Die juristische Presseschau vom 26. November 2021: BGH zu Audi-Die­selskandal / Pla­nung soll besch­leu­nigt werden / Beginn des Memo­rial-Pro­zesses

26.11.2021

Der BGH bestätigte Schadensersatzansprüche gegen Audi wegen manipulierten Dieselmotoren. Die Ampel-Koalition vereinbarte die Beschleunigung der Planung. In Russland begann der Prozess über die beantragte Auflösung der NGO Memorial.

Thema des Tages

BGH zu Audi-Dieselskandal: Der Bundesgerichtshof hat die Revision von Audi gegen mehrere Entscheidungen des Oberlandesgerichts München zurückgewiesen. Dieses hatte Audi zur Zahlung einer Entschädigung an Dieselfahrer:innen verurteilt, in deren Fahrzeugen der Motor EA 189 der Konzernmutter Volkswagen verbaut war. Danach habe Audi von der unzulässigen Abschalteinrichtung in den Motoren von VW gewusst und sei somit selbst beteiligt gewesen. Den Kläger:innen stünden deshalb Schadenersatzansprüche wegen sittenwidriger Schädigung gem. § 826 BGB gegen Audi zu. Dies ist laut BGH revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Es ist die erste vor dem BGH erfolgreiche Schadensersatzklage gegen Audi im Zusammenhang mit dem Dieselskandal. Über die Entscheidung berichten FAZ (Henning Peitsmeier/Marcus Jung), tagesschau.de (Klaus Hempel) und LTO

Rechtspolitik

Planungsbeschleunigung: Die Ampel-Koalition setzt zur Beschleunigung von Infrastrukturprojekten auf eine "frühestmögliche und intensive Öffentlichkeitsbeteiligung". Zudem sollen Behörden und Gerichte personell und technisch besser ausgestattet werden. Unter anderem soll das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) neue Senate bekommen. Für bestimmte Infrastrukturprojekte soll auf Legalplanung zurückgegriffen werden, im Gegenzug soll eine Normenkontrolle vor dem BVerwG geschaffen werden. Zudem soll künftig eine Abwägung von Artenschutzerwägungen mit den Klimaschutzzielen möglich werden. Es berichtet die FAZ (Helene Bubrowski)

Jasper von Altenbockum (FAZ) meint, im Planungsrecht werde von der Ampel "herzhaft gerodet". Es werde buchstäblich kurzer Prozess gemacht. Zwar sei Einspruch erlaubt, aber Natur- und Artenschutz sei nicht mehr unantastbar. Axel Bojanowski (Welt) diagnostiziert das "Ende der Grünen als Naturschutz-Partei". 

Koalitionsvertrag: LTO (Hasso Suliak) schreibt ausführlich über das überwiegend positive Echo, das die rechtspolitischen Pläne der Ampel-Koalition bei Verbänden und Bürgerrechtsorganisationen hervorgerufen hat. In dem Beitrag kommen zahlreiche Vertreter:innen der verschiedenen Organisationen zu Wort. 

beck-community (Markus Stoffels) bringt die für das Arbeitsrecht relevanten Passagen des Koalitionsvertrages, beck-community (Hans-Otto Burschel) die für das Familienrecht relevanten Teile. 

Digitale Dienste/Digitale Märkte: Die für Wettbewerb zuständigen Minister der EU-Mitgliedstaaten haben das Digitalpaket der EU-Kommission, bestehend aus den zwei Verordnungen Digital Services Act (DSA) und Digital Markets Act (DMA) mit geringfügigen Änderungen einstimmig angenommen. Damit können Anfang 2022 die Verhandlungen zwischen Ministerrat und Europaparlament über die endgültige Version beginnen. Es berichten FAZ (Hendrick Kafsack), LTO und spiegel.de

Corona – Infektionsschutzgesetz: Die Gesundheitsminister:innen der Länder haben sich gegen eine Regelung im neuen Infektionsschutzgesetz gewendet, die angeblich das tägliche Testen auch vollständig geimpfter Beschäftigter in Kliniken, Pflegeheimen und Praxen vorschreibt. Eine solche Verpflichtung führe zu unzumutbaren Belastungen. Dies berichten FAZ (Kim Björn Becker) und spiegel.de

Corona – Impfpflicht: Die wissenschaftlichen Mitarbeiter Christian Funck und Tim Weyersberg vertreten bei FAZ-Einspruch nach eingehender gutachterlicher Prüfung die Auffassung, eine verfassungskonform ausgestaltete Impfpflicht sei möglich. 

Corona – Reisen: Nach der Vorstellung der EU-Kommission soll ab Januar 2022 grundsätzlich für das Reisen in der EU während der Pandemie nicht mehr das Infektionsgeschehen im Herkunfts- oder Zielland maßgeblich sein, sondern der Besitz eines gültigen Covid-Zertifikats für Geimpfte, Genesene und Getestete. Die FAZ (Thomas Gutschker) stellt die Pläne vor. 

Gewalt gegen Frauen: Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen berichtet LTO (Franziska Kring) über zunehmende Gewalt gegen Frauen und eine weiterhin unzureichende Umsetzung der Istanbul-Konvention des Europarats in Deutschland. Demnach seien besonders vulnerable Gruppen wie Geflüchtete und LGBTIQ nur unzureichend geschützt. Auch setze die unter dem Slogan "Nein heißt Nein" bekannte Reform des § 177 Strafgesetzbuch (StGB) den Art. 36 der Istanbul-Konvention nur unzureichend um. 

Gebundenes Vermögen: Peter Brors (Hbl) begrüßt die Pläne der Ampel-Koalition zur Schaffung einer "neuen geeigneten Rechtsgrundlage" für "Gesellschaften mit gebundenem Vermögen". Es gehe der Koalition darum, eine Rechtsform zu schaffen, die es Familienfirmen und Start-ups leichter möglich macht, unternehmensinterne Werte und ökonomische Selbstständigkeit zu bewahren. Diese stärke eine nachhaltigere Wirtschaft. Für kleinere Firmen sei eine einfache und kostengünstige Alternative zur Rechtsform der Stiftung erforderlich. 

Justiz

EuGH zu Inbox-Advertising: Einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zufolge ist "Inbox-Advertising", also als Email getarnte Werbung, nur zulässig, wenn die Adressat:innen zuvor eingewilligt haben. Die entsprechenden Emails seien "Nachrichten zur Direktwerbung" und setzten als solche eine vorherige Einwilligung voraus. Es berichten die FAZ (Corinna Budras) und LTO

BVerfG zu Suizidhilfe in Haft: Der Anspruch eines lebenslänglich verurteilten Häftlings auf Duldung eines Suizids mit todbringenden Medikamenten in der Haftanstalt ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Gerichte müssen vielmehr die Hintergründe des Suizidwunsches genau prüfen, ansonsten wird das Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren verletzt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, wie die SZ berichtet. 

BAG zu AGG/Schwerbehinderung: Wegen des Unterlassens der Meldung eines zu vergebenden Jobs an die zuständige Agentur für Arbeit ist ein Landkreis vom Bundesarbeitsgericht zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt worden. Das Unterlassen begründe die Vermutung, dass der Arbeitgeber den Kläger wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe, so das BAG. Der Anspruch folge aus § 15 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Es berichtet beck-aktuell (Joachim Jahn)

OLG Zweibrücken zu Adelstitel: Einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken zufolge kann der Nachfahre einer Adelsfamilie nicht den Titel "Freiherr" führen, der der Familie im Zuge der Französischen Revolution aberkannt wurde. Eine dazu berechtigende Regelung der Weimarer Reichsverfassung sei nicht anwendbar, weil seit vier Generationen niemand in der Familie und eben auch nicht bei Inkrafttreten der WRV den Titel getragen habe. LTO berichtet. 

OLG Stuttgart – Gruppe S.: In dem Prozess gegen die Mitglieder der rechtsterroristischen Vereinigung "Gruppe S." hat die "rechte Hand" des Rädelsführers Werner S., Tony E., über mehrere Stunden eine "Stellungnahme zu Person und Sache" vorgetragen. Darin beschrieb sich der Angeklagte als "ausgeglichenen Zeitgenossen" und als "Freigeist". In Telefongesprächen mit Werner S. seien Anschlagspläne und Waffen kein Thema gewesen. Bei den Treffen der Gruppe habe es keine Zustimmung für den Vorschlag des heutigen Kronzeugen gegeben, Moscheen anzuzünden. Über die Einlassung schreibt ausführlich spiegel.de (Julia Jüttner)

LG Trier – Amokfahrt/Medienöffentlichkeit: Der Medien-Teil der FAZ (Jochen Zenthöfer) berichtet über Streit zwischen Journalist:innen und dem Landgericht Trier über den Zugang zur Verhandlung über die Amokfahrt von Trier von Dezember 2020. Demnach standen am ersten Prozesstag nur elf Presseplätze zur Verfügung. Das Gericht habe eine Verlegung in eine größere Räumlichkeit oder eine Übertragung der Verhandlung für Journalisten zum Unverständnis des Journalistenverbandes abgelehnt. 

Konkurrentenklagen: beck-aktuell (Tobias Freudenberg) spricht mit Klaus Rennert, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, über Konkurrentenklagen im Bereich der Justiz. Rennert meint, insgesamt funktioniere das Beförderungssystem in der Justiz ganz gut. Es gebe aber stets ein Spannungsfeld zwischen dem Gesichtspunkt der Fachlichkeit und Versuchen der Einflussnahme seitens der Politik. Das größte Problem sei der Zeitfaktor bei der Postenbesetzung. 

Recht in der Welt

Russland – Memorial: Vor dem obersten Gerichtshof in Moskau hat das Verfahren um die Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial begonnen. Das Gericht prüft einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft. Der Organisation wird vorgeworfen, dass sie sich entgegen einer gesetzlichen Pflicht nicht als "ausländische Agentin" bezeichne, obwohl sie Geld aus dem Ausland erhalte. Außerdem unterstütze sie mit ihrer Liste der politischen Gefangenen terroristische Gruppen Am Nachmittag vertagte das Gericht die Sitzung auf den 14. Dezember. Es berichten die taz (Inna Hartwich), LTO und zeit.de

Die taz (Klaus-Helge Donath) bringt ein Gespräch mit Memorial-Mitgründerin Irina Schtscherbakowa. Sie sieht Russland in einer "hybriden Situation mit unterschiedlichen Elementen aus den 1930er Jahren und aus den Systemen Lateinamerikas". Es herrsche eine absolute Machtvertikale, die sich um eine Figur drehe. 

Polen – Verfassungsgericht zu EMRK: Nun schreibt auch spiegel.de (Jan Puhl) über die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, wonach Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (fair trial) nicht auf das Gericht anwendbar sei. 

USA – Mord an Ahmaud Arbery: Im US-Bundesstaat Georgia sind drei weiße Männer wegen Mordes am Schwarzen Jogger Ahmaud Arbery zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Zunächst hatten Staatsanwälte die Erhebung einer Anklage abgelehnt. Erst nachdem ein von einem der Täter gefilmtes Video öffentlich wurde, wurden die drei Männer angeklagt. Es berichtet die taz (Dorothea Hahn)

IStGH: Der emeritierte Rechtsprofessor Norman Paech schildert auf dem Verfassungsblog die Herausforderung, auch in Bezug auf große Kriege der westlichen Staaten, Untersuchungen der Anklagebehörde beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu erwirken. Folge der bisherigen Erfolglosigkeit muss aus seiner Sicht sein, den Gerichtshof und seine Ankläger:innen stärker "vor dem Einfluss und den Erpressungsversuchen der mächtigsten Staaten" zu schützen. 

Sonstiges

Betriebsratswahl und Drittes Geschlecht: Die Rechtsanwälte Sören Seidel und Kristina Walter argumentieren auf LTO, dass § 15 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Dritten Geschlecht verfassungskonform dahingehend auszulegen ist, dass auch Angehörige des Dritten Geschlechts entsprechend dem zahlenmäßigen Verhältnis in der Belegschaft im Betriebsrat vertreten sein müssen. Demnach wird das Dritte Geschlecht bereits bei der Erstellung der Wählerliste für die Betriebsratswahl relevant. Wird dies verkannt, kann die Betriebsratswahl anfechtbar sein. 

EZB-Mandat: Auf dem Verfassungsblog legen Assistenzprofessor Nik de Boer und Postdoc Jens van't Klooster (in englischer Sprache) dar, dass die EU-Verträge die Europäische Zentralbank entgegen der bisherigen Praxis verpflichten, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU zu unterstützen. 

Wahlprüfung BTW: Die SZ (Jan Heidtmann) berichtet, dass in Bezug auf die Bundestagswahl bislang 1.700 Einsprüche beim Bundeswahlleiter eingegangen sind. Dabei betrifft rund jeder zweite Einspruch Berlin, wo die Wahl chaotisch verlief. Der bisherige Rekord lag bei 1.453 Einsprüchen, in anderen Jahren schwankte die Zahl zwischen 80 und 275 Einwendungen.

Hartz IV–Bescheide: Einer Analyse der Kanzlei Rightmart zufolge war von 80.500 untersuchten Widersprüchen gegen Hartz-IV-Bescheide der Jobcenter aus ganz Deutschland im Zeitraum von 2019 bis 2021 jeder zweite Bescheid fehlerhaft. Die meisten Fehler entstehen demnach bei der Begründung von Mietobergrenzen und der Ermittlung von Mehrbedarf der Leistungsempfänger:innen. Es berichtet die FAZ (Marcus Jung)

Gleiss Lutz: Wie die FAZ (Marcus Jung) schreibt, eröffnet im kommenden Jahr die Kanzlei Gleiss Lutz ein Büro in London. Um qualifizierte Rechtsanwält:innen anzuwerben, erhöht sie das Einstiegsgehalt auf 140.000 Euro. 

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/jng

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 26. November 2021: . In: Legal Tribune Online, 26.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46763 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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