Die juristische Presseschau vom 28. September 2022: Ber­liner Wahl­chaos vor Gericht / BGH ver­han­delt über Fern­ab­schal­tung / Asyl für rus­si­sche Deserteure?

28.09.2022

Der Verfassungsgerichtshof Berlin verhandelt über Pannen der letzten Berliner Wahlen. Der BGH muss entscheiden, ob eine Fernabschaltung gemieteter Geräte Selbstjustiz ist. Haben russische Wehrdienstverweigerer Aussicht auf Asyl in der EU? 

Thema des Tages

VerfGH Berlin – Wahlen in Berlin: Der Berliner Verfassungsgerichtshof wird am heutigen Mittwoch darüber verhandeln, ob die zahlreichen Mängel der letztjährigen Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksversammlungen eine teilweise oder vollständige Neuwahl erfordern. Die Verhandlung findet in einem Hörsaal der Freien Universität statt und nicht wie üblich in den Räumlichkeiten des Kammergerichts. Mit einer sofortigen Entscheidung sei nicht zu rechnen, das Gericht dürfte aber eine rechtliche Einschätzung kundtun, schreibt die FAZ (Markus Wehner). Sollten die beanstandeten Vorkomnisse "Mandatsrelevanz" aufweisen, könnte eine – möglicherweise beschränkte – Neuwahl aber wohl auch erst im nächsten Frühjahr stattfinden.

Die SZ (Jan Heidtmann) befasst sich schwerpunktmäßig mit der parallel beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestags laufenden Prüfung der zeitgleichen Bundestagswahl 2021, die in Berlin ebenfalls unter massiven Mängeln litt. Die Mängel könnten zur Neuwahl in bestimmten Berliner Bundestagswahl-Stimmbezirken führen. Je nach aktuellen Wahlumfragen haben die Parteien ein Interesse an umfassenderen oder begrenzteren Wiederholungen der Wahl. Der Wahlprüfungsausschuss will seine Empfehlungen im Oktober veröffentlichen. Gegen die Entscheidung des Bundestags sei mit Klagen beim Bundesverfassungsgericht zu rechnen, das letztendlich entscheidet.

Rechtspolitik

Verbraucherschutz-Verbandsklagen: Den Referentenentwurf zur Schaffung einer neuen Verbandsklage im Bereich des Verbraucherschutzrechts unterzieht Rechtsanwalt Luidger Röckrath auf LTO einer umfassenden Prüfung. Die durch die EU-Verbandsklage-Richtlinie dem deutschen Gesetzgeber gesetzte Frist zur Einführung einer auf Leistung (zB. auf Schadensersatz) gerichteten Verbandsklage ende mit Ablauf dieses Jahres. Nach dem Entwurf soll die bereits bestehende Musterfeststellungsklage in das neu zu schaffende Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz integriert werden. Dem Vorhaben sei der gebotene Ausgleich zwischen Verbraucherschutz- und Unternehmensinteressen durch die "Systementscheidung" für einen frühen Opt-in bei gleichzeitiger Verjährungshemmung gelungen. Bei der nach wie vor bestehenden Möglichkeit individueller Klagen bleibe aber offen, "ob der gewünschte Effekt der Entlastung der Justiz von Massenverfahren eintreten wird."

Die maßgeblichen Inhalte der neuen Abhilfeklage beschreibt auch die FAZ (Katja Gelinsky/Marcus Jung). Die beschriebenen Reaktionen aus Politik und Wirtschaft sind positiv.

Nach dem Kommentar von Marcus Jung (FAZ) ist die Abhilfeklage auch ein Eingeständnis, dass der bisherige "deutsche Weg" im kollektiven Rechtschutz "gescheitert" sei. "Offenkundig" gebe es keine Alternative zur europäischen Verbandsklage.

DJT – Besetzung von Richterposten: Rechtsprofessorin Anne Sanders bedauert auf Libra, dass der Deutsche Juristentag nicht mehr gedanklichen Mut bei der Diskussion über die Besetzung von Richterstellen gefunden habe. Zwar sei die Funktionsfähigkeit des geltenden Systems anzuerkennen, eine angesichts der Gefahr politischer Einflussnahme angezeigte Diskussion grundlegender Ideen (wie die Einführung unabhängiger Gremien zur Beförderung und Wahl von Richter:innen) sei jedoch ausgeblieben.

DJT – Versorgungswerke: Marie-Luise Schlicker (Libra) fasst die DJT-Diskussion im Bereich Arbeit und Soziales zusammen. Es sei keine Revolution beschlossen worden, vielmehr seien in den zur Abstimmung gelangten Themen "Nuancen" behandelt worden. Diese betrafen größtenteils die Zukunft berufsständischer Versorgungswerke, deren Bestand nicht angetastet werden solle.

Vorratsdatenspeicherung: Die Innenminister:innen der Länder haben gefordert, für die Aufklärung schwerer Verbrechen die vom EuGH erlaubte Möglichkeit zur vorsorglichen Speicherung von IP-Adressen beizubehalten. Es wäre nach den Worten des bayerischen Ministers Joachim Herrmann (CSU) "ein Unding und Hohn für die Opfer, wenn wir in Deutschland diese Möglichkeit aus falsch verstandenem Datenschutz nicht nutzen." LTO berichtet.

Ronen Steinke (SZ) kommentiert den im Bundesjustizministerium kursierenden Entwurf für die Einführung einer Quick Freeze-Regelung in der Strafprozessordnung. Er schlägt eine Belobigung für die Erfindung der Bezeichnung "Quick Freeze" vor. Der "viel coolere Name" dürfe aber nicht über den geringen praktischen Wert des Verfahrens hinwegtäuschen. Wenn die Anordnung einer Speicherung, wie im geplanten Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums, unter einen Richtervorbehalt gestellt werde, ist "nichts mehr quick", vielmehr "bummelig" und damit nutzlos.

Umwelt-Grundrecht: In einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ plädiert Rechtsprofessorin Sabine Schlacke für ein Grundrecht auf gesunde Umwelt. In der EU-Grundrechtecharta und im Grundgesetz verankert, würde dieses "den staatlichen Schutzauftrag zum Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen verstärken und dazu beitragen, dass die Verpflichtung tatsächlich erfüllt wird." Ein Grundrecht sei daher wirkungsvoller als die bisherige Staatzielbestimmung in Art. 20a Grundgesetz, aber auch als die wohl als soft law einzuordnende, im Juli verabschiedete UN-Resolution, durch die das Recht auf Zugang zu einer sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt als Menschenrecht anerkannt wurde.

Justiz

BGH – Fernabschaltung: Am heutigen Mittwoch verhandelt der Bundesgerichtshof über die Zulässigkeit einer Fernabschaltung. Im konkreten Fall hatte sich ein Unternehmen, das Batterien für Elektrofahrzeuge vermietet, in seinen AGBs eine Sperrung der Wiederaufladung der Batterie für den Fall einer außerordentlichen Vertragsbeendigung durch Kündigung vorbehalten, erläutert Rechtsanwalt Alexander Birkhahn im Recht und Steuern-Teil der FAZ. Die Vorinstanzen hätten hierin eine verbotene Eigenmacht des Unternehmens durch faktischen Besitzentzug erkannt.

BVerfG – Stickstoffdioxid- und Feinstaubgrenzwerte: Über die von vier Erwachsenen und drei Minderjährigen mit Unterstützung der Deutschen Umwelthilfe und der Organisation Client Earth erhobene Verfassungsbeschwerde mit dem Ziel, strengere Grenzwerte für die Sauberkeit der Luft durchzusetzen, berichtet nun auch LTO.

BAG zu Corona-Maske und Erschwerniszuschlag: Nun schreibt auch Rechtsanwältin Anne Dziuba auf dem ExpertenforumArbeitsrecht über ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Juli. Wie schon die Vorinstanzen entschied auch das BAG, dass das vom Arbeitgeber coronabedingt angeordnete Tragen einer OP-Maske keinen Anspruch auf Zahlung eines Erschwerniszuschlags begründet. Eben dies hatte die klagende Reinigungskraft unter Verweis auf tarifliche Bestimmungen geltend gemacht. Diese Bestimmungen beziehen sich aber auf Atemschutzmasken, die vorrangig dem Eigenschutz dienten.

LG München I/LG Braunschweig – Dieselskandal: In einem Kommentar beklagt Henning Peitsmeier (FAZ) die schleppende strafrechtliche Aufarbeitung des Dieselskandals. Sowohl das am Landgericht München I gegen den früheren Audi-Chef Rupert Stadler als auch das am Landgericht Braunschweig gegen den früheren VW-Boss Martin Winterkorn zwischenzeitlich abgetrennte Verfahren kämen nicht vom Fleck. Dies sei "ein Armutszeugnis für die deutsche Justiz" und umso ärgerlicher, als mit den Strafzahlungen des VW-Konzerns in den USA mittlerweile "in Kalifornien, Texas oder Pennsylvania uralte Highways saniert oder Ladesäulen für die Elektromobilität aufgestellt" würden.

LG Traunstein – Ex-Papst Benedikt XVI.: Das Landgericht Traunstein hat dem emeretierten Papst Benedikt XVI. und weiteren Kirchenvertretern die Möglichkeit einer Klageerwiderung eingeräumt, nachdem ein Missbrauchsopfer eine Feststellungsklage erhoben hatte. Inhaltliche Aussagen habe das Gericht noch nicht treffen wollen, schreibt LTO.

LG Halle – Rechtsextremismus und Kunstfreiheit: Bei einer Berufungsverhandlung über eine Bewährungsstrafe wegen Verleumdung gegen Personen des öffentlichen Lebens hat sich der Rechtsextremist Sven Liebich am Landgericht Halle/Saale auf seine Meinungs- und Kunstfreiheit berufen. Die beanstandeten Äußerungen, z.B. zu Renate Künast (Grüne), seien Überspitzungen und satirische Interpretationen gewesen, so LTO zu seiner Einlassung.

AG Frankfurt/M. zu Schwarzfahren/Strafbefehl: Ronen Steinke (SZ) kritisiert das wegen Personalmangels in der Justiz immer beliebter werdende Strafbefehlsverfahren am Beispiel eines Strafbefehls, den das Amtsgericht Frankfurt/M. 2016 erlassen hat. Ein Mann musste wegen zehnmaligem Schwarzfahren 12.000 Euro bezahlen, weil das Gericht nicht wusste, dass der Mann arbeitslos war. Der Mann wiederum hatte nicht verstanden, dass die hohe Strafe auf einer Fehlinformation berufte. Er hatte wegen der unverständlichen Justizsprache auch keinen Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt, der zu einer mündlichen Verhandlung geführt hätte. 

AG Pforzheim zu Kindesentziehung: Zu einer dreijährigen Haftstrafe hat das Amtsgericht Pforzheim einen belgischen Staatsangehörigen wegen Entziehung eines Minderjährigen verurteilt. Der Angeklagte habe seinen leiblichen Sohn nach Panama entführt, erläutert die FAZ (Eva Schläfer). Vor Gericht habe er abgestritten, ein "Querdenker" zu sein und die eingeräumte Tat mit dem schwierigen Verhältnis zu seiner ehemaligen Lebensgefährtin, der Kindsmutter, begründet.

Klimaklagen: In einem dem Hbl (Heike Anger/Silke Kersting) vorliegenden offenen Brief haben mehr als 20 NGOs und deren anwaltliche Vertretung weitere staatliche Maßnahmen zum Klimaschutz gefordert. Die Unterzeichnenden kündigten an, dass den bislang weltweit 80 Klimaklagen weitere folgen werden. Erst diese verliehen dem Pariser Abkommen "Biss", so die deutsche Anwältin Roda Verheyen.

Recht in der Welt

IStGH – russische Kriegsverbrechen: In einem Gastbeitrag für die FAZ fordert Jan Lipavsky, Außenminister der Tschechischen Republik, die rückhaltlose Ahndung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine durch den Internationalen Strafgerichtshof. Notfalls komme auch die schnelle Einsetzung eines internationalen Ukraine-Tribunals in Betracht. Es wäre zwar falsch, "Russland auf ewig zum Paria zu erklären." Das künftige Verhältnis des Landes zur EU hänge jedoch maßgeblich von seiner Bereitschaft ab, Kriegsverbrecher nach Den Haag auszuliefern.

Ungarn – Verfassungsgericht: Rechtsprofessor Gabor Halmay schildert auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache), wie die ungarische Regierung unter Victor Orban die Kontrolle über das ungarische Verfassungsgericht übernommen hat und wie zahm dieses seither agiert. 

Österreich – Vergewaltigung mit Todesfolge: Am Wiener Straflandesgericht ist der Prozess gegen drei afghanische Asylbewerber eröffnet worden, denen eine Vergewaltigung mit Todesfolge vorgeworfen wird. Zum Prozessauftakt habe einer der Angeklagten erklärt, mit dem 13-jährigen Mädchen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, aber vom weiteren Geschehen infolge eigener Bewusstlosigkeit nichts mitbekommen zu haben. Die FAZ (Stephan Löwenstein) berichtet.

Spanien – Shakira: Vor einem Gericht in Barcelona muss sich die Popsängerin Shakira gegen den Vorwurf der Steuerhinterziehung verteidigen. Die aus Kolumbien stammende Sängerin mache geltend, im fraglichen Zeitraum ihren Hauptwohnsitz auf den Bahamas gehabt zu haben, schreibt LTO. Eine außergerichtliche Einigung mit den spanischen Steuerbehörden sei für sie daher nicht in Frage gekommen.

Sonstiges

Russische Wehrdienstverweigerer: tagesschau.de (Kerstin Anabah) legt dar, unter welchen Umständen russischen Kriegsdienstverweigerern Asyl gewährt werden könnte. Grundsätzlich dürften Staaten die eigenen Angehörigen zum Kriegs- oder Wehrdienst heranziehen und auf dieser Grundlage die Verletzung einer solchen Pflicht auch sanktionieren. Wer aber glaubhaft geltend mache, durch die Teilnahme an militärischen Konflikten in Kriegsverbrechen verwickelt zu werden, könne auf Anerkennung hoffen. Praktisch schwierig sei für betroffene Russen, dass die Antragstellung eine – visumspflichtige – Einreise nach Deutschland voraussetzt.

Über dieses Thema schreibt auch Assistenzprofessor Tom Dannenbaum auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache). 

Jaques Schuster (Welt) äußert in einem Kommentar Verständnis für den Unwillen baltischer Staaten, Russen aufnzunehmen. Der ohnehin geringen Bevölkerung dieser Länder könne die Aufnahme einer großen Zahl nicht zugemutet werden. Andererseits seien diese Menschen "weder Quislinge noch U-Boote."

Google-Onlinewerbung: In ihrem Unternehmens-Teil berichtet die FAZ (Gregor Brunner/Marcus Jung) über die von einer französischen Kanzlei geplanten "großvolumigen Sammelklagen" von Verlegern gegen Google in den Niederlanden und Großbritannien. Dem Suchmaschinenbetreiber werde ein Missbrauch seiner marktbeherrschenden Stellung bei personalisierter Online-Werbung vorgeworfen. Ähnliches bereite in Deutschland die Kanzlei Hausfeld in Verbindung mit dem Prozessfinanzierer Ad Claim vor, wie sich aus internen Mitteilungen des Medienverbands der freien Presse ergebe.

DSGVO: Lediglich 22 Prozent der vom Digitalverband Bitkom repräsentativ befragten Unternehmen haben Vorgaben der seit Mai 2018 geltenden Datenschutzgrundverordnung vollständig umgesetzt. Weitere 40 Prozent hätten dies "größtenteils" getan, Bei 78 Prozent herrsche nach wie vor eine erhebliche Unsicherheit über die genauen Vorgaben der Verordnung. Das Hbl (Dietmar Neuerer) und LTO berichten. 

Diskurs und Demokratie: Rechtsprofessor Steffen Augsberg fordert auf Libra "zur Wiederbelebung des demokratischen Diskurses" eine Rückbesinnung "auf politische Positionen und Institutionen". "Wo alles geklärt ist", und keine widerstreitenden Interessen und Positionen im gegenseitigen Austausch den demokratischen Entscheidungsfindungsprozess förderten, bleibe "Demokratie allenfalls nützliches Ornat."

Anwaltlicher Fachvortrag: Die mündliche Präsentation fachlicher Themen gehört zum anwaltlichen Alltagsgeschäft. Rechtsanwältin Anja Schäfer hält auf LTO-Karriere Tipps und Ratschläge bereit, wie der anwaltliche Fachvortrag besonders gut gelingt.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.

Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.  

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 28. September 2022: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49753 (abgerufen am: 24.11.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen