Die juristische Presseschau vom 14. September 2022: BAG für Arbeits­zei­t­er­fas­sung / LG Stutt­gart gegen Kli­maklage / Lebens­lang für Tank­s­tel­len­mord

14.09.2022

BAG stellt eine Pflicht der Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung fest. LG Stuttgart kann Mercedes-Benz nicht zu mehr Klimaschutz verurteilen. LG Bad Kreuznach verhängt lebenslange Freiheitsstrafe für den Todesschützen von Idar-Oberstein.

Thema des Tages

BAG zu Arbeitszeiterfassung: Laut Bundesarbeitsgericht sind Unternehmen bereits heute dazu verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden zu erfassen. Dies ergebe eine unonsrechtskonforme Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz, nach dem Arbeitgebende zur Sicherung des Gesundheitsschutzes "für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen" hätten. Der EuGH hatte bereits 2019 in seinem "Stechuhr-Urteil" eine derartige Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gefordert. Der Bundestag hatte bisher jedoch noch keine ausdrückliche gesetzliche Pflicht eingeführt. In dem Fall, den das BAG entschied, forderte ein Betriebsrat unter Berufung auf sein Initiativrecht die Einführung einer Arbeitszeiterfassung im konkreten Betrieb und rief deshalb die Einigungsstelle an. Das BAG wies die Klage nun im Beschlusswege ab, weil der Betriebsrat bei Bestehen einer gesetzlichen Regelung kein Initiativrecht habe. FAZ (Marcus Jung)Hbl (Heike Anger) und beck-aktuell (Joachim Jahn) berichten, eine vertiefte Analyse der überraschenden und in ihren Konsequenzen wohl noch nicht recht absehbaren Entscheidung liefert Rechtsprofessor Michael Fuhlrott für LTO.

Florian Gontek (spiegel.de) kommentiert die Entscheidung geradezu euphorisch. Obgleich sie angesichts des auf Arbeitnehmenden lastenden Drucks, konstant flexibel und verfügbar zu sein, "auf den ersten Blick kaum in die Zeit passt," könnten mit ihr "gesunde Grenzen" aufgezeigt werden. Es sei nun am Gesetzgeber, zeitnah eine Regelung zu schaffen, die "Arbeitgeber und Beschäftigte nicht überfordert im Dokumentationsdschungel zurücklässt." Ähnlich argumentiert Christian Rath (BadZ). Es sei peinlich, "dass es in Deutschland drei Jahre nach dem Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs immer noch keine gesetzliche Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit gab". Die Ampel-Koalition dürfe nun den Konflikten nicht länger aus dem Weg gehen und müsse jetzt die Details der Arbeitszeiterfassungspflicht regeln.

Rechtspolitik

Cannabis: Rechtsprofessor Kai Ambos kritisiert im Verfassungsblog den Inhalt der drei Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zur vermeintlichen Unvereinbarkeit einer Cannabislegalisierung mit internationalen Rechtsbestimmungen. In der WD-Ausarbeitung zum EU-Recht sieht Ambos "neun Seiten Substanzlosigkeit". Sie setze sich mit der kontroversen rechtswissenschaftlichen Diskussion nicht auseinander  und erkenne die entscheidenden Fragen nicht. Nach Ansicht von Ambos kann Deutschland den Cannabis-Markt legalisieren, muss dann aber die Ausfuhr in andere EU-Staaten unterbinden.

Medienfreiheit: Über die Pläne der EU-Kommission, noch in dieser Woche einen Entwurf für ein Europäisches Medienfreiheitsgesetz vorzustellen, schreibt nun auch netzpolitik.org (Alexander Fanta).

Insolvenzrecht: Die Rechtsanwälte Frank Grill und Ulrich Klockenbrink stellen im Recht und Steuern-Teil der FAZ Überlegungen der Bundesregierung vor, die Zahl der Insolvenzen durch Erleichterungen beim Insolvenzgrund der Überschuldung zu begrenzen. So soll der Prognosezeitraum für die Fortführungsprüfung künftig von zwölf auf vier Monate verkürzt werden. Angesichts der vielfältigen Unwägbarkeiten der künftigen Entwicklung und nach wie vor bestehenden Liquiditätsengpässen vieler Unternehmen wäre es nach Ansicht der Autoren aber sachgerechter, (wie schon während der ersten Coronawelle) die Insolvenzantragspflicht vorübergehend auszusetzen.

Der Rechtsprofessor und frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Heribert Hirte analysiert auf Libra den unglücklichen Talkshowauftritt von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in der vorigen Woche. Unbewusst habe der Minister mit seiner Unterscheidung von Produktionseinstellung und Insolvenz auch die Überlegungen der Bundesregierung zu Änderungen des Insolvenzrechts offengelegt. 

Kryptomärkte: Noch in diesem Jahr könnte eine EU-Verordnung für Kryptomärkte in Kraft treten. Die Rechtsanwältinnen Renate Prinz und Annabelle Juliette Rau (Libra) stellen die wesentlichen Inhalte der "Markets in Crypto-Assets Regulation" vor, auf die sich EU-Ministerrat, EU-Parlament und EU-Kommission Ende Juni im Trilog geeinigt haben. Erfasst werden Kryptowährungen wie Bitcoin und andere Kryptowerte. In Deutschland gebe es aktuell kein eigenes Regelungsregime für Kryptowerte. Vielmehr sei für jeden Kryptowert gesondert zu prüfen, ob und wenn ja unter welches aufsichtsrechtliche Regime er fällt.

Justiz

LG Stuttgart zu Klimaschutz/Mercedes: Das Landgericht Stuttgart hat die gegen Mercedes-Benz gerichtete Klage von Umweltaktivisten, mit der sie den Autobauer zu klimaschützenden Maßnahmen verpflichten wollten, abgewiesen. Die Entscheidung, wann und wie klimaschützende Maßnahmen ergriffen werden müssen, obliege dem Gesetzgeber und nicht Gerichten, so das LG. Darüber hinaus sei die aus dem beanstandeten Verhalten – dem Vertrieb von Verbrennungsmotoren – abzuleitende Gefahr für die Freiheitsrechte der Kläger nicht hinreichend dargelegt worden. Es sei nicht sicher, ob Deutschland sein CO2-Budget überziehe und welche freiheitsbeschränkenden Maßnahmen die Politik dann beschließe. Es berichten taz (Christian Rath)LTO  und tagesschau.de (Christioph Kehlbach/Frank Bräutigam). Die FAZ (Gustav Theile/Max Smolka) geht auch auf den von einer niederländischen Umweltorganisation errungenen Sieg in einem Verfahren gegen den Öl-Konzern Shell ein und nennt weitere Vorhaben der Klimaschützer.

Nach Meinung von Christian Rath (LTO) könne "das Konzept von Klimaklagen gegen Unternehmen nicht überzeugen." Nur der Gesetzgeber sei in der Lage und legitimiert, die Interessen des Gemeinwohls in vielen erforderlichen Abwägungen zu definieren. Falls die Legislative ihre Pflichten zum Klimaschutz verletzte, könne zwar gerichtliche Kontrolle erforderlich sein. Dies wäre dann aber eine Aufgabe von Verwaltungs- oder Verfassungsgerichten und nicht der Zivilgerichte.

LG Bad Kreuznach zu Tötung wegen Maskenpflicht: Wegen eines heimtückischen und aus niederen Beweggründen begangenen Mordes hat das Landgericht Bad Kreuznach Mario N., der im September des vergangenen Jahres in Idar-Oberstein einen 20 Jahre alten Tankstellenmitarbeiter nach einem Streit um die Maskenpflicht erschoss, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht hat die besondere Schwere der Schuld wegen N.s Kooperation mit den Ermittlungsbehörden jedoch verneint. Damit besteht die Möglichkeit, dass der Angeklagte nach 15 Jahren zur Bewährung freigelassen wird. Die Berichte von FAZ (Kim Maurus)SZ (Annette Ramelsberger), spiegel.de (Julia Jüttner) und LTO weisen darauf hin, dass N.s Täterschaft nie in Frage stand. Im Verfahren hatte der Angeklagte beschrieben, wie er sich nach persönlichen Schicksalsschlägen in einem vermeintlichen Kampf gegen die als sinnlos empfundenen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus gesehen  habe und am Geschädigten ein Exempel statuieren wollte.

Nach Annette Ramelsberger (SZ) hat der Angeklagte zwar "allein gehandelt, allein aber ist er nicht." Tatsächlich gebe es viele mit "störrischer Engstirnigkeit" und dem unbedingten Willen, andere Meinungen nicht auszuhalten, sondern zu verdammen und zu bestrafen. Nach Jost Müller-Neuhof (Tsp) geht es hingegen um "gewöhnliche Umstände mit einer gewöhnlichen Person, die ihre gewöhnliche Wut mit brachialer Gewalt an einem unschuldigen Mitmenschen ausgelassen hat". Die Tat dürfe nicht als Politik geadelt werden, vielmehr gelte es, "des Toten zu gedenken und den Täter zu vergessen."

BGH zu "nachwirkendem" Bestreiten: Der ZPO-Blog (Benedikt Windau) analysiert einen Beschluss des Bundesgerichtshofs vom Juni zum bestreitenden Nachwirken eines Parteivortrags. Wenn sich der Beklagte bereits umfassend bestreitend geäußert hat, muss er eine Erklärung der Klägerin, die thematisch und vom Substantiierungsgrad nicht darüber hinausgeht, nicht erneut bestreiten. Das erste Bestreiten wirke dann nach, so der BGH. Der Autor ergänzt, dass in Fällen eines vertieften Vortrags der Klägerin das Gericht dies nicht einfach als zugestanden unterstellen könne, sondern dem Beklagten gem. § 139 ZPO einen Hinweis geben müsse, dass er erneut Stellung nehmen könne.

OVG SH zu Protestcamp auf Sylt: Über die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts, die Verfügung zur Auflösung eines Sylter Protestcamps von Punks nicht zu beanstanden, berichtet nun auch LTO.

LG Bonn – Cum-Ex/Hanno Berger: Im Verfahren gegen den Anwalt und Cum-Ex-Gestalter Hanno Berger wurde am Landgericht Bonn die Vernehmung eines ehemaligen Anwalts-Partners des Angeklagten fortgesetzt. Nach dem Bericht des Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier) beschrieb der Zeuge seinen Willen, die von ihm mit Cum-Ex-Geschäften erzielten Beträge zurückzuzahlen. Tatsächlich überstiegen die gegen ihn geltend gemachten Forderungen jedoch sein Vermögen. Mit Spekulationen über die Verschiebung von Gewinnen unter Beteiligung Bergers beschäftigt sich die SZ (Jan Diesteldorf/Nils Wischmeyer).

ArbG Berlin zu impfkritischem Lehrer: Ein Berliner Lehrer ist wegen eines Internetvideos mit dem Standbild eines NS-Konzentrationslagertors samt Schriftzug "Impfung macht frei" zu Recht fristlos entlassen worden, entschied das Berliner Arbeitsgericht. Das Video sei "eine unzulässige Verharmlosung des Holocausts", die Weiterbeschäftigung des Manns daher "unzumutbar". spiegel.de berichtet. 

VG Karlsruhe zu Pressearbeit des BVerfG: Ende August wies das Verwaltungsgericht Karlsruhe eine von der AfD erhobene Klage gegen Vorabinformationen des Bundesverfassungsgerichts an Mitglieder der Justizpressekonferenz ab, nun liegen die Gründe der noch nicht rechtskräftigen Entscheidung vor. Nach diesen fehle es der Partei eben wegen dieser Parteieigenschaft bereits an der Klagebefugnis, weil sie kein Presseorgan sei und sich somit auch nicht auf eine Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes berufen könne. Ein Anspruch, in einer bestimmten Weise medial dargestellt zu werden, bestehe ebensowenig. Tsp (Jost Müller-Neuhof) und LTO berichten.

BVerwG-Präsident Korbmacher: Die FAZ (Reinhard Müler) porträtiert den jüngst ernannten Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, Andreas Korbmacher. Dem seit 2008 in Leipzig tätigen Richter lägen Großverfahren, bei denen das BVerwG als Tatsacheninstanz agiere, "besonders am Herzen". Versuche, diese Verfahren zu beschleunigen, nützten nach seiner Einschätzung nichts, "wenn die Anforderungen an den Natur- und Artenschutz so komplex und strikt bleiben, wie das derzeit der Fall ist."

BGH-Senatsvorsitzende Fetzer: Der SWR-RadioReportRecht (Bernd Wolf) spricht mit BGH-Richterin Rhona Fetzer, seit Mai Vorsitzende Richterin am XIII. Zivilsenat, der für Kauf- und Mietrecht zuständig ist, über ihre Arbeit und die mit ihr verbundene Verantwortung.

Recht in der Welt

Ungarn – Abtreibungsrecht: Im Wege einer Verordnung des Innenministers gilt ab dem morgigen Donnerstag in Ungarn eine Regelung, nach der bei der (jetzt schon geltenden) Beratungspflicht für abtreibungswillige Frauen diesen "die Lebensfunktionen des Embryos" zur Kenntnis gebracht werden müssen. Dies solle durch das Anhören der Herztöne der Leibesfrucht erreicht werden, berichtet spiegel.de.

USA – Donald Trump: In der Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit der kürzlichen Razzia auf dem Anwesen des früheren US-Präsidenten Donald Trump geht das Justizministerium offenbar auf Wünsche Trumps ein. So sei man bereit, zumindest einen der zwei von Trump für die Rolle eines Sondergutachters vorgeschlagenen Kandidaten zu akzeptieren, schreibt die FAZ (Sofia Dreisbach). Dieser solle die bei der Razzia sichergestellten Dokumente prüfen.

Juristische Ausbildung

Online-Repetitorium: Zahlreiche kommerzielle Anbieter bieten Repetitorien für das zweite Staatsexamen nur noch online an. Vor- und Nachteile dieser Entwicklung leuchtet LTO-Karriere (Katharina Uharek) aus.

Das Letzte zum Schluss

Wahlkampf auf französisch: Harte Bandagen sind im Wahlkampf um das Bürgermeisteramt der französischen Stadt St. Etienne vonnöten: spiegel.de berichtet, dass der Amtsinhaber einen Rivalen mit Aufnahmen eines offenbar arrangierten Schäferstündchens mit einem anderen Mann in einem Hotelzimmer kaltzustellen gedachte. Der Schuss ging aber offenbar nach hinten los, die Polizei nahm den intriganten Politiker und weitere Personen aus seinem Umfeld vorläufig fest.

 

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LTO/mpi

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 14. September 2022: . In: Legal Tribune Online, 14.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49612 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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