Im "NSU 2.0"-Prozess sagten Betroffene der Drohschreiben aus. Käufer:innen eines manipulierten VW können teilweise trotz Verjährung einen Restschadensersatz verlangen. Verbände legten Statistik zur Suizidhilfe vor.
Thema des Tages
LG Frankfurt/M. – "NSU 2.0"-Drohschreiben: Vor dem Landgericht Frankfurt/M. wurden die ersten von insgesamt 24 Geschädigten, die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz und der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, angehört und befragt. Daimagüler habe in den letzten zehn Jahren 1500 Schreiben mit beleidigenden Inhalten erhalten, doch an das "NSU 2.0"-Schreiben erinnere er sich, da darin das KZ Stutthof erwähnt wurde und er häufig Nebenklagevertreter in Prozessen gegen ehemalige KZ-Mitarbeiter gewesen sei. Auch Seda Basay-Yildiz habe direkt erkannt, dass es sich im Vergleich zu anderen Droh-Briefen um eine "andere Qualität" handle. Sie habe zum ersten Mal Anzeige erstattet, als der Verfasser den Namen ihrer Tochter und ihre Meldeanschrift nannte. Auch später seien immer mehr persönliche Daten veröffentlicht worden. "Dass mich Leute töten wollen, kommt öfter vor, aber nicht, dass sie meine Adresse haben", so Basay-Yildiz. Die 46-Jährige glaubte, die Gefahr sei "real", sie habe sich aus Angst um ihre Familie auch in beruflicher Hinsicht eingeschränkt. Es berichten SZ (Annette Ramelsberger), FAZ (Anna-Sophia Lang) und taz (Konrad Litschko).
Rechtspolitik
Suizidhilfe: Deutsche Sterbehilfe-Organisationen haben im Jahr 2021 in fast 350 Fällen Suizide begleitet oder eine Assistenz für die Selbsttötung vermittelt. Allein der Verein "Sterbehilfe Deutschland" des Hamburger Ex-Justizsenators Roger Kusch hat nach eigenen Angaben 129 Suizidbeihilfen durchgeführt. Geholfen wurde dabei auch mehreren Sterbewilligen ohne gravierende Krankheiten. 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht § 217 StGB ("geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung") als verfassungswidrig und nichtig beanstandet. Zwar hatte das Gericht eine neue Regulierung durch den Gesetzgeber für möglich erklärt, zu dieser ist es bislang jedoch nicht gekommen. Es berichten SZ, spiegel.de (Dietmar Hipp) und taz (Barbara Dribbusch).
Mindestlohn: Die Arbeitgeber-Bundesvereinigung (BDA) stellt die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzentwurfs in Frage, mit dem der Mindestlohn zum 1. Oktober auf zwölf Euro erhöht werden soll, und veröffentlichte ein entsprechendes Gutachten von Rechtsprofessor Frank Schorkopf. Er kritisiert, der Gesetzgeber verletze das Vertrauen der Arbeitgeber, dass der Mindestlohn nur alle zwei Jahre und nur auf Empfehlung der von den Tarifpartnern getragenen Mindestlohnkomission erhöht werden soll. Für die verfrühte Erhöhung fehle die Verhältnismäßigkeitsprüfung, außerdem fehle eine Übergangsregelung. BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter warnte vor einem "grundlegenden Angriff auf die Tarifautonomie". Der Gesetzentwurf soll am morgigen Mittwoch im Kabinett beschlossen werden. Es berichten FAZ (Manfred Schäfers), SZ (Benedikt Peters) und Hbl (Frank Specht).
Lieferketten und Menschenrechte: Die EU-Kommission veröffentlicht an diesem Mittwoch ihren Entwurf für eine EU-Lieferkettenrichtlinie. Die Bestimmungen sollen weit über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgehen. Es berichtet das Hbl (Christoph Schlautmann).
Justiz
BGH zu Dieselskandal/VW: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass Käufer:innen eines von Abgasmanipulationen betroffenen VW-Neuwagens trotz Verjährung des Schadensersatzanspruchs noch einen Anspruch auf Restschadensersatz nach § 852 S. 1 BGB zustehen kann, denn VW habe sich bösgläubig bereichert. Wer Restschadensersatz verlange, müsse jedoch im Gegenzug das Auto zurückgeben und sich die bereits gefahrenen Kilometer anrechnen lassen. Dem Gericht zufolge steht dem Anspruch nach § 852 S. 1 BGB nicht entgegen, dass das Unternehmen ohne Schwierigkeiten auch vor Ablauf der Verjährung hätte in Anspruch genommen werden können. Es berichten FAZ (Katja Gelinsky), LTO und spiegel.de.
LSG Berlin-BB zu Sturz beim Akustiker: Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat entschieden, dass persönliche Gegenstände wie Brillen und Hörgeräte, auch wenn sie für die Arbeit benötigt werden, keine Arbeitsgeräte darstellen. Ein Sturz auf dem Weg zum Akustiker oder Optiker für eine (Ersatz-)Beschaffung stelle demnach keinen Arbeitsunfall dar und der Betroffene werde nicht von der gesetzlichen Unfallversicherung geschützt. Dies gelte jedenfalls solange solche Gegenstände nicht nahezu ausschließlich beruflich, sondern auch privat genutzt werden. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass der Versicherungsschutz beliebig in den privaten Bereich ausgedehnt werde. Es berichtet LTO.
LSG Nds-Bremen zu Berufskrankheit wegen Hubschrauberlärm: Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat entschieden, dass eine monatelange Tätigkeit im Groundhandling von Hubschraubern selbst bei erhöhter Lärmbelastung nicht zur Anerkennung eines beruflichen Hörschadens ausreicht. Dem Gericht zufolge müsse eine Belastung von über 85 db(A) über mehrere Jahre oder Jahrzehnte bestehen, um bei einem daraus resultierenden Hörschaden von einer Berufskrankheit sprechen zu können. Es berichtet LTO.
LG Frankfurt/M. zu Stromkosten: Nun berichtet auch die taz (Bernward Janzing) über die Entscheidung des Landgerichts Frankfurt/M., dass Energieversorger von Neukunden in der Grund- und Ersatzversorgung keine höheren Preise verlangen dürfen als von Bestandskunden.
LG Frankfurt/M. zu Insidergeschäft: Nun berichtet auch LTO über die Verurteilung eines Wertpapierhändler zu drei Jahren und acht Monaten Haft, nachdem dieser mittels illegal erlangter Informationen an der Börse Kursgewinne in Höhe von 6,7 Millionen Euro erzielte.
LG Berlin – Abou-Chaker/Bushido: Im Prozess gegen Arafat Abou-Chaker vor dem Landgericht Berlin haben Bushido und sein Anwalt Informationen hinsichtlich eines schwarzen Mercedes GLS 350d gegeben, die bei der Aufklärung des Dresdner Juwelenraubes helfen könnten. Die in diesem Prozess Angeklagten aus dem Rammo-Clan seien mit dem besagten Auto am 17. September 2020 in Prag von der Polizei angehalten worden. Die im Mercedes enthaltenen GPS-Datensätze könnten Bushido im Prozess gegen Abou-Chaker entlasten. Es berichtet spiegel.de (Wiebke Ramm).
SG Karlsruhe zu Cannabis als Medizin: Das Sozialgericht Karlsruhe hat entschieden, dass Kassenpatienten:innen Cannabis-Arzneimittel nur ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen bekommen können. Wie § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch V (SGB V) regele, komme die Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung erst in Betracht, wenn geeignete allgemein anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethoden nicht mehr zur Verfügung stehen. Es berichtet LTO.
Schmerzensgeld: LTO (Renate Mikus) beschreibt die Entwicklung des deutschen Schmerzensgeldrechts. Dieses sei bei Gesetzgebung und Rechtsprechung vom Ziel geprägt, die Versichertengemeinschaft und den Staat zu schonen. Deshalb sind die Voraussetzungen strenger und die zugesprochenen Summen niedriger als in Nachbarstaaten. Als Begründung werde oft auch angeführt, dass Trauer und ähnlich Gefühle ohnehin nicht in Geld auszugleichen seien.
Cum-Ex-Verfahren: NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) kündigt im Interview mit der FAZ (Marcus Jung/Reiner Burger) neue Enthüllungen und Verfahren zum "industriellen Steuerbetrug" an. Cum-Ex sei nur die Spitze des Eisbergs. Die neuen Schlagworte lauten "Delta One-Strategie" und "Tax Trade", mehr dürfe er derzeit nicht sagen. Doch der Staat nehme die Herausforderung an, so Biesenbach. Für Cum-Ex-Verfahren habe er in seiner Amtszeit die Zahl der Staatsanwält:innen von drei auf 29 erhöht. Bei so komplexen Verfahren müssen Staatsanwält:innen laut Biesenbach ohne Zeitdruck ermitteln können.
Klagen gegen Strom-Discounter: faz.net (Katja Gelinsky) gibt einen Überblick über die Klagemöglichkeiten, die Verbraucher:innen gegen Strom-Discounter haben, wenn ihnen gekündigt wurde und sie deshalb zum teuren Grundversorger wechseln mussten.
Recht in der Welt
Türkei – Osman Kavala: Ein Istanbuler Gericht hat entschieden, dass der türkische Mäzen Osman Kavala im Gefängnis bleiben muss, obwohl der Europarat wegen Kavalas fortgesetzter Haft im Dezember ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei eingeleitet hat. Der nächste Verhandlungstermin im Strafverfahren gegen Kavala wegen Destabilisierung des Landes ist für den 21. März angesetzt. Es schreiben FAZ (Karen Krüger) und spiegel.de.
Österreich – Parteifinanzen: Wie spiegel.de und SZ (Stephan Löwenstein) berichten, hat die österreichische Regierungskoalition aus ÖVP und Grünen einen Gesetzentwurf zur Transparenz der Parteifinanzen vorgelegt. Der Entwurf sieht verschärfte Veröffentlichungspflichten bei Spenden, die Einbeziehung parteinaher Organisationen und bessere Kontrollrechte des Rechnungshofs vor.
IGH – Myanmar: Wie SZ (Arne Perras) und taz (Sven Hansen) berichten, steht im Völkermordverfahren gegen Myanmar die Frage im Raum, wer den verklagten Staat vor Gericht vertreten darf. Aung San Suu Kyi, die zuvor die Vertretung ihres Landes übernahm, wurde durch den von der Junta bestimmten Vertreter Ko Ko Hlaing ersetzt. Dieser ließ verlauten, dass er daran zweifle, ob das Gericht zuständig sei. Außerdem sei Gambia zu einer Klage nicht berechtigt, weil es selbst nicht betroffen sei.
WTO – China: Wie LTO berichtet, hat die EU bei der Welthandelsorganisation (WTO) ein Verfahren gegen China eingeleitet. China schüchtere europäische Unternehmen mit Prozessführungsverboten bei Patentverletzungen ein und drohe mit Geldstrafen. Es handelt sich dabei um das zweite WTO-Verfahren gegen China innerhalb weniger Wochen. Bereits Ende Januar hatte die EU Schritte gegen China eingeleitet. Damals ging es um Handelsbeschränkungen, die Peking gegen Litauen erlassen hatte.
Sonstiges
Meinungsfreiheit: Nur 45 Prozent der Bundesbürger glauben, in der Öffentlichkeit ihre subjektiven Ansichten frei äußern zu können. Dagegen hat der Prozentsatz derjenigen, die das Gegenteil behaupten, einen historischen Höchststand erreicht und liegt bei 43 Prozent. Dies ergab laut FAZ (Marcus Jung) der Rechtsreport 2022 der Roland Rechtsschutzversicherung. Viele Befragte fürchten vor allem gesellschaftliche Sanktionen, die folgen könnten, wenn gegen Regeln der "political correctness" verstoßen werde.
Ziviler Ungehorsam: Angesichts der Autobahnsitzblockaden von Klimaaktivisten analysiert der Philosophieprofessor Robin Celikates in einem Interview mit der taz (Ruth Lang Fuentes) die Handlungsform des "zivilen Ungehorsams". Er habe im Unterschied zu legalen Formen des Protests einen absichtlich rechtswidrigen Charakter. Und er sei nicht bloß symbolisch, sondern greife "auf eine disruptive Art und Weise" in die tägliche Ordnung ein. Er soll Aufmerksamkeit generieren und die Dringlichkeit des Anliegens unterstreichen. Die Akteure berufen sich auf anerkannte moralische, politische, zum Teil rechtliche Prinzipien und wollen bestimmte Veränderungen erreichen. Im Unterschied zu einem militanten Aufstand seien die Aktionsformen "ziemlich gemäßigt".
Gabriel Bach: In einem Nachruf erinnert nun auch die taz (Klaus Hillenbrand) an Gabriel Bach, der als Kind vor den Nazis floh und 1961 stellvertretender Generalstaatsanwalt im Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann war. Er starb am vergangenen Freitag mit 94 Jahren.
Das Letzte zum Schluss
Baden-Württembergs Löwe als Souvenir: Eine Frau hat mit einer Nagelschere in einer Regionalbahn zehn Löwendarstellungen des baden-württembergischen Landeswappens aus den Sitzbezügen geschnitten. Die 53-Jährige begründete auf Nachfrage der Polizei ihre Handlung damit, dass man die Stoffstücke "ausgezeichnet als Hosenflicken oder für die nahende Fasnet" verwenden könne. Sie fände "das Löwenmuster so schön" und wollte ein "Souvenir" haben. Die Polizei ermittelt nun wegen Sachbeschädigung gegen sie. Es berichtet spiegel.de.
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lto/ok
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Die juristische Presseschau vom 22. Februar 2022: . In: Legal Tribune Online, 22.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47605 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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