Die juristische Presseschau vom 8. September 2022: Keine Mas­kenpf­licht im Flug­zeug / Kün­di­gung von unge­impften Pfle­gern mög­lich / 10 Jahre für Online-Stalker

08.09.2022

Bundestag beschließt Novelle des Infektionsschutzgesetzes. Landesarbeitsgerichte erlauben Kündigung von ungeimpften Pflegekräften - vor und nach Beginn der Pflegeimpfpflicht. Spanisches Gericht verurteilt Stalker, der Suizid verursachte.

Thema des Tages

Corona - Schutzmaßnahmen Herbst/Winter: Am heutigen Donnerstag will der Bundestag Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beschließen, die das Gesetz an die Lage im kommenden Herbst und Winter anpassen. Unter anderem soll die Maskenpflicht in Fernzügen erhalten bleiben. Kurzfristig beschloss die Koalition jedoch, die Maskenpflicht im Flugverkehr abzuschaffen. zeit.de (Tilman Steffen) beschreibt die Diskussion.

Angelika Slavik (SZ) kritisiert die wenig überzeugende Kommunikation der Koalition, die nicht erklären könne, warum die Maskenpflicht in Flugzeugen zunächst notwendig war und es nun doch nicht mehr ist. Sie plädiert dafür, auch die Maskenpflicht in Fernzügen abzuschaffen und das Maskentragen der Eigenverantwortung zu überlassen. In der Gesellschaft müsse wieder Platz für Dummheit sein. 

Rechtspolitik

Vorratsdatenspeicherung: Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat eine baldige Wiedereinführung der zur Zeit ausgesetzten Vorratsdatenspeicherung gefordert. Es gehe auch darum, schwere Fälle von sexuellem Missbrauch zu stoppen, wird Faeser von zeit.de zitiert. Am 20. September wird der Europäische Gerichtshof über das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung entscheiden.

Arbeitszeit: Die Anwältinnen Kira Falter und Julia Prokop kritisieren auf LTO, dass die Ende August vorgestellte Digitalisierungsstrategie von Digitalminister Volker Wissing (FDP) keine Ankündigung zur Regelung flexibler Arbeitszeitmodelle für New-Work-Arbeitnehmer:innen enthält. Auch eine Umsetzung des EuGH-Urteils zur Arbeitszeiterfassung von 2019 werde entgegen erster Entwürfe nicht in Aussicht gestellt. Andere Staaten seien weiter: So sei es in Belgien möglich, vier Tage lang länger zu arbeiten als pro Werktag vorgesehen und dafür am fünften Tag freizunehmen.

Soziales Pflichtjahr: Rechtsprofessor Gregor Thüsing und der CDU-Politiker Carsten Linnemann plädieren in einem Gastbeitrag für die FAZ für ein obligatorisches "Gesellschaftsjahr" für alle Schulabgänger:innen. Dies verstoße nicht gegen das grundgesetzliche Verbot der Zwangsarbeit. Aber sicherheitshalber könne auch das Grundgesetz geändert werden. Man könne sogar argumentieren, die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes sei wegen des Sozialstaatsprinzips verfassungsrechtlich "geboten". 

Justiz

LAG RhPf zur Kündigung wegen Impfverweigerung: Ein Krankenhaus durfte eine medizinische Angestellte bereits im Juli 2021 - also vor Inkrafttreten der Pflege-Impfpflicht - kündigen, weil sie sich nicht gegen Covid impfen lassen wollte. Das entschied das Landesarbeitgsgericht Rheinland-Pfalz laut LTO im Juli diesen Jahres. Mit Blick auf den Schutz der Patient:innen und der übrigen Beschäftigten durfte das Krankenhaus das Anforderungsprofil schon frühzeitig so ausgestalten, dass nur noch geimpftes Pflegepersonal beschäftigt wird.

LAG Hessen zur Kündigung wegen Impfverweigerung: Eine ungeimpfte Pflegekraft durfte von  einem Seniorenheim ab Mitte März 2022 - dem Inkrafttreten der Pflege-Impfpflicht - freigestellt werden. Das entschied das Landesarbeitsgericht Hessen laut beck-community (Markus Stoffels) Anfang August in einem Eilverfahren. Der erforderliche Impfnachweis wirke wie eine berufliche Tätigkeitsvoraussetzung.

BVerwG zu sexueller Belästigung durch Soldaten: Ein Stabsunteroffizier der Reserve, der mehrfach eine Schülerpraktikantin belästigt hatte, wird um einen Rang zum Oberstabsgefreiten degradiert. Das entschied das Bundesverwaltungsgericht laut spiegel.de in einem jetzt veröffentlichten Urteil von Ende Juni. Der Soldat hatte das 14-jährige Mädchen in einem abgeschlossenen Raum umarmt und später gefragt, ob es Jungfrau sei. Das Mädchen brach das Praktikum ab.

BVerwG - griechische Asylentscheidungen: Das Bundesverwaltungsgericht hat dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Griechenland für das deutsche Asylverfahren auch dann bindend ist, wenn eine Rückkehr nach Griechenland wegen drohender unmenschlicher Behandlung ausgeschlossen ist. Geklagt hatte eine Syrerin, die in Griechenland als Flüchtling anerkannt wurde, dann aber nach Deutschland weitermigrierte und hier nur subsidiären Schutz erhielt. Es berichtet beck-aktuell

BGH - Maut-Nachforderung aus Ungarn: Der Bundesgerichtshof hat voraussichtlich keine Einwände dagegen, dass Ungarn deutsche Autohalter in Deutschland zur Kasse bittet, wenn mit dem Fahrzeug in Ungarn die Autobahn-Maut geprellt wurde. Geklagt hatte das Mietwagen-Unternehmen Hertz, das für Säumnisse seiner Kund:innen haften soll. Hertz könne sich das Geld ja von den Kund:innen zurückholen, sagte ein Richter. Auch dass bei andauernder Nicht-Zahlung der 20-fache Mautbetrag verlangt werde, sei voraussichtlich nicht zu beanstanden. Das Urteil soll am 28. September verkündet werden, so spiegel.de.

OLG Karlsruhe zu Vergabe und Datenschutz: Deutsche Behörden dürfen öffentliche Aufträge auch an Tochtergesellschaften von US-amerikanischen Cloud-Dienste-Anbietern (wie Amazon Web Services) vergeben, wenn diese zusichern, die Daten in Deutschland zu verarbeiten. Das entschied das Oberlandesgericht Karlsruhe, wie die FAZ (Corinna Budras) berichtet. Das OLG hob damit eine anders lautende Entscheidung der Vergabekammer Baden-Württemberg auf, die ein latentes Risiko sah, dass US-Behörden auf die Daten zugreifen. 

VGH Bayern zu Kreuzen in Behörden: Rechtsprofessor Alexander Tischbirek krisiert auf dem Verfassungsblog die jetzt veröffentlichten Urteilsgründe des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zum so genannten Kreuzerlass. Der VGH, der eine Verletzung der Neutralitätspflicht, aber keine Verletzung der Religionsfreiheit feststellte, sei einem "eindimensionalen, freiheitsrechtlichen Verständnis des Religionsrechts verhaftet", während die staatliche Neutralität doch "zuvörderst ein Gleichbehandlungsgebot" sei. Der Autor hofft, dass das Bundesverfassungsgericht auch Einzelpersonen eine Klagebefugnis zur Rüge von Neutralitätsverletzungen einräumen wird. 

LG Berlin - Ehrenmord an Maryam H.: Kurz vor Ende des Prozesses gegen zwei afghanische Brüder, die ihre Schwester getötet haben sollen, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte, hat der ältere Bruder, Yousuf H., ein Geständnis abgelegt. Er habe Maryam H. versehentlich bei einem Streit getötet. Er sei in Wut geraten, weil sie den gemeinsamen Eltern nicht bei der Flucht aus Afghanistan helfen wollte. Er habe seine Schwester nicht töten wollen. Sein jüngerer Bruder, sei während des Streits nicht im Raum gewesen. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet. 

LG Frankfurt/M. - Kinderporno-Plattform "Boystown": In der kommenden Woche beginnt am Landgericht Frankfurt/M. der Prozess gegen vier Männer, die die Kinderporno-Plattform "Boystown" betrieben haben sollen. Ihnen wird Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und die Verbreitung von Kinderpornografie vorgeworfen. Einer der Angeklagten hat eine Lebensbeichte abgelegt. Die Zeit (Holger Stark) beschreibt die Täter. 

ArbG Bonn - Kündigung wegen Weigerung zu gendern: Ein Kündigungsprozess vor derm Arbeitsgericht Bonn ist mit einem Vergleich geendet. Klaus Roggenthin, der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S), hatte gegen seine fristlose Kündigung geklagt. Nach seiner Darstellung wurde die Kündigung durch seine Weigerung ausgelöst, in seiner schriftlichen Kommunikation zu gendern, wie es der Vorstand des Vereins vorgegeben hatte. Der Verein behauptete vor Gericht, dass andere Gründe zur Kündigung geführt hatten. Da die BAG-S weniger als elf Mitarbeiter beschäftigt, gilt das Kündigungsschutzgesetz nicht. Das ArbG Bonn riet Roggenthin daher zu einem Vergleich, den dieser annahm. Er bekommt nun seinen Lohn seit Februar bis Ende September nachbezahlt. Es berichten Welt (Constantin von Lijnden) und bild.de (Dimitri Soibel/Mario Jüngling).

Klimaschutz vor Gericht: Die taz (Christian Rath) beschreibt die Entwicklung von Klimaschutzklagen gegen Unternehmen. Anlass sind wegweisende Verhandlungstermine am Landgericht Detmold am morgigen Freitag und am Landgericht Stuttgart am Dienstag. Dann wollen die Gerichte verkünden, wie es mit Klagen gegen VW und Mercedes-Benz weitergeht. 

GBA - russische Kriegsverbrechen: focus.de (Eugen Theise) gibt das Wissen einer nach Deutschland geflüchteten Ukrainerin über russische Kriegsverbrechen in Butscha wieder. Die Frau habe aber noch nicht bei deutschen Behörden ausgesagt, obwohl der Generalbundesanwalt Aussagen von ukrainischen Flüchtlingen sammelt. Die Strafverfolgungsbehörden hätten bereits Hunderte von Aussagen ukrainischer Flüchtlinge erhalten, die auf Kriegsverbrechen hinweisen.

StA Hannover - MAD-Einsatz: Die Staatsanwaltschaft Hannover prüft Ermittlungen, nachdem sich ein Bundeswehr-Feldjäger Anfang August selbst angezeigt hat. Der Feldjäger hatte von einem Einsatz gegen vermeintlich rechtsextreme Strukturen bei der Bundeswehr berichtet, an dem er beteiligt war. Einen der Betroffenen kannte er aus seiner Kompanie. Als er remonstrierte, dass er den Einsatz gegen diesen Soldaten unverhältnismäßig finde, habe ein Beamter des Militärischen Abschirmdienstes gesagt, dass der Betroffene "kein Dreck am Stecken" habe, man wolle aber "gezielt unter Druck setzen und vor den Bug schießen, um über ihn an Informationen zu den anderen Personalien zu gelangen". spiegel.de und bild.de (Mirko Voltmer/Nikolaus Haarbusch) berichten.

Hessische Justiz - Einstellungskriterien: Hessen hat die Noten-Anforderungen für die Einstellung als Richter:in oder Staatsanwält:in leicht abgesenkt. Statt insgesamt 16 Punkten in beiden Staatsexamen sind jetzt 15 Punkte erforderlich (davon 7,5 Punkte im 2. Examen). Dies hat der Richterwahlausschuss des Landes auf Vorschlag von Justizminister Roman Poseck (CDU) beschlossen, um weiteren Personalmangel zu verhindern. Die FAZ (Anna-Sophia Lang) und LTO berichten. 

Recht in der Welt

EuGH/Polen - Corona-Zuschüsse und Justizreform: Der niederländische Beamte Tom Boekestein befasst sich auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) mit der Klage von vier europäischen Richterverbänden gegen die grundsätzliche Freigabe von EU-Geldern aus dem Corona-Aufbaufonds an Polen. Der Autor befürchtet, dass die Klage unzulässig sein könnte; das so genannte Plaumann-Kriterium, wonach Kläger direkt und individuell betroffen sein müssen, sei hier wohl nicht erfüllt. Der Autor plädiert dafür, die Anforderung an die Klagebefugnis zu lockern, wenn es um die Verteidigung des europäischen Rechtsstaates gehe. 

EuG - Frontex: Der Hochschuldozent Salvo Nicolosi schildert auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) die Probleme, rechtswidriges Verhalten der EU-Grenzschutzagentur Frontex vor EU-Gerichte zu bringen. Bei NGOs fehle die individuelle Betroffenheit. Migranten könnten nicht klagen, weil zB. ein illegaler Pushback ein Realakt ist und keine Regelung darstellt. Der Autor hält eine Reform für erforderlich, die Rechtsschutz ermöglicht. 

Spanien - Online-Stalker: Ein Online-Stalker ist in Spanien zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt worden, weil sein 17 Jahre altes Opfer Suizid beging. Das Strafmaß wurde nun vom Landgericht in Castellón de la Plana bekanntgegeben. Zudem muss der Mann den Angehörigen des Jugendlichen eine Entschädigung von insgesamt 173.000 Euro zahlen. Der Verurteilte hatte seinem Opfer Ende 2016 via Whatsapp in weniger als drei Stunden mindestens 119 Nachrichten mit einschüchterndem und bedrohlichem Inhalt geschickt und auch nicht aufgehört, als das Opfer bereits von Suizid sprach. spiegel.de berichtet.

Italien - Giorgio Moroder: Die Zeit (Ingo Malcher) berichtet über einen Zivilprozess in Bozen gegen den italienischen Popproduzenten Giorgio Moroder. Ausgangspunkt ist das kriminelle Vorgehen eines Kundenberaters der Privatbank Hottinger. Er plünderte die Konten der Bankkunden und finanzierte damit den eigenen teuren Lebenswandel, überwies aber auch Geld auf die Konten von Geschäftspartnern, u.a. von Giorgio Moroder. Eines der Opfer war ein deutscher Startup-Unternehmer, von dessen Konten der Kundenberate rund zwei Millionen Euro an Moroder überwies. Moroder hat das Geld bisher nicht zurückgegeben, weil er es gutgläubig ausgegeben habe.  Der deutsche Startup-Unternehmer hat Moroder deshalb verklagt. 

USA - Julian Reichelt: Das Hbl (Sönke Iversen) berichtet vertieft über die Klage einer ehemaligen Bild-Volontärin auf Schadensersatz wegen sexueller Belästigung durch den damaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt. Dieser habe ihre Gefühle ausgenutzt und sie als Lieferantin von "Sex on demand" angesehen. Im Verlag habe es Gerüchte über sie gegeben. Sie sei daraufhin an Schuppenflechte und Depressionen erkrankt. Die Klage hat sie in Kalifornien eingereicht, weil sie zuletzt für Bild aus San Francisco berichtete. Klagegegner ist die Axel Springer Services-Gesellschaft mit Sitz im Bundesstaat Delaware.

Sonstiges

Rechtsextreme Anwält:innen: Im zweiten und letzten Teil seines Beitrags analysiert der Jurist und Journalist Joachim Wagner auf LTO eine eigene Umfrage unter den Rechtsanwaltskammern zum Umgang mit rechtsextremen AnwältInnen. Bisher gebe es kaum Zulassungs-Widerrufe und andere Sanktionen. Grund sei auch eine liberale Rechtslage, die aus Zeiten stamme, als von Sanktionen vor allem linke Anwält:innen betroffen gewesen wäre. Der Autor regt nun eine Verschärfung des anwaltlichen Berufsrechts an, damit rechtsextremistische Anwälte "ihre Privilegien und rechtsstaatlichen Instrumente nicht nutzen können, um den Rechtsstaat abzuschaffen."

Das Letzte zum Schluss

Berge von Lego: Drei große Jungs im Alter von jeweils 22 Jahren wurden in England zu 18 Wochen Haft auf Bewährung verurteilt, weil sie Lego-Steine im Wert von 4.600 Euro gestohlen hatten. Ihr Vorgehen war denkbar einfach. Sie gingen in den Laden, stopfen große Einkauftaschen mit Legosteinen voll und verließen den Laden wieder - ohne zu bezahlen. spiegel.de berichtet.

 

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LTO/chr

(Hinweis für Journalist:innen)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 8. September 2022: . In: Legal Tribune Online, 08.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49560 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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