Die juristische Presseschau vom 25. Mai 2022: Bun­des­wahl­leiter zum Chaos in Berlin / Ver­fas­sungs­be­schwerde gegen Wie­der­auf­nahme / VG zu Mas­kenpf­licht am Gericht

25.05.2022

Der Bundeswahlleiter empfiehlt eine Wiederholung der Bundestagswahl in sechs Berliner Wahlkreisen. Der neue § 362 Nr. 5 StPO wird verfassungsgerichtlich geprüft. VG Sigmaringen kippt die am LG Tübingen angeordnete Maskenpflicht.

Thema des Tages

Bundestagswahl Berlin: Der Bundeswahlleiter Georg Thiel sprach sich gegenüber dem Wahlprüfungsausschuss des Bundestags für eine Wiederholung der Bundestagswahl in sechs der zwölf Berliner Wahlkreisen aus. Grund hierfür sei ein "komplettes systematisches Versagen der Wahlorganisation". Die Abgeordneten zeigten sich zunächst zurückhaltend. Johannes Fechner (SPD) etwa versprach eine eingehende Prüfung im Ausschuss, machte aber gleichzeitig auf die erforderliche Verhältnismäßigkeit einer Neuwahl aufmerksam. Eine Entscheidung fälle der Bundestag. Die SZ (Robert Roßmann) berichtet.

Reinhard Müller (FAZ) kommentiert Thiels Empfehlung im Leitartikel als "typisch Berlin eben". Auch "der Zuzug von rheinischem oder schwäbischen Politik- und PR-Personal" mache "aus der Stadt im Brandenburgischen noch keine Weltstadt". Vielmehr müsse in der Hauptstadt "Überforderung als Regelfall" gelten.

Ukraine–Krieg und Recht

Ukraine – russische Kriegsverbrechen: Über den soeben mit einer Verurteilung beendeten ersten Kriegsverbrecherprozess in der Ukraine bringt nun auch die Zeit (Nataliya Gumenyuk) eine Reportage.

Sanktionen gegen Russland/Freikauf: Die G7-Finanzminister diskutierten in der vergangenen Woche einen Vorschlag der kanadischen Amtsinhaberin zum Freikauf von kriegsbedingten Sanktionen. Das Hbl (Martin Greive u.a.) schreibt, dass betroffene russische Oligarchen der Ministerin vorgeschlagen hätten, für die Streichung von Sanktionslisten "einen beträchtlichen Teil ihres Milliardenvermögens an den Westen" abtreten zu wollen. Die Beträge könnten dann zum Wiederaufbau kriegsbedingter Schäden in der Ukraine eingesetzt werden. Durch die Idee könnten rechtliche Schwierigkeiten bei der entschädigungslosen Enteignung überwunden werden. Diese sei nur zulässig, wenn bewiesen werden könnte, dass das jeweilige Vermögen auf Straftaten beruht.

OLG Dresden – Sanktionen gegen Russland: Wegen Bruchs von Sanktionsbestimmungen und Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz ist ein sächsischer Unternehmer am Oberlandesgericht Dresden angeklagt. Zu Prozessbeginn habe der Angeklagte in einiger Ausführlichkeit seine Lebensgeschichte dargestellt, schreibt die FAZ (Stefan Locke). Nach der russischen Inbesitznahme der Krim sei sein Exporthandel mit medizinischen Geräten eingebrochen. Danach abgeschlossene Geschäfte seien gleichwohl "zweifach geprüft" worden.

Rechtspolitik

Bundestags-Wahlrecht: Rechtsprofessor Bernd Grzeszick äußert auf LTO verfassungsrechtliche Bedenken gegen den in der vorigen Woche aus Kreisen der Regierungskoalition unterbreiteten Vorschlag für eine Reform des Bundestags-Wahlrechts. So werde das Mehrheitsprinzip im Wahlkreis durchbrochen, ohne dass hierfür ein zwingender Grund ersichtlich wäre. Gleiches gelte für die Kappung der Überhangmandate. Im Kern beruhe der nun gemachte Vorschlag – wohl ungewollt – auf einer "Systemumstellung zu einem umfassenden Verhältniswahlrecht".

Der Mandatsgewinn "unter Vorbehalt" wird auch von der Parteienrechtlerin Heike Merten und der wissenschaftlichen Mitarbeitern Alexandra Bäcker im Verfassungsblog als Problem benannt. Sie sehen darüber hinaus beim vorgeschlagenen Ersatzstimmensystem Probleme der Unmittelbarkeit und der Gleichheit der Wahl. Außerdem widerspreche die Idee einer Ersatzstimme der verfassungsgerichtlich angemahnten Vorgabe der "Praktikabilität und Nachvollziehbarkeit des Wahlsystems".

Justiz

BVerfG – Mord an Frederike von Möhlmann/Wiederaufnahme: § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung, die umstrittene Neuregelung einer Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener, soll vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden. Wie LTO (Hasso Suliak) berichtet, haben die Anwälte Johann Schwenn und Yves Georg im Fall der ermordeten Frederike von Möhlmann Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle erhoben, der die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihren Mandanten billigte. Dies könnte nun dazu führen, "dass die Politik erst den Ausgang des in Karlsruhe anhängigen Verfahrens abwarten wird" – obwohl Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bereits eine eigene verfassungsrechtliche Überprüfung der im vergangenen Dezember in Kraft getretenen Neuregelung angekündigt hatte.

VG Sigmaringen zu Corona-Maskenpflicht am Gericht: Die am Landgericht Tübingen am 4. April verfügte Anordnung, im Gericht eine medizinische Maske zu tragen, ist voraussichtlich rechtswidrig. In einem Eilbeschluss stellte das Verwaltungsgericht Sigmaringen fest, dass das Hausrecht des Gerichtspräsidenten als geeignete Rechtsgrundlage wohl ausscheide. Für eine Maskenpflicht an Gerichten gebe es auch weder im Infektionsschutzgesetz noch in den Coronaverordnungen des Landes eine Rechtsgrundlage. Die beanstandete Anordnung lasse zudem "jegliche Begründung" vermissen. LTO berichtet.

BVerfG – Sozialversicherungsabgaben von Eltern: Das Bundesverfassungsgericht wird an diesem Mittwoch einen Beschluss zur Frage veröffentlichen, ob es verfassungsrechtlich geboten ist, Eltern bei der Ermittlung von Sozialversicherungsabgaben gegenüber Kinderlosen zu bevorzugen. Die klagenden Elternpaare begründen ihr Ansinnen mit der Auffassung, ihre Kinder sicherten den Fortbestand der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme. Konkret geht es um eine Vorlage des Sozialgerichts Freiburg und Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen des Bundessozialgerichts. swr.de (Klaus Hempel) erläutert das Verfahren.

BVerfG zu Beratungshilfe/Hartz IV: In einem Einzelfall hat das Bundesverfassungsgericht die Ablehnung der Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren gegen einen Hartz IV-Bescheid beanstandet. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Kaufbeuren war die beabsichtigte Rechtsverfolgung des Leistungsempfängers nicht mutwillig. Das vom Jobcenter gewählte Prozedere zur Anrechnung eines Betriebskostenguthabens habe sogar höchstrichterlicher Rechtsprechung widersprochen. Die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet.

BVerfG zu Windparks: Rechtsanwältin Roya Sangi bespricht in der FAZ den Anfang des Monats veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, dass ein Landesgesetz aus Mecklenburg-Vorpommern Windparkbetreiber dazu verpflichten durfte, betroffene Gemeinden an den Erträgen zu beteiligen. Die Autorin hält es für bemerkenswert, dass das Gericht bei der Rechtfertigung des Eingriffs in die "Renditeaussichten der Vorhabenträger" nicht lediglich auf Klimaschutzaspekte abstellte. Vielmehr habe das BVerfG auch ein klares Bekenntnis zur Sicherung der Energieversorgung, insbesondere durch die Verringerung von Energieimporten, abgegeben. 

OLG Celle – VW-Übernahme: Im Kapitalanleger-Musterverfahren wegen Forderungen im Zusammenhang der gescheiterten Übernahme von VW durch die Porsche SE hat das Oberlandesgericht Celle eine Entscheidung für den 30. September angekündigt, so die FAZ (Marcus Jung). Nach den bisherigen vorläufigen Einschätzungen des Gerichts dürfen sich die Musterkläger keine großen Hoffnungen auf ein stattgebendes Urteil machen.

Recht in der Welt

EuGH – Carles Puigdemont: Der Europäische Gerichtshof hat die Aufhebung der Immunität des katalanischen Europaabgeordneten Carles Puigdemont durch das Europaparlament vorläufig ausgesetzt, meldet zeit.de. Die Aussetzung gelte für die Dauer der weiteren Prüfung des Falles durch den EuGH.

Frankreich – Zementfabrik in Syrien: In der vergangenen Woche hatte ein Pariser Berufungsgericht bekannt gegeben, dass es seine Ermittlungen im Fall Lafarge wieder aufnimmt. Der französische Zementproduzent Lafarge und seine syrische Tochtergesellschaft betrieben noch bis 2014 eine Fabrik in einem Landesteil, der damals unter Kontrolle des sogenannten IS stand. Das Unternehmen soll in diesem Zeitraum mehrere Millionen Dollar an den IS gezahlt haben, um den Betrieb aufrechterhalten zu können. Nach jahrelangen Bemühungen von NGOs könnten diese Zahlungen nun zu einer Verurteilung des Konzerns wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen, schreibt die akademische Mitarbeiterin Anne Fock auf LTO in einer ausführlichen Darstellung der rechtlichen Probleme und des bisherigen Verfahrensgangs.

USA – Mark Zuckerberg und Cambridge Analytica: Die wegen Verstößen gegen das US-Verbraucherschutzgesetz erhobene Anklage gegen Meta-Chef Mark Zuckerberg wird nun auch im Thema des Tages des Hbl (Stephan Scheuer/Felix Holtermann) behandelt. Die wichtigsten Fragen zur Anklage und dem Skandal um Datensammlungen des Unternehmens Cambridge Analytica fasst netzpolitik.org (Alexandra Conrad) zusammen.

Sonstiges

DSGVO: Die Datenschutzgrundverordnung ist mittlerweile vier Jahre in Kraft, ihre sichtbarste Konsequenz ist für die Mehrheit der in einer Umfrage Befragten die Allgegenwärtigkeit von Cookie-Abfragen, schreibt LTO. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber hält die DSGVO dagegen für den "weltweiten Maßstab in Sachen Datenschutz." Die Wirksamkeit der Verordnung hätten auch US-Internet-Riesen in Form von millionenschweren Bußgeldern zu spüren bekommen.

Ausländervereinsregister: Auf Anweisung des Bundesinnenministeriums werden seit 1994 die Daten von kurdischen Ausländervereinen vom Bundesverwaltungsamt automatisch an den Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt übermittelt, was die Linken-Abgeordnete Gökay Akbulut rechtlich und politisch kritisiert. Das Bundesverwaltungsamt führt seit den 1960er-Jahren ein Ausländervereinsregister. Die taz (Christian Rath) berichtet.

Ziviler Ungehorsam: Die Zeit veröffentlicht Ansichten zum Handeln eines Autofahrers, der in der vergangenen Woche einen Klima-Aktivisten von der Straße zerrte. Rechtsanwalt Gerhard Strate fühlt sich durch das Handeln der Gruppe "Letzte Generation" an die Selbstgerechtigkeit französischer Jakobiner erinnert. Eine Notwehr gegen eine Nötigung sei aber nur dann gerechtfertigt ist, wenn die – aufgelöste - Blockade selbst rechtswidrig war. Angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht dürfte dies nicht der Fall sein.

BKartA und Big Tech: In einem Gastbeitrag für die FAZ stellt Till Steinvorth, Rechtsanwalt, die Effektivität der 2021 eingeführten neuen Befugnisse des Bundeskartellamts in der Auseinandersetzung mit Tech-Konzernen in Frage. Das zweistufige Verfahren nach § 19a des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen erfordere auf Behördenseite immer noch einen erheblichen Aufwand und bleibe damit praktisch wirkungslos.

Rechtsgeschichte – Gewalttäter Frank Schmökel: In ihrer Rubrik "Akteneinsicht" veröffentlicht die SZ (Annette Ramelsberger) eine Reportage vom Dezember 2002 über den Prozess gegen Frank Schmökel. Nach mehreren Vorstrafen und Gefängnisausbrüchen wurde Schmökel wegen eines bei seiner letzten Flucht begangenen Mordes vom Landgericht Frankfurt/O. zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht ging von einer nicht vorhandenen Therapierbarkeit des Angeklagten und erinnerte in der mündlichen Urteilsverkündung an die Gefährlichkeit von Straftätern in forensischen Kliniken.

Das Letzte zum Schluss

Produktinformationen: Worauf beruht die Popularität von Schweizer Hustenbonbons? Mit dieser Frage könnte sich demnächst ein US-amerikanisches Gericht beschäftigen. bild.de (Christopher Buhl) berichtet, dass eine enttäuschte Kundin den Hersteller Ricola auf fünf Millionen Dollar Schadensersatz verklagt, weil es nicht die auf den Packungen abgebildeten "Schweizer Alpenkräuter" seien, die Linderung bei Halsschmerzen bewirken, sondern Menthol.

 

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Am Freitag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 25. Mai 2022: . In: Legal Tribune Online, 25.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48553 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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