Die juristische Presseschau vom 31. August 2022: Corona und Rei­se­rück­tritt / Wie weiter mit dem Rechts­staats-Pakt? / Hessen für Jura-Bachelor

31.08.2022

Der BGH  entschied über Stornogebühren für coronabedingt nicht angetretene Urlaubsreisen. Bund und Länder streiten immer noch über den Pakt für den Rechtsstaat. Hessen schlägt Einführung von Jura-Bachelor vor.

Thema des Tages

BGH zu Corona/Reiserücktritt: Der Bundesgerichtshof hatte in drei verschiedenen Konstellationen zu entscheiden, ob Reiseveranstalter Stornogebühren von Kund:innen verlangen können, die 2020 wegen Corona von gebuchten Reisen zurücktraten. Laut § 651h BGB sind Stornogebühren ausgeschlossen, wenn "unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände" am Urlaubsort den Reiserücktritt rechtfertigen. Der BGH entwickelte zur Frage, wann solche Umstände bestehen, keine Faustformel, sondern stellte jeweils auf die Umstände des Einzelfalls ab. So wurde eine 84-Jährige von Stornokosten für eine von ihr abgesagte Donaufahrt entbunden, weil ihr als Angehöriger einer Risikogruppe die Teilnahme an der für den Sommer 2020 geplanten Fahrt nicht zuzumuten gewesen sei und sie die Reise auch bereits im Januar ohne Kenntnis des Risikos gebucht hatte. In einem zweiten Fall wäre am Urlaubsort ein Hotelwechsel erforderlich gewesen, weil das gebuchte Hotel coronabedingt geschlossen war. Dies hielt der BGH für eine zumutbare Komplikation. In einem dritten Fall, bei dem der Veranstalter die Reise nach dem erklärten Rücktritt selbst noch abgesagt hatte, will der BGH zunächst die noch ausstehende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung der Pauschalreise-Richtline abwarten. Es geht dabei um die Frage, ob für die Zulässigkeit von Stornogebühren auch Entwicklungen nach dem Reiserücktritt zu berücksichtigen sind. SZ (Wolfgang Janisch)LTO und tagesschau.de (Gigi Deppe) berichten.

Rechtspolitik

Pakt für den Rechtsstaat: In den Bundesländern wächst der Unmut über die von der Ampel-Koalition in Aussicht gestellte Verstetigung des Paktes für den Rechtsstaat. In einem Brandbrief, der in der nächsten Woche in der Deutschen Richterzeitung erscheinenen wird, beklagen der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU) und die Hamburger Justizenatorin Anna Gallina (Grüne), dass das Bundesjustizministerium seiner "Mitverantwortung für die Finanzierung eines funktionierenden Rechtsstaats nicht nachkommen wolle", so LTO (Hasso Suliak). Das Ministerium hingegen behaupte fortlaufenden Austausch mit den Ländern. Am 16. September soll ein Krisengipfel die Dissonanzen zwischen Bund und Ländern ausräumen.

Ersatzfreiheitsstrafe: Die von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) in Aussicht gestellte Reform des Ersatzfreiheitsstrafensystems nimmt der SWR-RadioReportRecht (Peggy Fiebig/Klaus Hempel) zum Anlass, sich genauer mit der ersatzweisen Haft und der angedachten Reform zu beschäftigen.

Haager Urteilsübereinkommen: Mit der Hinterlegung der Beitrittsurkunden der EU sowie der Ukraine hat das Haager Urteilsübereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen nunmehr zwei Vertragsparteien. Damit tritt das 2019 beschlossene Abkommen zum 1. September 2023 in Kraft, berichtet der ZPO-Blog (Peter Bert). Der Beitritt der EU werde alle EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks binden.

Kapitalmarkt: In einem Eckpunktepapier hat die Bundesregierung den Inhalt eines  geplanten Zukunftsfinanzierungsgesetzes beschrieben. Ziel ist es, den deutschen Kapitalmarkt zu stärken sowie Start-ups, Wachstumsunternehmen und kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) den Zugang zum Kapitalmarkt im Rahmen eines Börsengangs (Initial Public Offering – IPO) und die Aufnahme von Eigenkapital zu erleichtern. Trotz einiger "guter Punkte", so zum Beispiel die Lockerung "des engen aktienrechtlichen Korsetts für die Aufnahme weiteren Eigenkapitals", werde das grundsätzliche Ziel, die Erhöhung der Attraktivität des deutschen Kapitalmarkts, wohl nicht erreicht, so die Einschätzung von Rechtsanwalt Michael Schlitt im FAZ-Einspruch.

Justiz

EuGH/LG Düsseldorf zur Wortmarke "Malle": Wer zum Beispiel Partys unter dem Begriff "Malle" veranstalten und bewerben will, kann dies ab sofort ohne Angst vor Abmahnungen tun. LTO (Tanja Podolski) berichtet, dass der Europäische Gerichtshof durch einen Beschluss von Mitte Juni die Löschung der entsprechenden Wortmarke aus dem Markengerister des Amts der Europäischen Union für geistiges Eigentum veranlasst hat. Bereits zuvor hatte der vormalige Markeninhaber die Verlängerung der deutschen Marke "Malle" unterlassen. Hieraufhin erklärte das Landgericht Düsseldorf das für Deutschland maßgebliche Verfahren für erledigt und erlegte dem vormaligen Markeninhaber die Kosten auf.

EuGH zu Sea-Watch: Anfang August präzisierte der Europäische Gerichtshof auf Vorlage eines italienischen Verwaltungsgerichts die behördlichen Kontrollbefugnisse gegenüber Schiffen, die in der Seenotrettung aktiv sind. Ein ausführlicher Beitrag der Doktorandin Nassim Madjidian auf dem Verfassungsblog beschreibt die Vorgeschichte des Verfahrens, den wesentlichen Inhalt des Urteils sowie dessen Relevanz. Die Autorin charakterisiert es als "kleinen Erfolg," dass nunmehr ein Rechtsforum geschaffen worden sei über "den Umgang europäischer Staaten mit einem zivilen Bündnis, das sich für sichere Flucht- und Migrationswege einsetzt, per Schiff und auch vor Gericht."

BGH – Kundenbewertungen: Ende September wird der Bundesgerichtshof ein wegweisendes Urteil über Online-Bewertungen verkünden, informiert Rechtsanwalt Joachim Jung im Recht und Steuern-Teil der FAZ. Zu entscheiden ist die Bedeutung der von der Plattform ebay verwendeten Vorgabe, dass "ausschließlich sachlich" bewertet werden darf. Entscheide sich der BGH für eine maximal strenge Auslegung des Sachlichkeitsgebots bei Online-Bewertungen, stelle dies die Zulässigkeit jeglicher Meinungsäußerungen in Frage, da Meinungen "per se nicht sachlich sind".

LG Itzehoe – KZ-Sekretärin Stutthof: Im Verfahren gegen Irmgard F., frühere Sekretärin im KZ Stutthof, vernahm das Landgericht Itzehoe eine Überlebende des Lagers per Videoschalte aus Australien. Nach eindrücklicher Schilderung dort erlebter Grausamkeiten appellierten Nebenklagevertreter an die Angeklagte, ihr Schweigen zu brechen. Laut spiegel.de (Julia Jüttner) wurde dies von der Verteidigung und einem anderen Nebenklagevertreter unter Verweis auf die fundamentale Bedeutung des Schweigerechts der Angeklagten kritisiert.

LG Dresden – Einbruch ins Grüne Gewölbe: Im Verfahren zum spektakulären Einbruch in das Grüne Gewölbe sagte am Landgericht Dresden ein früherer Zellennachbar eines der Angeklagten aus. Der sich sichtlich zurückhaltende Zeuge habe dabei seine früheren polizeilichen Aussagen über selbstbelastende Mitteilungen des Angeklagten im Wesentlichen bestätigt, schreibt die FAZ (Stefan Locke).

LG Düsseldorf zu Preisgarantien: Dem Energieunternehmen ExtraEnergie hat das Landgericht Düsseldorf per einstweiliger Verfügung eine angekündigte Preiserhöhung untersagt. Die vom Unternehmen einst ausgesprochenen Preisgarantien unterfielen auch in Zeiten eines außergewöhnlichen Anstiegs der Beschaffungskosten dem unternehmerischen Risiko. Eine Störung der Geschäftsgrundlage sei nicht zu erkennen. LTO berichtet.

AG Berlin-Tiergarten zu Nötigung durch Klimaaktivist: Als bundesweit erstes Mitglied der Klimaschutzgruppe "Letzte Generation" hat das Berliner Amtsgericht Tiergarten nach stundenlangem Rechtsgesräch einen 20-jährigen Philosophiestudenten wegen Nötigung verurteilt und die Ableistung von 60 Stunden Freizeitarbeit auferlegt, schreibt spiegel.de (Wiebke Ramm). Der Angeklagte hatte sich im Juni an der Blockade einer Berliner Stadtautobahn beteiligt. In der Verhandlung seien seine Beweggründe fast schon verständnisvoll aufgenommen worden. Das Gericht habe jedoch darauf bestanden, dass "Fernziele" nicht "herbeiblockiert" werden dürften. Dem Angeklagten,  der erst vor Kurzem bei seinen Eltern ausgezogen war, wurde in der Strafzumessung eine gewisse "jugendliche Aufgeregtheit und Begeisterungsfähigkeit" zu Gute gehalten.

Recht in der Welt

EGMR/Frankreich - Abschiebung von Tschetschenen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Frankreich wegen der vollzogenen bzw. erst noch geplanten Abschiebung zweier Tschetschenen nach Russland verurteit. Frankreich habe in beiden Fällen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verletzt, so LTO über die Entscheidungen.

EuG/Polen – Justizreform: Über die von "vier großen europäischen Richter-Verbänden" beim Gericht der Europäischen Union eingereichte Klage gegen die Entsperrung von EU-Geldern für Polen berichtet nun auch die Welt (Philipp Fritz).

Belgien – Ex-Frau von Marc Dutroux: Michelle Martin, die frühere Ehefrau von Marc Dutroux und wegen Beteiligung an dessen Taten verurteilt, ist nach Verbüßung ihrer Haftstrafe frei. Die SZ (Josef Kelnberger/Hubert Wetzel) erinnert in einer Seite Drei-Reportage an den Missbrauchs- und Mord-Fall der 1980er- und 1990er-Jahre, der Belgien bis heute beschäftigt. Martin, die zwei Kinder verhungern ließ, habe in der Haft Jura studiert, lebe nun bei einem bekannten Richter und stehe nach den Worten einer befreundeten Richterin vor "einer Mauer aus Groll, aus Feindseligkeit, aus Rache."

Österreich – Hans-Christian Strache: Das Oberlandesgericht Wien hat die erstinstanzliche Verurteilung des früheren FPÖ-Chefs Hans-Christian Strache wegen Bestechlichkeit aufgehoben und eine erneute Verhandlung angeordnet. Grund sei die unzureichende Würdigung entlastender Chatnachrichten, meldet das Hbl.

Großbritannien – Benjamin Mendy: Seit Mitte des Monats muss sich der französische Fußballprofi Benjamin Mendy gegen eine Anklage wegen Vergewaltigung in acht Fällen verteidigen. Ein ebenfalls angeklagter Bekannter des derzeit in England aktiven Sportlers soll Frauen zu dessen Anwesen gelockt und dort mit ihm gemeinsam missbraucht und vergewaltigt haben, schreibt die SZ (Alexander Mühlauer). Der Fußballer behauptet, dass sexuelle Aktivitäten einvernehmlich geschehen seien. Ein Urteil werde im November erwartet.

USA – Welfenschatz: Die FAZ (Patrick Bahners) meldet, dass ein Bezirksgericht der US-amerikanischen Hauptstadt Washington auf Antrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine auf Herausgabe des sogenannten Welfenschatzes gerichtete Klage abgewiesen hat. Zugleich habe das Gericht die wegen der faktischen Ausbürgerung der jüdischen Verkäufer des Schatzes behauptete Zuständigkeit US-amerikanischer Gerichte verneint. Diese Frage sei vom US-Supreme Court im Februar 2021 noch offengelassen worden.

Juristische Ausbildung

Jura-Bachelor: Hessen schlägt die Einführung eines integrierten Bachelor of Laws (LL.B.) für Jurastudierende vor. LTO-Karriere (Pauline Dietrich) berichtet, dass das Land einen entsprechenden Beschlussvorschlag für die im Herbst anstehende Justizministerkonferenz erarbeitet hat. Nach diesem Vorschlag sollen sich Prüflinge, die das Erste Juristische Staatsexamen nicht bestanden haben, ihre im Studium nachgewiesenen Leistungen unter bestimmten Voraussetzungen für einen Bachelor-Abschluss anrechnen lassen können. Dieser bilde "interdisziplinäre Fähigkeiten und fachspezifische Kenntnisse" ab und eröffne Chancen auf dem Arbeitsmarkt, so der hessische Justizminister Roman Poseck (CDU).

Sonstiges

Wucher: Für LTO beschreibt Ökonomieprofessor Hans-Bernd Schäfer ökonomische Konstellationen, die als Wucher im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches verstanden werden können. Er nennt auch Instrumente, um derartigen Preisentwicklungen zu begegnen und gibt zu bedenken, dass Gerichte in der Regel ohne einen solchen "Instrumentenmix" handeln müssten.

Virtuelle Kanzleien: Spätestens mit der Umfirmierung von Facebook in Meta ist auch für die tech-affine juristische Gemeinde das Phänomen sogenannter Metaversen wieder aktuell geworden. Im Gespräch mit Rechtsanwalt Andreas Lober diskutiert Hendrik Wieduwilt (Libra) rechtliche Probleme im Zusammenhang dieser "konsistenten und persistenten digitalen Räume, die durch Konvergenz von virtueller, erweiterter und physischer Realität entstehen." Der sich bereits seit langem mit virtuellen Welten beschäftigende Anwalt hält derzeit die Eröffnung einer virtuellen Kanzlei bestenfalls aus PR-Gründen für sinnvoll.

Pastiche und Urheberrecht: § 51a Urheberrechtsgesetz erklärt seit einem Jahr die Produktion von Pastiches für zulässig. In einem Hendrik Wieduwilt (Libra) vorliegenden, im Auftrag der Gesellschaft für Freiheitsrechte erstellten Gutachten hat sich Rechtsanwalt Till Kreutzer mit Art, Inhalt und Reichweite dieser sogenannten "Pastiche-Schranke" befasst. Ihm sei dabei auch – anders als dem Gesetzgeber – eine Definition gelungen. Nach dieser handele es sich um "ein eigenständiges kulturelles und/oder kommunikatives Artefakt, das sich an die eigenschöpferischen Elemente veröffentlichter Werke Dritter anlehnt und sie erkennbar übernimmt."

Dienst nach Vorschrift: Als neuesten Online-Trend benennt LTO (Tanja Podolski) das "quiet quitting" und befragt Rechtsprofessor Michael Fuhlrott zur arbeitsrechtlichen Relevanz dieses als "Dienst nach Vorschrift" zu übersetzenden Phänomens, auch in Vergleich und Abgrenzung zu "Minderleistern". Grundsätzlich gelte, dass z.B. Überstunden nur dann zu leisten sind, wenn sie vertraglich vereinbart wurden. Bei "personenbedingter Low Performance" sei entscheidend, ob "ein Arbeitnehmer mehr leisten könnte, aber es – aus welchen Gründen auch immer – nicht möchte."

Digitale Märkte/Kartellrecht: Rechtsanwalt Gerrit Rixen beschreibt im Recht und Steuern-Teil der FAZ ein kartellrechtliches Instrument der vor einigen Monaten beschlossenen EU-Verordnung über digitale Märkte (DMA). Zur Verhinderung sogenannter Killer-Übernahmen, bei denen marktmächtige Unternehmen lediglich potentielle Wettbewerber übernehmen, werde Plattformen eine Meldepflicht gegenüber der EU-Kommission auch jenseits nationaler Meldepflichten auferlegt. Die praktische Durchsetzbarkeit müsse sich aber erst noch erweisen.

Rechtsdogmatik: Im Geisteswissenschaften-Teil der FAZ schreibt Rechtsprofessor Klaus F. Gärditz über Rechtsdogmatik als "Proprium des deutschen Staatsrechts". Gerade die letzten Jahrzehnte mit ihrer "Grundrechtsexpansion" und einer aus tausenden Verfassungsbeschwerden entstandenen "Rechtsprechungsmasse" hätten den Bedarf an Lehrsätzen bewiesen. So sei ein kontinuierlicher Dialog zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung in Gang geblieben, mit der gemeinsamen Sprache "Staatslehrerisch".

 

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LTO/mpi

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 31. August 2022: . In: Legal Tribune Online, 31.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49480 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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