin. Nun müsse die im Koalitionsvertrag festgesetzte Prüfung einer Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des StGB folgen. Das entspräche auch dem Stand des internationalen menschenrechtlichen Diskurses um reproduktive Rechte.

Europol: Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, die Europol-Verordnung anzupassen und der EU-Polizeibehörde u.a. die Kompetenz zu geben, personenbezogene Daten zu Opfern und Zeug:innen von Straftaten künftig bis zu drei Jahre zu speichern. Dies soll auch rückwirkend erlaubt werden können. Grund dafür ist laut netzpolitik.org (Matthias Monroy) der Versuch die kürzlich ergangene Anweisung des Europäischen Datenschutzbeauftragten zu umgehen, mehr als ein Jahr alte Datensätze dieser Kategorie zu löschen.

Korruption: Wie die SZ meldet, fordert Transparency International nach der Maskenaffäre im Bundestag schärfere Regeln für die Bestechung von Abgeordneten. Auch das Ausnutzen von Kontakten zu Ministerien zum eigenen Vorteil müsse von einer Strafbarkeit umfasst sein.

Bürgerräte: Im JuWissBlog stellt Ines Reiling, wissenschaftliche Mitarbeiterin, die sogenannten Bürgerräte als "weitere Korrektive bei politischer Kurzsicht" vor und erläutert, welche gesetzlichen Voraussetzungen für sie geschaffen werden sollten, damit sie ihre Funktion unabhängiger Beratung in politischen Gestaltungsfragen erfüllen können.

Justiz

BVerwG zu Atommüll-Zwischenlager: Das Bundesverwaltungsgericht hält die Errichtung eines Zwischenlagers für radioaktive Abfälle in einem Gewerbegebiet in Hanau für nicht genehmigungsfähig. Als Begründung führte es das sogenannte Strahlenminimierungsgebot an, das sich auch in § 35 Abs. 1 Nr. 7 Baugesetzbuch (BauGB) wiederfinde. Das Zwischenlager überschreite den im Gewerbegebiet zulässigen Störgrad der nicht erheblichen Belästigung. Die Stadt Hanau hatte den Bauantrag des klagenden Entsorgungsunternehmens abgelehnt. Das Unternehmen hatte dann vom Verwaltungsgericht zunächst Recht bekommen, während der Verwaltungsgerichtshof Kassel und nun das BVerwG wiederum die bauplanungsrechtliche Unzulässigkeit bestätigten. LTO berichtet.

BVerwG zur Vergabe kommunaler Räume/BDS: Jost Müller-Neuhof (Tsp) kritisiert den Umgang des Münchener Oberbürgermeisters Dieter Reiter (SPD) mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Nutzung von kommunalen Räumen für israelkritische BDS-Veranstaltungen. Dass er, anstatt das Urteil anzuerkennen, davon rede, ihm seien dadurch "die Hände gebunden" und dass er kein Verständnis dafür habe, gefährde die gewaltengeteilte Demokratie.

OLG Frankfurt/M. – Folter in Syrien: Der wegen Foltervorwürfen vor dem Oberlandesgericht angeklagte syrische Arzt Alaa M. hat am ersten Tag seiner Einlassung die ihm vorgeworfenen Taten bestritten. Auf seine politische Einstellung zu Beginn des Syrienkonflikts angesprochen, erklärte er, sich wie Millionen von Syrer:innen mit dem Regime arrangiert zu haben, um weiterleben zu können. Er sei nur ein kleiner Assistenzarzt gewesen, der nur seine Patienten habe behandeln wollen. Es berichten FAZ (Anna-Sophia Lang), taz (Cem-Odos Gueler) und spiegel.de (Julia Jüttner).

LG Bad Kreuznach – Kopfschuss durch Maskenverweigerer: Am Landgericht Bad Kreuznach hat die Staatsanwaltschaft nun gegen den 49-Jährigen Anklage erhoben, der Mitte September einen Tankstellenmitarbeiter mit einem Kopfschuss tötete, nachdem dieser ihn auf die Beachtung der Maskenpflicht hingewiesen hatte. Angeklagt wurde er wegen Mordes aus Heimtücke und niedrigen Beweggründen sowie wegen waffenrechtlicher Verstöße, wobei als Motiv für die Tatbegehung berücksichtigt wurde, dass der Mann die Corona-Maßnahmen ablehnt. LTO berichtet.

LG München I – Dammbruch in Brasilien: In einem ausführlichen Bericht beleuchtet LTO (Hasso Suliak) die juristische Aufarbeitung der Verantwortlichkeit des TÜV Süd für den Staudammbruch im brasilianischen Brumadinho im Jahr 2019. In dem von inzwischen über 1.000 Angehörigen und Überlebenden geführten Verfahren um Schadensersatzzahlungen ist der für den 1. Februar geplante Verkündungstermin mit dem Hinweis des Gerichts auf die mögliche Unschlüssigkeit einiger Anträge der Kläger:innen wieder aufgehoben worden. In einem weiteren Verfahren vor dem Landgericht München I geht es um immateriellen Schadensersatz, basierend auf der umweltrechtlichen Gefährdungshaftung nach brasilianischem Recht. Darüber hinaus ermittelt die Staatsanwaltschaft in München u.a. gegen den für das Staudamm-Projekt verantwortlichen TÜV-Süd-Ingenieur M. wegen fahrlässiger Tötung, Bestechung sowie wegen fahrlässigen Herbeiführens einer Überschwemmung – alles in Nebentäterschaft durch Unterlassen.

LG Frankfurt/M. – Anom-Chats: In einem Beschluss entschied das Landgericht Frankfurt/M., dass die entschlüsselten Nachrichten des heimlich vom FBI betriebenen Kryptodiensts Anom als Beweise in einem Verfahren gegen die mutmaßlichen Betreiber dreier Cannabisplantagen verwertbar sind. Ein Beweisverbot liege angesichts der Schwere der vorgeworfenen Taten auch trotz Widerspruch der Verteidigung gegen Beweiserhebung und Beweisverwertung nicht vor. Es berichtet die FAZ (erweiterte faz.net-Fassung, David Klaubert).

Recht in der Welt

Österreich – Julian Hessenthaler: Auf ihrer Seite 3 beleuchtet die SZ (Cathrin Kahlweit) das Schicksal Julian Hessenthalers, der 2017 das sogenannte "Ibiza-Video" produziert hat, das 2019 den damaligen österreichischen FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache zu Fall brachte. Seit mittlerweile 14 Monaten sitzt Hessenthaler unter dem Vorwurf des Kokainhandels in Untersuchungshaft, obwohl die Hauptbelastungszeug:innen im Strafprozess am Landesgericht St. Pölten keine klaren Aussagen machen und sich widersprechen. Die Reportage schildert Indizien dafür, dass es sich bei dem Prozess um eine Retourkutsche für das Ibiza-Video handelt.

Pakistan – Supreme Court-Richterin: Die SZ (Arne Perras) portraitiert Ayesha Malik, die als erste Frau an den Supreme Court Pakistans berufen wurde. In der entscheidenden Kommission war sie mit 5 zu 4 Stimmen gewählt worden, jetzt wurde sie vereidigt. Bis zuletzt hatten männliche Kritiker eingewandt, dass es männliche Kandidaten mit mehr Erfahrung gegeben habe. 

Juristische Ausbildung

E-Examen und Teilzeit-Ref in Thüringen: Die Thüringer Landesregierung (Linke/SPD/Grüne) plant eine Änderung des Juristenausbildungsgesetzes (ThürJAG), nach der Klausuren im Examen und im Studium künftig am Computer geschrieben werden können. Auch soll es möglich sein, das Referendariat in Teilzeit abzuleisten. Laut LTO-Karriere soll mit dem E-Examen erstmals im Dezember-Durchgang im zweiten Staatsexamen begonnen werden. Die Novelle muss noch im Landtag verabschiedet werden.

Sonstiges

Pornografie im Internet: Im Interview mit LTO (Felix W. Zimmermann) erläutert Laura Braam von der Medienanstalt NRW, welche Mittel dem Staat zur Verfügung stehen, auf Webseiten mit pornografischen Inhalten den Jugendschutz in Form von Alterskontrollen zu stärken. Insbesondere das Fehlen von Vollstreckungsvereinbarungen zwischen den EU-Ländern in Jugendschutzsachen mache es den Betreibern leicht, Verwaltungsverfahren einfach auszusitzen.

Kartellrecht und Milchpreis: Das Bundeskartellamt hält laut LTO die aktuellen Pläne der deutschen Milchindustrie zur Preiserhöhung für kartellrechtswidrig. Der derzeitige Vorschlag der deutschen Milcherzeuger sieht ein Konzept vor, das letztlich lediglich einen einheitlichen Aufschlag auf den Grundpreis vorsieht, ohne dass Nachhaltigkeitsaspekte eine Rolle spielten und ohne Möglichkeiten für die Verbraucher:innen, auf günstigere Angebote zurückzugreifen.

Raser: Reinhard Müller (FAZ) überlegt, wonach die Hochgeschwindigkeitsfahrt (bis zu 417 km/h) des tschechischen Millionärs Radim Passer strafbar gewesen sein könnte und kommt zu dem Ergebnis, dass die Geschwindigkeit allein bei freier Fahrt auf der Autobahn nicht schon grob verkehrswidriges oder rücksichtsloses Verhalten begründen könne.

Tauben: Im Interview mit spiegel.de (Hannes Schrader) erklären die Berliner Landestierschutzbeauftragte Kathrin Herrmann und der juristische Referent der Stabsstelle der Landestierschutzbeauftragten, Christian Arleth, dass Tauben u.a. wegen ihrer Nähe zu und Abhängigkeit von Menschen den Haustieren zuzuordnen seien. Rechtlich folge daraus nicht nur, dass umstrittene Fütterungsverbote nicht mehr erlassen werden könnten, sondern auch gesteigerte Fürsorgepflichten des Staates.

Weltbank: Was die Special Litigation Unit der Anti-Korruptionsabteilung der Weltbank ist und welche Einstiegschancen bereits Referendar:innen offen stehen, erfährt man auf LTO-Karriere (Franziska Kring/Pauline Dietrich).

Das Letzte zum Schluss

Churchill und die Prohibition: Obwohl bei seinem Besuch in den USA im Jahr 1932 bereits seit zwölf Jahren Prohibition herrschte, musste Winston Churchill nicht auf den Konsum des Rauschmittels verzichten. Ein ärztliches Attest verschrieb ihm nämlich den (unbegrenzten) Konsum von Alkohol insbesondere während der Mahlzeiten und sah sogar einen "Mindestbedarf von 250 Kubikzentimetern" vor. spiegel.de berichtet über den eher zweifelhaften Umgang einiger Ärzte mit dem Verschreiben von Alkoholkonsum in der Zeit der Prohibition.


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lto/jpw

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 26. Januar 2022: . In: Legal Tribune Online, 26.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47322 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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