Die Ampel stellt Eckpunkte zur Reform des Bundestags-Wahlrechts vor. Nach vorläufiger Einschätzung des LG Oldenburg hatten viele Vorgesetzte von Niels Högel keinen Tötungsvorsatz. Der KZ-Wachmann aus Sachsenhausen kündigte Revision an.
Thema des Tages
Bundestags-Wahlrecht: Die Ampelkoalition hat ein Eckpunktepapier zur Verkleinerung des Bundestags erarbeitet und will die darin vorgestellte Wahlrechtsreform an diesem Dienstag in den Fraktionssitzungen von SPD, Grünen und FDP beschließen. Zur Verkleinerung des Parlaments von 736 auf 598 Sitze soll die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten einer Partei in Höhe des Zweitstimmenergebnisses der Partei gedeckelt werden. Dann käme es nicht mehr zu Überhangmandaten, die gegenwärtig zudem ausgeglichen werden müssen. Wenn es künftig mehr Wahlkreissieger:innen gibt als den Parteien nach dem Zweitstimmenergebnis Mandate zustehen, dann soll das individuelle Ergebnis darüber entscheiden, welche Abgeordneten kein Mandat erhalten. Außerdem sollen die Wähler:innen mit einer sogenannten Ersatzstimme entscheiden, wer in derartigen Wahlkreisen dann ein Mandat erhält. In der Wahlrechtskommission des Bundestags, die über den Reformvorschlag verhandeln wird, ist insbesondere mit Widerstand der CDU/CSU zu rechnen. Ein ersten Gesetzentwurf soll im September vorliegen. Es berichten LTO (Hasso Suliak) und zeit.de.
Rechtspolitik
§ 218 StGB: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) will nun auch das Verbot der Abtreibung nach § 218 StGB angehen. Schwangerschaftsabbrüche gehörten nicht ins Strafgesetzbuch, sagte sie laut FAZ.
Daniel Deckers (FAZ) kommentiert, dass den Ampelparteien jedes Mittel recht sei, um Schwangerschaftsabbrüche zu erleichtern. Das sei auch nicht verwerflich, solange sich der Gesetzgeber an die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts gebunden wisse, "dass eine reine Fristenlösung mit der Verpflichtung des Staates zum Schutz des Lebensrechts des Ungeborenen nicht in Einklang zu bringen sei."
Digitale Dienste/Digitale Märkte: In einem ausführlichen Gastbeitrag in der FAZ schlagen Rechtsprofessor Karl-E- Hain und die Abgeordnete Tabea Rößner (Grüne) vor, die im Rahmen der Umsetzung des Digital Services Act (DSA) zu regelnden Kompetenzen bei den zurzeit schon mit Regulierungsaufgaben beauftragten Behörden anzusiedeln. Die Datenschutzbeauftragten und die Landesmedienanstalten seien schon unabhängig, die Bundesnetzagentur und das Bundesamt für Justiz müssten noch unabhängig werden. Zum Digital Services Coordinator (DSC) solle die Behörde bestimmt werden, die am meisten DSA-Regulierungsfälle bearbeiten muss.
Katastrophenschutz: Die FAZ (Helene Bubrowski) berichtet über ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zur rechtlichen Machbarkeit einer Stärkung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) hin zu einer Bundeszentralstelle für den Katastrophenschutz. Bisher sind für den Katastrophenschutz im Wesentlichen die Länder zuständig, während sich die Kompetenzen des BBK auf den Spannungs- und Verteidigungsfall beschränken. Das Gutachten stellt im Ergebnis fest, dass eine Grundgesetzänderung erforderlich wäre und der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über den Katastrophenschutz erhalten müsste.
Transsexuelle: Jost Müller-Neuhof (Tsp) kommentiert die Diskussion um die Ampel-Eckpunkte für ein Selbstbestimmungsgesetz, das es trans- und intersexuellen sowie nicht-binären Menschen erleichtern soll, ihren Namen und ihr Geschlecht zu ändern. Genauso wie bei der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Möglichkeit, ein drittes Geschlecht im Personenstandsregister eintragen zu lassen, werden wohl nur wenige Personen hiervon Gebrauch machen. Bei Jugendlichen, sei es gut, wenn Änderungen nur auf Papier und nicht am Körper vorgenommen werden können.
Justiz
LG Oldenburg – Vorgesetzte von Niels Högel: Das Landgericht Oldenburg hat eine vorläufige Einschätzung zu der Frage abgegeben, ob sich die Vorgesetzten des Serienmörders Niels Högel wegen Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht haben. Högel war wegen Mordes an 85 Patient:innen verurteilt worden. Bei vier Angeklagten aus dem Klinikum Oldenburg sieht das Gericht nicht genügend Anhaltspunkte für einen bedingten Vorsatz, auch wenn offenbar ein "beträchtliches Misstrauen" aufgekommen sei. Hinsichtlich dreier Angeklagter aus dem Klinikum Delmenhorst äußerte sich das Gericht zurückhaltender, weil die Beweisaufnahme noch nicht hinreichend fortgeschritten sei. Doch auch hier klangen Zweifel an, ob die Grenze von der bloßen Fahrlässigkeit zum bedingtem Vorsatz überschritten ist. Es berichten SZ (Annette Ramelsberger) und FAZ (Reinhard Bingener).
BGH – KZ-Wachmann Sachsenhausen: Nachdem der ehemalige Wachmann des KZ Sachsenhausen vergangene Woche vom Landgericht Neuruppin wegen Beihilfe zu Mord an mehr als 3.500 Lagerhäftlingen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, hat der 101-Jährige nun angekündigt, Revision beim Bundesgerichthof einzulegen. Für die Begründung der Revision hat er einen Monat nach Zustellung des schriftlichen Urteils Zeit. Das Urteil muss fristgemäß bis zum 27. September begründet werden. Es berichten SZ, LTO und zeit.de.
BGH zu Gebäudedämmung: Nun berichtet auch die Welt (Michael Fabricius) über ein Urteil des Bundesgerichtshofs von letztem Freitag, wonach ein Berliner Gesetz nicht gegen das Grundrecht auf Eigentum verstößt, das es erlaubt, wenn eine nachträgliche Wärmedämmung bis zu 25 Zentimeter auf das Nachbargrundstück ragt. Die Höhergewichtung des Klimaschutzes gegenüber dem Eigentumsrecht werde künftig als Prinzip wohl immer häufiger zum Tragen kommen.
VGH BaWü zu Corona-Lockdown: Nachdem in Baden-Württemberg im ersten Corona-Lockdown im April 2020 viele Geschäfte schließen mussten und Eilverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof in Mannheim erfolglos blieben, entschied der VGH nun in drei Hauptverfahren, dass die angeordneten Betriebsschließungen zwischenzeitlich formell rechtswidrig waren. Die jeweilige Notverkündung der Verordnung im Internet habe den Anforderungen an eine wirksame Ausfertigung nicht genügt. Materiellrechtlich stellte der VGH jedoch fest, dass die Schließung auf einer ausreichenden Rechtsgrundlage beruhte und die Inhaber:innen von Geschäften nicht in ihren Grundrechten verletzte. LTO berichtet.
OLG Frankfurt/M. – U-Haft-Ende wg. überlanger Verfahren: Nun berichtet auch LTO über Entscheidungen des Oberlandesgerichts Frankfurt/M., das als Folge von Personalmangel bei den Landgerichten die Entlassung von sechs Gefangenen aus der Untersuchungshaft anordnete. Es handele sich hier um ein strukturelles Problem. So wurden im vergangenen Jahr bundesweit mindestens 66 Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen, weil ihre Verfahren zu lange dauerten.
LAG Berlin-BB zu 2G-Plus in Kliniken: Nach einem Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom Freitag haben Beschäftigte einer Klinik keinen Anspruch auf Teilnahme an einem Sommerfest, wenn sie der 2G-Plus-Vorgabe nicht nachkommen. Insbesondere ergebe sich kein Anspruch aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, weil der beschränkte Zugang schon sachlich durch die Wertung des § 20 a Infektionsschutzgesetz (IfSG) gerechtfertigt sei, wonach für Beschäftigte in Kliniken besondere Schutzmaßnahmen gelten. LTO berichtet.
Einheitliches Patentgericht: Im Interview mit der FAZ (Katja Gelinsky) sieht die Präsidentin des Bundespatentgerichts, Regina Hock, dem Arbeitsbeginn des europäischen Einheitlichen Patentgerichts gelassen entgegen. Für Hock geht es nicht um eine Konkurrenz der Gerichtssysteme, sondern um eine Ergänzung. Aber die Unternehmen würden "vermutlich nicht gleich mit dem Tafelsilber" zum Einheitlichen Patentgericht gehen.
Recht in der Welt
EuGH/Litauen – Inhaftierung von Flüchtlingen: Wie die taz (Reinhard Wolff) berichtet, will sich die litauische Regierung über den Europäischen Gerichtshof hinwegsetzen und ein vom EuGH vorige Woche für europarechtswidrig erklärtes Gesetz zur Internierung von "illegalen Migranten" nicht aufheben oder ändern. Litauen habe das Gesetz mit Brüssel koordiniert.
USA – Johnny Depp und Amber Heard: Nach dem weitgehend verlorenen Verleumdungs-Prozess gegen ihren Ex-Ehemann Johnny Depp geht die US-Schauspielerin Amber Heard gegen das Urteil der Jury vor. Heards Anwält:innen beanstanden insbesondere, dass ein Mitglieds der Jury nicht durch das Gericht geprüft worden sei: "Es ist unklar, ob der Geschworene Nr. 15 tatsächlich jemals zum Dienst als Geschworener vorgeladen wurde oder für die Teilnahme am Gremium qualifiziert war." Es berichten SZ, LTO, spiegel.de und bild.de (Alexander Friedrich).
USA – Klimaschutz: Nachdem der US-Supreme Court in der vergangenen Woche den Handlungsspielraum der Umweltschutzbehörde EPA begrenzt hat, arbeiten die wissenschaftlichen Mitarbeiter Jonas Plebuch und Simon Pielhoff auf dem Verfassungsblog heraus, dass das Problem nicht alleine bei der konservativen Mehrheit im Gericht liege. Es gebe viele "versteinerte Gesetze", deren Anpassung im US-Kongress blockiert ist, weil die ausreichende Mehrheit fehlt. Dies entspreche auch nicht dem Grundgedanke des US-Gründervaters Madison, der den Einzelnen vor Gesetzen der Mehrheit schützen wollte. Vielmehr gebe es hier Gesetze, die aber nicht mehr angepasst werden können.
Juristische Ausbildung
Jura-Bachelor: Als weitere Stimmen gegen die in der FAZ veröffentlichte Behauptung, dass der Bachelor of Laws (LL.B.) das juristische Staatsexamen entwerte und ein "Loser-Abschluss" sei, melden sich im FAZ-Einspruch Rechtsprofessorin Katharina Boele-Woelki und Rechtsreferendar Jonathan Schramm von der Bucerius Law School (BLS) zu Wort. An der BLS schreiben 90 Prozent der Studierenden nach der Bachelorprüfung auch noch ein Staatsexamen. Der Bachelor diene vor allem der Entlastung der Studierenden.
Sonstiges
Informationsfreiheit/SMS und Chats: Die Informationsfreiheitsbeauftragten in Deutschland haben festgestellt, dass relevante SMS- und Messenger-Nachrichten von Politiker:innen unter das Informationsfreiheitsgesetz fallen und damit nicht einfach gelöscht werden dürfen. Sie seien genauso als amtliche Information zu werten wie Briefe, Faxe oder E-Mails. netzpolitik.org (Alexander Fanta) berichtet.
BKartA – VW und Bosch: Das Bundeskartellamt (BKartA) hat keine Bedenken hinsichtlich der gemeinsamen Entwicklung einer Software auf dem Gebiet des automatisierten Fahrens durch VW und Bosch und wird daher kein Verfahren einleiten. Die Kooperation diene der Forschung und Entwicklung (F&E) und sei daher an den Maßstäben der EU-Gruppenfreistellungsverordnung zu messen. FAZ und LTO berichten.
BKartA – Google Maps: Das Bundeskartellamt macht von seinen neuen Befugnissen Gebrauch und hat ein Verfahren gegen Google eingeleitet, um mögliche Wettbewerbsbeschränkungen zulasten alternativer Kartenanbieter auf der Google-Maps-Plattform zu überprüfen. Die Beschränkung könnte darin liegen, dass Google es anderen Anbietern erschwert, ihr Kartensortiment mit dem von Google zu kombinieren. Das Hbl berichtet.
Rechtsgeschichte – Mord an Hatun Sürücü: Die FAZ (Stephan Klenner) rezensiert die Dissertation von Enis Tiz zum Fall Hatun Sürücü, die 2005 Opfer eines Ehrenmordes durch ihren Bruder wurde. Der Fall sei zwar an und für sich spannend, aber Tiz habe sich mit der Themenwahl keinen Gefallen getan, weil die strafrechtliche Würdigung eines Ehrenmords nicht kompliziert sei und von der Rechtsprechung seit Jahren als Mord aus niedrigen Beweggründen qualifiziert werde.
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LTO/tr
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Die juristische Presseschau vom 5. Juli 2022: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48933 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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