Die juristische Presseschau vom 24. November 2021: Ver­g­leichs­vor­schlag für Telekom-Anleger / "Lang­samer Richter" schei­tert beim BVerfG / Türkei wegen Haft für Richter ver­ur­teilt

24.11.2021

Das OLG Frankfurt/M. billigt einen Vergleichsvorschlag im Verfahren um den 3. Börsengang der Telekom. BVerfG lehnt Verfassungsbeschwerde des "langsamen Richters" ab. EGMR verurteilt Türkei wegen rechtswidriger Inhaftierungen von Richtern.

Thema des Tages

OLG Frankfurt/M. – 3. Börsengang der Telekom: Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. hat nach rund 20 Jahren in einem Musterverfahren um Kursverluste beim dritten Börsengang der Deutschen Telekom einen Vergleichsvorschlag gebilligt, der individuelle Entschädigungszahlungen an 17.000 Anleger:innen umfasst. Dies berichten SZ (Victor Gojdka), FAZ (Marcus Jung) und LTO. Die Aktien der Telekom hatten nach ihrer Ausgabe am 19. Juni 2000 deutlich an Wert verloren. Viele Kleinaktionäre hatten sich getäuscht gefühlt und daraufhin Klage eingereicht. In einem separaten Beitrag listet FAZ (Marcus Jung) Fragen und Antworten zu dem Vergleichsvorschlag auf, insbesondere die Voraussetzungen für Privatanleger, um zum Adressatenkreis zu gehören.

Laura de la Motte (Hbl) merkt an, der über 20 Jahre währende "Mammutprozess" zeige, dass derartige Verfahren dringend effizienter werden müssten. Marcus Jung (FAZ) sieht den Grund für die plötzliche "Generosität" der Telekom – welche wohl 78 Millionen Euro Entschädigung samt Zinsen zahlen müssten – darin, dass man sich damit "endlich einer ungeliebten Altlast" entledige.

Rechtspolitik

Corona – Impfpflicht: Die SZ (Oliver Klasen/Georg Mascolo/Nicolas Richter) und Hbl (Heike Anger) widmen sich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Impflicht und dem entsprechenden Prüfungsmaßstab. Das Bundesverwaltungsgericht habe 1959 eine Impfpflicht gegen Pocken als verfassungsgemäß eingestuft, das Bundesverfassungsgericht zur seit 2019 existierenden Masern-Impfpflicht allerdings noch nicht entschieden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe im April 2021 eine tschechische Impfpflicht für bestimmte Kinderkrankheiten gebilligt. 

In der FAZ vertritt Rechtsprofessor Peter W. Heermann die Auffassung, dass die Deutsche Fußballliga (DFL) keine Impfpflicht für Fußballprofis auf Grundlage ihrer Verbandsautonomie aus Artikel 9 Grundgesetz (GG) beschließen könne. Denn die Fußballprofis selbst seien weder Mitglieder der DFL noch ihrer Bundesligaklubs, bei denen sie lediglich als Arbeitnehmer angestellt seien, sondern im Verhältnis zu diesen Dritte.

Corona – 2G: Auf dem Verfassungsblog analysiert Rechtsprofessorin Ute Sacksofsky die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von 2G-Regeln. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müsse für die Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften ein strenger Rechtfertigungsmaßstab gelten, da Freiheitsrechte besonders stark betroffen seien: Es gebe kaum einen gravierenderen Eingriff als den zwangsweisen Eingriff in den eigenen Körper. Die Ungleichbehandlung sei dann zu rechtfertigen, wenn es einen relevanten Unterschied im Hinblick auf die Gefährdung anderer gebe. Dies könne sich etwa durch die drohende Überlastung des Gesundheitssystems ergeben, die insbesondere durch ungeimpfte Covid-Patient:innen ausgelöst werden könne, weil diese weit überproportional häufig die Intensivstationen belasteten.

Corona – Beschränkungen: Die taz (Christian Rath) erklärt die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten nach dem Auslaufen der "epidemischen Lage nationaler Tragweite" am 25. November. Grundsätzlich seien damit Ausgangssperren sowie Schließungen von Schulen, Einzelhandel und Gastronomie nicht mehr möglich. Jedoch dürften Verordnungen, die an diesem Mittwoch bereits in Kraft seien, bis zum 15. Dezember weiter gelten, sodass Landesregierungen am Mittwoch noch entsprechende Verordnungen als Rechtsgrundlage etwa für Ausgangssperren beschließen könnten. Zudem könnten Länder auch weiterhin strenge Kontaktbeschränkungen verhängen. Alternativ könnte der Bundestag erneut die "epidemische Lage" feststellen oder direkt im Infektionsschutzgesetz Beschränkungen anordnen.

Cannabis: Angesichts der Bestrebungen der künftigen Bundesregierung zur Legalisierung von Cannabis geht Assistenzprofessor Robin Hofmann auf Verfassungsblog der Frage nach, ob dies europa- und völkerrechtlich machbar sei. So bestimme Artikel 71 des Schengen-Abkommens, dass die Vertragsparteien verpflichtet seien, Ausfuhr und Abgabe von Cannabis zu unterbinden. Für eine "saubere Lösung des Cannabis-Dilemmas" sei daher eine Änderung europäischen und internationalen Rechts erforderlich.

Digitale Märkte: Der Binnenmarktausschuss des EU-Parlaments hat dem Digital Markets Act (DMA) zugestimmt, wie nun auch SZ (Björn Finke) berichtet. Dieser soll großen Plattformen wie Google, welche als "Türsteher" (Gatekeeper) im Netz fungieren, besondere Verhaltensvorschriften machen. So sollen diese etwa nicht mehr eigene Dienste in Suchergebnissen bevorzugen dürfen.

Künstliche Intelligenz: Mit dem Entwurf der EU-Verordnung zur Regulierung Künstlicher Intelligenz (KI) befassen sich im FAZ-Einspruch Louisa Specht-Riemenschneider und Gert G. Wagner, Mitglieder im Sachverständigenrat für Verbraucherfragen beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Sie fordern, dass dieser um das Recht auf Datenzugang für Forschung und Wissenschaft ergänzt wird, damit diese KI-Systeme systematisch testen und überprüfen können.

Justiz

BVerfG – Richterliches Erledigungspensum: Das Bundesverfassungsgericht hat zum zweiten Mal eine Verfassungsbeschwerde des Zivilrichters Thomas Schulte-Kellinghaus (OLG Karlsruhe) nicht zur Entscheidung angenommen, mit welcher dieser sich gegen eine Ermahnung seiner Gerichtspräsidentin im Jahr 2011 aufgrund seines zu langsamen Arbeitstempos wehren wollte. Er habe die Möglichkeit einer Verletzung seiner richterlichen Unabhängigkeit nicht substantiiert dargelegt, befand das Gericht laut FAZ (Marlene Grunert) und LTO. So habe der Dienstgerichtshof in der unteren Instanz ausgeführt, dass die Rüge so zu verstehen gewesen sei, dass der Richter selbst seine Arbeitsweise reflektieren könne "auf etwaige Vorgehensweisen, die ihn unnötig viel Zeit kosten, ohne dass sich dies auf die Prüfung der einzelnen Fälle oder allgemein die Qualität der Rechtsprechung auswirken könnte". Schulte-Kellinghaus habe nicht dargelegt, dass diese Auslegung der Ermahnung unvertretbar sei, so das BVerfG. 

EuGH zu EU-Terrorliste/Hamas: Die palästinensische Organisation Hamas bleibt nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf der EU-Terrorliste, berichten spiegel.de und LTO. Damit kassierte der EuGH eine gegenteilige Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union (EuG) aus dem Jahr 2019, welches vier Rechtsakte des Rates, mit denen die Hamas auf der Liste belassen worden war, für nichtig erklärt hatte. Das EuG war davon ausgegangen, dass die betroffenen Rechtsakte vom Präsidenten und vom Generalsekretär des Rates der Europäischen Union hätten unterschrieben werden müssen. Der EuGH befand demgegenüber nun, dass es sich bei den Beschlüssen der EU-Staaten um "ein Bündel von Einzelentscheidungen gegenüber Personen und Organisationen" handele, die nicht unterzeichnet, sondern nur bekanntgegeben werden müssten.

BVerwG zu Vorkaufsrecht und Milieuschutz: Die Auswirkungen des Mitte November ergangenen Urteils des Bundesverwaltungsgerichts, wonach Städte ihr Vorkaufsrecht bei bestehenden Mietshäusern nicht ausüben dürfen, bespricht Rechtsanwalt Carl-Stephan Schweer in der FAZ. Zuvor seien häufig Abwendungsvereinbarungen von Erwerbern verlangt worden, in denen diese sich verpflichtet hätten, für 20 Jahre etwa auf Sanierungen und bestimmte Mieterhöhungen zu verzichten, um die Stadt von der Ausübung des Vorkaufsrechts abzuhalten. Die Wirksamkeit dieser Vereinbarungen stehe nun in Frage, sie seien möglicherweise nichtig. 

OLG München zu DSGVO-Auskunftsanspruch: Die Reichweite des datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruches aus Artikel 15 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) hat kürzlich das Oberlandesgericht München präzisiert, erklärt Rechtsanwältin Susanne Klein in der FAZ. Das Gericht habe einen weiten Anwendungsbereich angenommen, was einen hohen Aufwand für die betroffenen Unternehmen darstelle. Gerade bei langjährigen Arbeitsverhältnissen komme eine Menge an geschäftlichen Dokumenten zusammen, welche zusammengesucht, ausgedruckt und dem Antragsteller zur Verfügung gestellt werden müse.

LG Köln – Missbrauch durch Priester: SZ (Jana Stegemann), FAZ (Daniel Deckers) und spiegel.de berichten über den Prozessbeginn vor dem Landgericht Köln gegen einen katholischen Priester, der seine drei Nichten im Kindesalter in den Jahren 1993 bis 1999 sexuell missbraucht haben soll. Das Erzbistum Köln sei über die Vorgänge informiert gewesen und habe den Mann dennoch als Krankenhausseelsorger eingesetzt. 

LG Potsdam – Mord im Pflegeheim: spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet über den Prozess vor dem Landgericht Potsdam gegen eine Pflegerin, welche vier Menschen in dem Heim getötet haben soll, in welchem sie arbeitete. 

Bundesanwaltschaft: Mit der vergangene Woche veröffentliche Studie zur Nachkriegsvergangenheit der Bundesanwaltschaft befasst sich nun auch swr.de (Klaus Hempel) und hat dabei mit den Autoren, dem Historiker Friedrich Kießling und dem Strafrechtler Christoph Safferling, gesprochen. Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz bespricht die Studie im VerfassungsblogSie zeige, wie NS-Lebensläufe in der Behörde normalisiert worden seien, womit sich die Bundesanwaltschaft indes als Kind ihrer Zeit erweise. Es stelle sich die Frage, was die Alternative gewesen sei: Die akademischen Eliten mit Verwaltungserfahrung in der Nachkriegszeit seien überwiegend nationalsozialistisch geprägt gewesen, andererseits hätten keine "Kohorten von Dissidenten und Remigranten" zur Verfügung gestanden, um Ämter zu übernehmen.

Recht in der Welt

EGMR/Türkei – Inhaftierung von Richtern: Die Türkei muss 427 Richter:innen und Staatsanwält:innen, die nach dem Putschversuch 2016 ungerechtfertigt inhaftiert worden waren, eine Entschädigung von jeweils 5000 Euro zahlen. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach einem Bericht der taz (Christian Rath) entschieden. Sie waren von den Behörden verdächtigt worden, Mitglieder der angeblichen Terror-Organisation FETÖ zu sein, die der türkische Präsident Erdogan für den versuchten Umsturz verantwortlich macht und die Teil des Netzwerks des Predigers Fethullah Gülen sei. Eine Kammer des EGMR stellte nun fest, dass die Inhaftierung schon gegen türkisches Recht verstieß und daher die Freiheitsrechte der Richter:innen verletzte. 

Jürgen Gottschlich (taz) setzt diese "juristische Ohrfeige" für Präsident Erdogan in Zusammenhang mit seiner Weigerung, eine weitere Entscheidung des EGMR zum inhaftierten Kulturmäzen Osman Kavala umzusetzen. Der Ministerausschuss des Europarates habe der Türkei damit gedroht, ein Ausschlussverfahren aus dem Europarat einzuleiten, falls Erdogan den inhaftierte Kulturmäzen Osman Kavala nicht wie vom EGMR verlangt bis zum 30. November freilasse.  

EuGH/Ungarn – Vorlagen an den EuGH: Der Europäische Gerichtshof hat eine ungarische Verfahrensregel beanstandet, welche es dem Obersten Gerichtshof erlaubte, die Vorlage einer Rechtsfrage an den Europäischen Gerichtshof durch ungarische Gerichte zu unterbinden. Dies berichten FAZ (Stephan Löwenstein) und die Welt. Der EuGH betonte, dass nur er selbst über die Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchen entscheiden könne. Die nach der ungarischen Regelung ebenfalls vorgesehene Möglichkeit eines Disziplinarverfahrens gegen vorlegende Richter könne diese in unzulässiger Weise von Vorlagen an den EuGH abhalten, was mit der richterlichen Unabhängigkeit nicht vereinbar sei.

Russland – Memorial: Die SZ (Silke Bigalke) berichtet über den Prozessbeginn gegen die russische Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau. Memorial soll gegen die Regeln für "ausländische Agenten" in Russland verstoßen haben und deshalb aufgelöst werden. Die seit Jahrzehnten existierende Organisation werde von Staatspräsident Putin abgelehnt, da sie Aufklärung von stalinistischer Gewalt in der Sowjetunion betreibe, die von Putin aus nationalistischen Gründen verklärt werde.

Österreich/Irland – Noyb: Die NGO Noyb des Datenschutzaktivisten Max Schrems hat bei der österreichischen Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Anzeige gegen die irische Datenschutzbehörde erstattet, berichten LTO, netzpolitik.org (Alexander Fanta/Markus Reuter) und zeit.de. Hintergrund ist, dass die Behörde Noyb ohne rechtliche Grundlage aufgefordert habe, in einem laufenden Verfahren rund um den Datenschutz bei Facebook eine Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben. Wenn ein Beamter den geringsten Vorteil fordere, um eine gesetzliche Aufgabe zu erfüllen, könne das strafrechtlich relevant sein – egal, "ob man unrechtmäßig Verschwiegenheit oder eine Flasche Wein verlangt", so Schrems.

Sonstiges

Evidenzbasierte Politik: Am Beispiel der schweizerischen "COVID-19 Science Task Force", welche die Behörden bei der Corona-Bekämpfung berät, erläutert die Wissenschaftliche Assistentin Monika Plozza auf dem Verfassungsblog das "Recht auf evidenzbasierte Politik". Dieses sei etwa in Artikel 15 des UNO-Pakts I begründet und verlange, dass die Politik mit der Wissenschaft in Dialog stehe. Dabei sei es jedoch nicht Aufgabe der Wissenschaft, der Politik fertige Konzepte zu liefern, sondern lediglich mögliche Risiken zu untersuchen und zukunftsorientierte Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Die Entscheidung über konkrete Maßnahmen obliege weiterhin der Politik. 

Partnerschaftsgewalt: SZ (Henrike Roßbach), FAZ (Helene Bubrowski), taz (Patricia Hecht) und zeit.de berichten über die Kriminalstatistik zu Partnerschaftsgewalt im Jahr 2020, welche von Bundesjustizministerin Lambrecht (SPD) und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes Holger Münch vorgestellt wurde. Die Zahl der registrierten Gewalttaten sei erneut gestiegen, auf fast 150.000, wobei jedoch ein erhebliches Dunkelfeld bestehe. Jeden dritten Tag sterbe eine Frau durch einen Femizid. 

Henrike Roßbach (SZ) betont, dass Partnerschaftsgewalt in aller Regel Gewalt von Männern gegen Frauen sei, oftmals nach Trennungen. "Doch auch wenn man manches erklären kann – als Rechtfertigung darf keiner dieser Faktoren gelten."

Corona und Weihnachten: Arbeitsrechtliche Fragestellungen rund um das Thema Weihnachten, insbesondere in Corona-Zeiten, erläutert Rechtsanwalt Michael Riedel auf LTO. So gelte bei Weihnachtsfeiern mindestens die 3G-Regel, jedoch dürften die Arbeitgebenden den Zugang weiter einschränken und nur Geimpfte und Genesene (2G), gegebenenfalls mit zusätzlichem Test (2G-plus), zulassen. Geschenke seien erlaubt, sofern sie sozialadäquat und insbesondere im Einklang mit unternehmensinternen Richtlinien stünden.

 

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lto/mps

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 24. November 2021: . In: Legal Tribune Online, 24.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46736 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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