Die deutsche Justiz hat sich erst spät zu den Prinzipien der Nürnberger Prozesse bekannt. Die Abwicklungsanstalt der WestLB haftet für Steuerschulden aus Cum-Ex-Geschäften. Laut EuG sind zwei Abkommen zwischen Marokko und der EU nichtig.
Thema des Tages
75 Jahre Nürnberger Prozesse: Zum 75. Jahrestag der Urteile des internationalen Militärtribunals in Nürnberg gegen NS-Größen erinnert die SZ (Ronen Steinke) daran, dass die deutsche Rechtswissenschaft viel zu lange mit den aus den Prozessen folgenden völkerrechtlichen Prinzipien gehadert habe. So habe noch 1958 der Bundesgerichtshof die Auffassung vertreten, die Bundesrepublik erkenne keine einzige Entscheidung des Nürnberger Tribunals an, es handele sich um nichts anderes als Siegerjustiz. Eine Kehrtwende vollführte der Bundesgerichtshof erst 1992, als er die Schüsse an der innerdeutschen Grenze für kriminell erklärte und damit einen rechtspolitischen U-Turn vollführte, ein "recht durchsichtig interessengeleitetes Anerkenntnis".
Rechtspolitik
Weisungsrecht gegenüber Staatsanwaltschaften: LTO (Annelie Kaufmann) stellt die Diskussion über die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaften dar. Anlass sind die Durchsuchungen im Umfeld von Olaf Scholz, die vor und nach der Bundestagswahl durchgeführt wurden. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück ließ bei Geldwäscheermittlungen u.a. das Bundesfinanzministerium durchsuchen. Die Staatsanwaltschaft Köln ließ bei Cum-Ex-Ermittlungen Dienst- und Wohnräume in Hamburg u.a. bei einem Vertrauten von Scholz durchsuchen. Da beide Staatsanwaltschaften CDU-geführten Justizministerien unterstellt sind, sei die Frage nach politischen Motiven aufgekommen. Die Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaft sei stark umstritten, weshalb das Bundesjustizministerium eigentlich eine Gesetzesreform angekündigt hatte, um zumindest mehr Transparenz für Weisungen aus den Justizministerien an die Staatsanwaltschaften zu schaffen. Daraus wurde bisher jedoch noch nichts. Die nächste Koalition müsse nun die Frage beantworten, wie unabhängig die Staatsanwaltschaft eigentlich sein solle.
Die Durchsuchung der Staatsanwaltschaft Köln am vergangenen Dienstag nimmt die FAZ (Rainer Burger/Marcus Jung u.a.) zum Anlass, die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft zu beleuchten und die Bedeutung der Verstrickung der Warburg Bank in Cum-Ex-Geschäfte für den Wahlkampf und Olaf Scholz darzustellen.
Sozialisierung von Wohnungsunternehmen: Nachdem eine Mehrheit in Berlin für das Volksbegehren "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" gestimmt hat, zitiert das Hbl (Rouzbeh Taheri) unter anderem den Staatsrechtler Ulrich Battis, der ein auf dem Volksentscheid fußendes Gesetz für nicht verfassungskonform hält. Sowohl die Berliner SPD-Spitzenkandidatin Giffey als auch die Grünen-Spitzenkandidatin Jarasch stellen jedoch die Erarbeitung eines entsprechenden Gesetzentwurfs in Aussicht, unter dem Vorbehalt, dass eine Umsetzung des Bürgervotums in rechtlicher und praktischer Hinsicht auch tatsächlich machbar sei.
Digitaler Führerschein: Der digitale Führerschein, eines der Prestigeprojekte von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, kommt nun doch zu einem vorläufigen Ende, nachdem die entsprechende App wegen Verdachts auf Sicherheitslücken wieder aus dem App Store entfernt wurde, wie die FAZ (Corinna Budras) schreibt.
In einem getrennten Kommentar stellt Corinna Budras (FAZ) fest, dass das Problem offenbar in einer eher rudimentären Sicherheitsarchitektur läge. Insgesamt gebe die "digitale Verwaltung" in Deutschland ein schlechtes Bild ab, hier habe die neue Bundesregierung jede Menge zu tun.
Justiz
LG Frankfurt/M. zu Cum-Ex/WestLB: Das Landgericht Frankfurt/M. hat entschieden, dass die Abwicklungsanstalt der WestLB für Steuerschulden aus Cum-Ex-Geschäften in Höhe von rund einer Milliarde Euro haftbar gemacht werden kann, wie SZ, FAZ (Marcus Jung), Hbl (Elisabeth Atzler) und LTO berichten. Beide Prozessparteien sind aus der WestLB hervorgegangen, nachdem diese infolge der Finanzkrise 2007 und 2008 in Schieflage geriet und ab 2012 abgewickelt wurde. Die Klägerin ist die verbliebene Restgesellschaft und vollständig in der Hand des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Beklagte ist eine Abwicklungsanstalt innerhalb der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung und dem Bundesfinanzministerium unterstellt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
BGH zu Brandstiftung an Jagdhochsitzen: Der Bundesgerichtshof hat laut LTO entschieden, dass Jagdhochsitze Hütten im Sinne des § 306 Absatz 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) sind. Der Begriff der Hütte im StGB umfasse demnach auch Bauwerke, bei denen an die Größe, Festigkeit und Dauerhaftigkeit geringe Anforderungen gestellt würden.
LG Itzehoe – KZ-Sekretärin Stutthof: An diesem Donnerstag beginnt vor dem Landgericht Itzehoe wegen Beihilfe zu Mord in 11.412 Fällen der Strafprozess gegen Irmgard F., ehemalige Sekretärin des KZ Stutthof bei Danzig. F. war, damals 18 bis 19 Jahre alt, von Juni 1943 bis April 1945 Sekretärin des Stutthofer Lagerkommandanten. An 27 Verhandlungsterminen soll bis Juni 2022 ermittelt werden, welche Rolle die Frau in der Stutthofer Tötungsmaschine spielte. Die Angeklagte hat angekündigt, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht am Prozess teilnehmen will, obwohl sie als verhandlungsfähig gilt. Die SZ (Peter Burghardt) setzt diesen Fall zudem in Beziehung zu anderen kürzlich ergangenen Urteilen gegen KZ-Wachleute und geht der Frage nach, warum so viel Zeit bis zur Strafverfolgung verging und diese trotzdem noch passieren sollte.
LG Braunschweig zu VW-Betriebsratsvergütung: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat laut spiegel.de Revision gegen die Freisprüche im Untreue-Prozess um die jahrelange Genehmigung hoher Vergütungen für leitenden Betriebsräte bei Volkswagen eingelegt. Die Staatsanwaltschaft wolle aber noch die schriftlichen Urteilsgründe abwarten, die voraussichtlich in etwa zwei Monaten vorliegen dürften, bevor sie eine Revisionsbegründung liefere.
Recht in der Welt
EuG – Marokko/Westsahara: Das Gericht der Europäischen Union hat entschieden, dass die EU-Abkommen, die die von Marokko annektierte Westsahara betreffen, nicht allein mit Marokko schließen kann. Vielmehr müsse hierbei auch die "Zustimmung des Volkes der Westsahara" eingeholt werden. Dementsprechend erklärte das Gericht zwei Verträge der EU mit Marokko für nichtig, wie FAZ (Hans-Christian Rößler), taz (Christian Rath) und LTO berichten. Das Verfahren hatte die Westsahara-Befreiungsfront Polisario angestrengt.
Reiner Wandler (taz) betont, dass das Gericht erneut bestätigt habe, dass die Westsahara nicht zu Marokko gehöre. Die EU müsse in dieser Frage endlich umdenken und Menschenrechte über wirtschaftliche Belange stellen.
EuG – Slowakei/Europol: Das Gericht der Europäischen Union hat laut LTO eine Klage des slowakischen Oligarchen Marian Kočner gegen Europol abgewiesen. Kočner wird verdächtigt, hinter dem Mord an dem Journalisten Jan Kuciak zu stehen. Von Europol verlangte Kočner 100.000 Euro Schadensersatz, weil Daten aus einer Europol-Auswertung seiner Mobiltelefone in der Presse landeten. Kočner habe jedoch nicht nachweisen können, dass hierfür Europol verantwortlich sei, da auch die slowakische Polizei über die Daten verfügte.
EuG – Japan/"Kondensatoren-Kartell": Das Gericht der Europäischen Union hat Geldbußen in Höhe von rund 254 Millionen Euro aufrechterhalten, die von der Europäischen Kommission im März 2018 gegen mehrere japanische Unternehmen wegen ihrer Beteiligung am sogenannten "Kondensatoren-Kartell" verhängt wurden, wie LTO schreibt. Die Unternehmen hatten bei dem Gericht beantragt, den Beschluss für nichtig zu erklären oder ihre jeweiligen Geldbußen herabzusetzen. Dies lehnte das Gericht ab. Gegen das Urteil sind noch Rechtsmittel zum EuGH zulässig.
EuG – Österreich/Beihilfen für Fluggesellschaften: Das Gericht der Europäischen Union hat entschieden, dass die von der Europäischen Kommission 2016 entschiedene Rückzahlung von unzulässigen staatlichen Beihilfen des Flughafen Klagenfurt in Österreich an die Fluggesellschaften Ryanair und Tuifly rechtens war. Ryanair will nun beim Europäischen Gerichtshof Berufung einlegen, Tuifly will noch die Begründung der Entscheidung abwarten, wie die SZ meldet.
Österreich – Rückerstattungsklausel Austrian Airlines: Ein Gericht in Wien hat entschieden, dass die Fluggesellschaft Austrian Airlines ihren Kund:innen nach Flugausfällen nicht die Rückerstattung der Ticketkosten verweigern durfte, auch wenn diese über Onlinedienstleister gebucht worden sind, wie spiegel.de berichtet.
Großbritannien – Mord an Sarah Everard: An diesem Mittwoch und Donnerstag wird das britische Strafgericht Old Bailey das Urteil gegen den mutmaßlichen Mörder von Sarah Everard verkünden. Wie SZ (Anna Fischhaber) und FAZ schreiben, gilt eine lebenslange Freiheitsstrafe als wahrscheinlich. Der geständige Täter – ein Polizist – soll die 33-jährige Sarah Everard mit Handschellen festgenommen, vergewaltigt und ermordet haben. Der Fall hatte in Großbritannien eine Debatte über Gewalt an Frauen ausgelöst, unter anderem unter dem Hashtag "Reclaim These Streets".
Malawi – Nashornschmuggler: Ein Gericht in Malawi hat den mutmaßlichen Drahtzieher von Schmuggelgeschäften wegen Besitzes und Handels mit Nashorn-Hörnern zu einer Gefängnisstrafe von 14 Jahren verurteilt. Wegen der Schwere des Vergehens und des Versuchs, sich der Justiz zu entziehen sei die Strafe gegen den chinesischen Staatsbürger besonders hoch ausgefallen, erläutert spiegel.de.
Juristische Ausbildung
Kunststrafrecht: LTO-Karriere (Franziska Kring) interviewt den Rechtsreferendar im Kunststrafrecht Yannick Neuhaus, welcher erklärt, warum er sich weiter in diesem Rechtsgebiet spezialisieren möchte.
Sonstiges
Wahlpraxis in Berlin: spiegel.de (Dietmar Hipp u.a.) berichtet von den teils chaotischen Zuständen am Wahlsonntag in Berlin, die nun zum Rücktritt der Landeswahlleiterin geführt haben. Einblick in die Probleme gab unter anderem Staatsrechtsprofessor Christian Waldhoff, der im Berliner Bezirk Mitte als Wahlhelfer Pannen wie das Fehlen von Wahlzetteln selbst miterlebte.
Föderalismus: FAZ-Einspruch (Corinna Budras) interviewt den ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Ferdinand Kirchhof zu Themen wie dem Kohleausstieg, Steuern oder Corona-Maßnahmen mit einem Fokus auf den besonderen Herausforderungen des Föderalismus.
AfD-nahe Erasmus-Stiftung: Der taz (Gareth Joswig) liegt ein Positionspapier von zwei Politikwissenschaftlern der Universität Gießen vor, wonach es wohl verfassungswidrig wäre, der parteinahen Stiftung der AfD nach dem erneuten Einzug der Partei in den Bundestag die staatliche Förderung vorzuenthalten. Die Wissenschaftler fordern vielmehr, mit einem neuen Stiftungsgesetz Demokratieförderung neu zu rahmen und die Qualität der Bildungsarbeit aller politischen Stiftungen künftig nach klaren Kriterien zu überprüfen.
Abfrage des Impfstatus: Im Interview mit spiegel.de (Matthias Kaufmann) erklärt der Anwalt Sören Langner, dass Firmen betroffene Mitarbeiter:innen nach ihrem Impfstatus fragen dürfen, wenn ab November Ungeimpften in Quarantäne keine Lohnentschädigung mehr zusteht. Das Datenschutzrecht erlaube hier die Abfrage, weil sie erforderlich sei, um die Lohnfortzahlung abzuwickeln.
BKartA/Ostthüringer Zeitung: Das Bundeskartellamt hat es untersagt, dass eine Gesellschaft der Funke-Mediengruppe die alleinige Kontrolle an den Verlagsgesellschaften der Ostthüringer Zeitung erwirbt, wie LTO berichtet. Mit der geplanten Übernahme wäre der letzte Wettbewerb zwischen regionalen Tageszeitungen in den Gebieten Jena und Gera ausgeschaltet worden, so der Präsident des Bundeskartellamts.
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lto/ls
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Die juristische Presseschau vom 30. September 2021: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46154 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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