Die juristische Presseschau vom 22. November 2022: Reform der Ersatz­f­rei­heits­strafe hakt / Anklage gegen unge­impfte Pfle­gerin / Keine Ermitt­lungen gegen Abbas

22.11.2022

Innenministerin Faeser bremst die Halbierung der Ersatzfreiheitsstrafe. Landgericht  Hildesheim lässt Anklage gegen Pflegerin wegen Corona-Toten zu. Berliner Staatsanwaltschaft sieht keinen Anfangsverdacht gegen Palästinenser-Präsident.

Thema des Tages

Ersatzfreiheitsstrafe: Innenministerin Nancy Faeser (SPD) blockiert in der Ressortabstimmung der Bundesregierung den Referentenentwurf von Justizminister Marco Buschmann (FDP) zur Reform der Ersatzfreiheitsstrafe. Buschmann hatte vorgeschlagen, dass für einen Tagessatz unbezahlter Geldstrafe nur noch ein halber (statt ein ganzer) Tag Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt werden soll, weil Haft ungleich belastender sei als eine Geldstrafe. Faeser argumentierte, dass es bei Ersatzfreiheitsstrafen häufig um Partnerschaftsgewalt gegen Frauen gehe. Außerdem könnten von der Reform auch Reichsbürger profitieren, die Geldstrafen grundsätzlich nicht zahlen, weil sie die Bundesrepublik nicht anerkennen. Das Justizministerium hält die Einwände für wenig überzeugend und wirft Faeser vor, sie "bremse ohne Not" eine wichtige Reform mit "nachgeschobenen" und "immer neuen" Argumenten. Es schreibt die SZ (Constanze von Bullion).

Rechtspolitik 

Geldwäsche/Bargeld: Notarverbände haben am Montag bei der Anhörung im Finanzausschuss des Bundestags Kritik an dem geplanten Barzahlungsverbot für Immobilienkäufe geübt, das im Sanktionsdurchsetzungsgesetz II vorgesehen ist. Nicht das Barzahlungsverbot an sich sei kritisch zu bewerten, sondern dass Bargeldzahlungen keine Erfüllungswirkung mehr haben sollen. So werde ein Risiko der Rückabwicklung geschaffen und zugleich das Vertrauen in das Grundbuch gefährdet. LTO (Hasso Suliak) berichtet.

Energiecharta: Nun berichtet auch die FAZ (Hendrik Kafsack), dass die EU die Reform des Energiecharta-Vertrags scheitern lässt, weil diese nicht wirkungsvoll genug gegen Investorenklagen schütze, mit denen die Energiewende behindert wird. 

Klimaprotest: Christian Rath (taz) teilt die Kritik von Justizminister Marco Buschmann (FDP) an der "letzten Generation". Die Demokratie dürfe sich nicht durch die Drohung erpressen lassen, so lange mit Straßenblockaden fortzufahren, bis die Klimaschutz-Forderungen der Blockierer:innen erfüllt seien. Wenn dieses Vorgehen Erfolg hätte, könnten andere Gruppen mit ähnlichem moralischen Anspruch dem Beispiel folgen, etwa radikale Abtreibungsgegner:innen. 

Justiz

LG Hildesheim – ungeimpfte Pflegekraft: Das Landgericht Hildesheim hat die Anklage gegen eine 45-jährige frühere Mitarbeiterin eines Pflegeheims wegen fahrlässiger Tötung zugelassen. Der ungeimpften Pflegerin wird vorgeworfen, für einen tödlichen Coronaausbruch Anfang Dezember 2021 in der Einrichtung verantwortlich zu sein. Sie soll einen gefälschten Impfpass vorgelegt und das Virus in die Einrichtung getragen haben. Daraufhin seien drei Frauen im Alter von 93, 85 und 80 Jahren verstorben. Der Staatsanwaltschaft dient eine Genomanalyse als zentrales Beweismittel, mit der der Verlauf des Ausbruchs nachgezeichnet werden kann. Der Prozessbeginn wird nicht vor März erwartet. Es handelt sich wohl um einen Präzedenzfall. spiegel.de (Ansgar Siemens/Jean-Pierre Ziegler) berichtet.

StA Berlin – Mahmoud Abbas: Die Berliner Staatsanwaltschaft hat Volksverhetzungs-Ermittlungen gegen den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, abgelehnt. Auf einer Berliner Pressekonferenz im August hatte Abbas von "50 Holocausts" Israels gegen seine Landsleute gesprochen. Ein Anfangsverdacht wegen Verharmlosung des Holocaust sei nicht gegeben, Abbas habe nur einen unpassenden Vergleich gewählt, um vermeintliches Unrecht anzuprangern. Gegen die Ablehnung der Ermittlungen hat ein Anzeigenerstatter Beschwerde erhoben, sodass der Sachverhalt nun der Generalstaatsanwaltschaft zur erneuten Prüfung vorliege. Es berichten FAZ und bild.de (Maximilian Both/Filipp Piatov).

EuGH zu DUH-Klagebefugnis: Auf dem Verfassungsblog befasst sich der Doktorand Till Arne Storzer mit den Konsequenzen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs von Anfang November, dass die Deutsche Umwelthilfe gegen KfZ-Typenzulassungen klagen kann, auch wenn ihr das deutsche Recht eine solche Klagebefugnis bisher verweigerte. Der Autor empfiehlt die Einführung einer Generalklausel im Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG), das bislang die Klagemöglichkeiten enumerativ aufzählte. "Generalklausel statt Enumeration" sei das "Gebot der Stunde".

Auch Katja Gelinsky (FAZ) befasst sich im Wirtschafts-Leitartikel mit Klagerechten von Umweltverbänden. Es gebe in Deutschland nicht zuviel Klagebefugnisse von Umweltverbänden, sondern zuwenig, wie das EuGH-Urteil gezeigt habe. Sie kritisiert zugleich den Gesetzentwurf von Justizminister Buschmann zur Beschleunigung der Gerichtsverfahren bei Infrastrukturvorhaben. Dort müsse der Umwelt- und Naturschutz faktisch zurückstehen.

VG Berlin zu Fahrerlaubnis: Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden, dass ein Autofahrer nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist und ihm die Fahrerlaubnis entzogen werden kann, wenn er im Zeitraum eines Jahres mehr als 150 Parkverstöße begeht. Dem Gericht zufolge seien Bagatellverstöße im Straßenverkehr bei der Prüfung der Fahreignung zwar grundsätzlich unbeachtlich. Etwas anderes ergebe sich hingegen, wenn ein Kraftfahrer offensichtlich nicht "willens" sei, bestimmte Vorschriften im Interesse eines geordneten Verkehrs zu berücksichtigen. Es berichten LTO und spiegel.de.

LG Berlin - "Seebrücke des Bundes": Am Landgericht Berlin wird an diesem Dienstag eine Klage der Bundesregierung gegen Youtube verhandelt. Die Plattform soll sicherstellen, dass das Video "Seebrücke des Bundes" nicht mehr verbreitet  werden kann. In dem Video der Künstlergruppe Peng! aus dem Jahr 2018 verspricht das Bundesinnenministerium scheinbar die Aufnahme aller Flüchtlinge, die im Mittelmeer aus Seenot gerettet werden. Die Bundesregierung verlangt insbesondere, dass das Signet des Innenministeriums in diesem Kontext nicht verwendet werden darf und beruft sich dabei auf das Namensrecht. Google sieht keine Verwechslungsgefahr und beruft sich auf die Kunstfreiheit. Es berichtet die taz (Christian Rath).

LG München I zu Glühwein: Das Landgericht München I hat entschieden, dass ein Brauhaus kein weinhaltiges Getränk, das mit Bockbierwürze versetzt wurde, als Glühwein verkaufen darf. Die Bezeichnung "Wein" werde in unzulässiger Weise verwässert, denn Glühwein dürfe nur Wein, Süßungsmittel und Gewürze enthalten. Es berichten LTO und spiegel.de.

LG München I zu Bezeichnung als "Gollum": Das Landgericht München I sieht in der Bezeichnung einer Person als "Gollum" einen rechtswidrigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Eine Bürgerbewegung muss es daher unterlassen, einen Wissenschaftler in einem Flyer so zu nennen. "Gollum" sei als Figur aus den Fantasyromanen "Der Hobbit" und "Der Herr der Ringe" von J. R. R. Tolkien durch optische und charakterliche Eigenschaften überwiegend negativ konnotiert. Es berichtet LTO.

LG Berlin zu nackten Brüsten im Schwimmbad: Nachdem das Landgericht Berlin die Klage einer Frau auf Schadensersatz nach dem Landes-Antidiskriminierungsgesetz wegen fehlender Diskriminierung abgewiesen hatte, legte die Betroffene gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) nun Berufung ein. Die Maßstäbe des Gesetzes für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung seien nicht angewandt worden, so Leonie Thum, die Rechtsanwältin der Klägerin. Anlass der Entscheidung war das oberkörper-textilfreie Sonnen der Frau auf dem Berliner Wasserspielplatz "Plansche" und die folgende Aufforderung von Sicherheitskräften, den Spielplatz zu verlassen. Es schreibt LTO.

Recht in der Welt

Südafrika – Jakob Zuma: Das Oberste Berufungsgericht in Südafrika hat entschieden, dass dem früheren Staatspräsidenten des Landes Jacob Zuma zu Unrecht eine Haftentlassung aus gesundheitlichen Gründen gewährt worden war. Er war im Juni 2021 zu 15 Monaten Haft wegen Missachtung der Justiz verurteilt worden. Unklar bleibt, ob die Zeit der unrechtmäßigen Entlassung auf die verbleibende Haftzeit angerechnet werden kann und er in die Haftanstalt zurückkehren muss. Die FAZ (Corinna Budras) berichtet.

Türkei – Telefonbetrug: In der Türkei wurden 67 Personen wegen Betruges verurteilt, weil sie sich aus einem türkischen Callcenter heraus als falsche Polizeibeamte ausgaben und damit in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen rund 900.000 Euro einnahmen. Die Gruppierung soll für 16 vollendete und versuchte Taten verantwortlich sein. Es schreibt spiegel.de.

Iran – Verhaftung wegen Protestbewegung: Wie spiegel.de berichtet, wurden im Iran die zwei Schauspielerinnen Hengameh Ghasiani und Katayoun Riahi wegen Anstiftung zu und Unterstützung von Unruhen sowie wegen Kontakts zu oppositionellen Medien festgenommen, weil sie in der Öffentlichkeit ihr Kopftuch im Rahmen der Protesbewegung abgenommen hatten.

USA – Anwesenheit bei Hinrichtung: Die American Civil Liberties Union (ACLU) reicht in den USA im Namen von Khorry Ramey einen Eilantrag beim Bundesgericht in Kansas City ein, mit dem Ziel, dass die 19-Jährige der Hinrichtung ihres Vaters Kevin Johnson beiwohnen darf. Grundsätzlich ist dies im US-Bundestaat Missouri Personen unter 21 Jahren gesetzlich verboten. Ramsey sah sich in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt. Das Beiwohnen sei ein "notwendiger Teil des Trauerprozesses". Ihr Vater sei die "wichtigste Person in ihrem Leben", begründete sie. Johnsons Anwälte haben derweil Berufung gegen seine Hinrichtung eingelegt. Es schreibt spiegel.de.

Juristische Ausbildung

Jahrgangsbeste Referendarin 2022 in Sachsen-Anhalt: LTO Karriere (Pauline Dietrich) spricht mit Johanna Decher, die mit einem "Sehr gut" das zweite Staatsexamen als Jahrgangsbeste 2022 in Sachsen-Anhalt abgeschlossen hat. Sie habe sich wegen der Familienfreundlichkeit für die Justiz entschieden. Die Digitalisierung der Justiz komme langsam voran. Die richtige Examensvorbereitung sei eine Frage des individuellen Lerntyps.

Sonstiges

Klimaproteste/Verfassungsschutz: Die SZ (Ronen Steinke) gibt einen Überblick über den Umgang von Verfassungsschutzbehörden mit Klimaschützer:innen. Die "letzte Generation" werde wegen ihrer systemimmanenten Forderungen nicht beobachtet. Dagegen werde die Gruppe "Ende Gelände", die sich gegen Braunkohleabbau richtet, als extremistisch beeinflusst eingestuft, da sie die "heutige Form des Kapitalismus als Ursache der Klimazerstörung" ablehnt und "Systemwandel statt Klimawandel" fordert. 

Twitter: Auf LTO äußert sich der Rechtsprofessor Wolfgang Schulz zur Freischaltung des zuvor gesperrten Twitter-Accounts des Ex-Präsidenten Donald Trump durch Elon Musk und der kommunikativen Macht von Plattformen. Er bezeichnet das Vorgehen von Twitter-Eigner Musk, der die Twitter-Nutzer darüber abstimmen ließ, ob Trump wieder twittern darf oder nicht, als "scheindemokratisch". Seiner Meinung nach dürfen wichtige Kanäle der Kommunikation nicht der "Willkür einer einzigen Person" ausgesetzt sein. Er kritisiert in diesem Zusammenhang, dass in keinem der europäischen Regelungswerke, auch nicht im Digital Services Act (DSA), eine Vorschrift existiere, die verhindert, dass Musk die kommunikative Macht zu seinen Gunsten missbraucht.

Auch Rechtsprofessor Matthias C. Kettemann kritisiert auf dem Verfassungsblog die improvisierte Nutzerbefragung über die Wiederzulassung Donald Trumps: "So geht digitale Demokratie nicht". Der Autor stellt als Alternative den im Koalitionsvertrag vorgesehenen Aufbau von "Plattformräten" gegenüber.

Das Letzte zum Schluss

Smarter Katzenfutterautomat: Wie spiegel.de (Markus Böhm) meldet, wurde in Gelsenkirchen eine 23-Jährige über ihren Katzenfutterautomat, der mit dem WLAN der Betroffenen verbunden war und eine eingebaute Kamera hatte, ausgespäht. Jemand sei so an Ton- und Videoaufnahmen aus ihrer Wohnung gekommen und habe diese auf Instagram veröffentlicht, erklärte die Frau. Sie erstattete Strafanzeige.


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LTO/ok

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 22. November 2022: . In: Legal Tribune Online, 22.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50239 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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