Ob der Sänger Antisemit ist, weiß das BVerfG nicht. Entsprechende Meinungen können aber nicht ohne Weiteres untersagt werden. LG Potsdam verurteilt die Pflegerin aus dem Oberlinhaus und Cum-Ex-Experte Hanno Berger steht vor seiner Heimkehr.
Thema des Tages
BVerfG zu Xavier Naidoo als Antisemit: Zivilgerichtliche Verurteilungen, nach denen es einer Referentin der Amadeu-Antonio-Stiftung untersagt war, den Sänger Xavier Naidoo als Antisemiten zu bezeichnen, sind vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen worden. Die beanstandeten Entscheidungen verletzen die Frau in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit, deren Tragweite nur unzureichend erkannt worden sei. Die ursprüngliche Äußerung dahingehend zu deuten, dass dem Sänger unterstellt würde, er spreche Juden das Existenzrecht ab, seien eher fernliegend. Seine Einstellung hingegen berühre die Öffentlichkeit. Wer wie Naidoo hierzu auch Stellung nehme, müsse es trotz eigener Prominenz hinnehmen, wenn seine Äußerungen diskutiert werden. Zu der nun veröffentlichten Entscheidung aus dem November berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert), taz (Christian Rath), internet-law (Thomas Stadler) und Tsp (Jost Müller-Neuhof). LTO (Felix W. Zimmermann) bringt eine Analyse.
Christian Rath (taz) lobt die Entscheidung als "gut und wichtig", erinnert aber, dass es bei ihr "um ein Werturteil, nicht um eine Tatsachenbehauptung" gegangen sei. Bei ersterem sei "der Spielraum des Sagbaren deutlich größer", dürfe aber auch nicht "ohne jeden faktischen Anhaltspunkt" erfolgen. Auch Thomas Thiel (FAZ) kommentiert, dass ein Antisemitismusvorwurf keine Meinung sei, "die nicht weiter begründet werden muss". Schließlich gründe ja auch der Antisemitismus "auf der Ansicht, ihn nicht belegen zu müssen".
Rechtspolitik
Wiederaufnahme: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das umstrittene "Gesetz zur Wiederherstellung materieller Gerechtigkeit" ausgefertigt. Gleichzeitig habe er unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die bereits vor der Verabschiedung geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken eine erneute Prüfung durch den Bundestag angeregt. LTO berichtet.
Vorratsdatenspeicherung: Dass Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) die Streichung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung vorantreiben will, findet die Zustimmung des Deutschen Anwaltvereins. In einer Erklärung forderte der DAV darüber hinaus, Maßnahmen der Gefahrenabwehr einer "3E-Regelung" zu unterwerfen, berichtet LTO. Nach dieser bedürften Maßnahmen "der Evaluation, der Evidenz und der Empirie".
Corona – Maßnahmen: Die jüngste Konferenz der Ministerpräsidenten und -präsidentinnen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich auf Kontaktbeschränkungen nach den Feiertagen verständigt. Die Vereinbarungen zu Clubschließungen und Geisterspielen im Profisport müssten nun noch von den Ländern umgesetzt werden, schreibt die taz (Christian Rath). Eine bundeseinheitliche Linie sei ausdrücklich nicht vereinbart worden. Die FAZ (Tim Niendorf) gibt einen Überblick zu den Kontaktbeschränkungen während der Feiertage. Eine einheitliche Regelung zu Weihnachtsgottesdiensten existiere nicht. Für Jürgen Klöckner (Hbl) geben die Vereinbarungen ein "fatales" Signal. Trotz besorgniserregender Darstellung der Auswirkungen der neuen Omikron-Variante habe sich die Politik lediglich auf "milde Maßnahmen" verständigen können. Damit werde das Gefühl vermittelt, "nicht ausreichend zu handeln".
Corona – Impfpflicht: Im Interview mit der Welt (Mladen Gladic) legt Rechtsprofessor Hinnerk Wißmann dar, warum nach seiner Einschätzung einer allgemeinen Impfpflicht keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen stehen. Nina von Hardenberg (SZ) hält in einem Kommentar die von Befürwortern einer allgemeinen Impfpflicht – unter diesen nun auch der Deutsche Ethikrat – vorgebrachten Argumente für "nachvollziehbar". Es sei "gleichwohl ein Skandal und eine Kapitulation", dass es so weit gekommen sei. Die drohende Überlastung des Gesundheitssystems sei somit auch einer Politik anzulasten, die es verpasst habe, "rechtzeitig mildere Wege der Pandemiebekämpfung energisch zu verfolgen".
Corona – Infektionsschutzgesetz: tagesschau.de (Claudia Kornmeier/Frank Bräutigam) gibt einen Überblick über die nach der aktuellen Fassung des Infektionsschutzgesetzes möglichen Maßnahmen.
Justiz
LG Potsdam zu Mord im Pflegeheim: Wegen vierfachen sowie dreifach versuchten Mordes hat das Landgericht Potsdam die angeklagte frühere Pflegekraft des Oberlinhauses zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt und ihre unmittelbare Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik angeordnet. Nach Auffassung des Gerichts seien die Taten im Zustand einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit begangen worden, darüber hinaus sei dem Gericht bewusst gewesen, "nie bis ins Allerletzte ergründen zu können, was einen Menschen in so einem Moment antreibt", schreibt die SZ (Jan Heidtmann) von der mündlichen Urteilsbegründung. Der Bericht der taz (Linda Gerner) stellt auch die Tatopfer vor und beschreibt die Verhandlungsführung als "ruhig und sensibel". spiegel.de (Wiebke Ramm) schreibt ausführlich über das Leben der Angeklagten und die Worte, mit denen sie vor Gericht beschrieben wurde.
In einem separaten Kommentar meint Linda Gerner (taz), dass es zwar "Gründe für Kündigungen, für Krankschreibungen, für lange Ausfälle bei der Arbeit" geben mag, wie dies auch von der Verteidigung ins Feld geführt worden sei. Einen "Grund für Mord" gebe es hingegen nicht.
BVerfG – Ausschussvorsitz: Dass die AfD es jüngst nicht vermochte, ihre Kandidaturen für den Vorsitz dreier Bundestagsausschüsse erfolgreich zu gestalten, ist der Fraktion eine Organklage sowie ein Antrag auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht wert. Diese sollten unmittelbar nach den Feiertagen anhängig gemacht werden, so der Prozessvertreter der AfD-Fraktion gegenüber LTO (Hasso Suliak). Man erhoffe sich verfassungsrechtliche Klarstellungen zu parlamentarischen Minderheitsrechten und sehe sich hierbei auch durch die – nicht stattgebende – vorläufige Entscheidung zur Abwahl ihres Mitglieds Stephan Brandner vom Vorsitz des Rechtsausschusses in der vergangenen Legislaturperiode bestätigt. Die anderen Fraktionen des Bundestages stellten das Recht der AfD zur Ausschussmitarbeit nicht in Frage, bestritten aber, dass hieraus eine Verpflichtung zur Wahl bestimmter Abgeordneter erwachse.
BVerfG in 2021: Der Beschluss zum Klimaschutzgesetz war im zu Ende gehenden Jahr sicherlich die spektakulärste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. LTO (Annelie Kaufmann) stellt ihn und fünf weitere wichtige Entscheidungen aus Karlsruhe vor.
BGH zu Betriebskosten/Baumfällarbeiten: Als Bestandteil der in der Betriebskosten-Verordnung erwähnten "Gartenpflege" können die Kosten von Baumfällarbeiten grundsätzlich auf Mieter umgelegt werden. Dies entschied nach Bericht von LTO der Bundesgerichtshof in einem nun veröffentlichen Urteil aus dem November.
LG Duisburg – Mafia-Prozess: Bereits seit Oktober 2020 und wohl noch bis zum nächsten Dezember verhandelt das Landgericht Duisburg gegen 14 Angeklagte, denen die Zugehörigkeit zur ´Ndrangheta bzw. umfangreiche Kokaingeschäfte vorgeworfen wird. Vor dem nächsten Verhandlungstag zu Beginn des nächsten Jahres wird das Gericht über einen Befangenheitsantrag der Verteidigung befinden müssen. Wie die FAZ (David Klaubert) schreibt, ist einer der Schöffen seit Anfang dieses Monats immer mal wieder eingenickt, zuletzt bei der über Videoschalte bewerkstelligten Vernehmung eines italienischen Kronzeugens.
VG Berlin zu Merkel-SMS: Das Verwaltungsgericht Berlin hat einen vom "Frag den Staat"-Portal gestellten Eilantrag auf Herausgabe bestimmter Textnachrichten der früheren Kanzlerin abgewiesen. Der Antragstellerin erwachse hieraus kein Nachteil, weil davon auszugehen sei, dass "veraktungswürdige Inhalte" von SMS auf dem Diensthandy von Angela Merkel tatsächlich auch zu den Akten gelangten, schreibt die FAZ (Axel Weidemann) in ihrem Medien-Teil. Dies werde von der Antragstellerin bestritten.
Strafverfolgung von Telegram-Hetze: zeit.de (Veronika Völlinger) befragt Staatsanwalt Christoph Hebbecker zum Ermittlungsalltag bei strafbaren Inhalten auf der Messengerplattform Telegram. Die Anzahl tatsächlicher Verfahren wegen solcher Delikte sei "bislang noch überschaubar", so der Mitarbeiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen. Dies liege zum Einen an der Weigerung des Anbieters, bei der Identifizierung von Urhebern strafrechtlich relevanter Posts mitzuarbeiten. Zum Anderen sei es Ermittlungspersonen verwehrt, sich ohne konkrete Hinweise auf die Begehung von Straftaten in Telegram-Gruppen einzuschleichen. Grundsätzlich hält es der Befragte für überlegenswert, "struktureller an das Problem" heranzugehen.
Recht in der Welt
Schweiz – Hanno Berger: Nach Informationen von SZ (Klaus Ott/Niels Wischmeyer) und Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier) hat das Schweizer Bundesstrafgericht die Beschwerde des Steueranwalts Hanno Berger gegen seine Auslieferung nach Deutschland abgewiesen. Berger, nach Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/M. als "spiritus rector" für Cum-Ex-Steuertricks mit einem Steuerschaden von mehreren Hundert Millionen Euro verantwortlich, könne die jetzige Entscheidung noch innerhalb einer kurzen Frist anfechten. Zusätzlich weiß die FAZ (Marcus Jung/Johannes Ritter), dass eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin, nach der die Einziehung des Passes Bergers durch die deutsche Botschaft in der Schweiz rechtmäßig ist, kurz vor der Rechtskraft steht.
EU/Polen – Vertragsverletzungsverfahren: Dass die EU-Kommission nun auch wegen des Urteils des polnischen Verfassungsgerichts zum Anwendungsvorrang nationalen Rechts gegen Polen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet an, kommentiert Stefan Kornelius (SZ) resigniert. Wie schon zuvor, werde auch im "uhrengleichem Takt" ein Geschehen ablaufen, dass irgendwann mit einem Bußgeld ende. In der Zwischenzeit demonstriere die polnische Regierung "die Zahnlosigkeit der Kommission", indem sie auch weiterhin "Rechtsstaat und die demokratischen Werte kurz und klein" hacke. Für seine Glaubwürdigkeit bedürfe das Recht der Durchsetzung. Reinhard Veser (FAZ) warnt vor politischer Einflussnahme auf die Justiz durch die Kommission und fragt, was die polnische Regierung gegen das Urteil tun solle. "Falsche Entschiedenheit" sei fehl am Platz, auch wenn man hierdurch womöglich vergangene Versäumnisse ausgleichen wolle.
Österreich – Bierwirt: Das Wiener Straflandesgericht hat einen 43-Jährigen wegen Mordes seiner früheren Lebensgefährtin zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Der auch als "Bierwirt" bekannte Angeklagte hatte in den Jahren zuvor durch seine Auseinandersetzung über obszöne Nachrichten an eine Grünen-Politikerin auch internationale Bekanntheit erlangt. Es berichtet die FAZ (Stephan Löwenstein).
Sonstiges
Beschlagnahmte Kryptowährungen: Hbl (Felix Holtermann/Mareike Müller) und LTO berichten zu einem nun erfolgten Verkauf zuvor beschlagnahmter Kryptowährungen im Wert von rund 100 Millionen Euro durch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/M. Die Transaktion sei in Kooperation mit einem Bankhaus vonstatten gegangen. Dieses habe sicherstellen können, dass die zuvor wegen illegaler Geschäfte als "kontaminiert" gegoltenen Coins beim Verkauf wieder als "sauber" deklariert werden konnten. Die Kooperation solle fortgesetzt werden.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
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Die juristische Presseschau vom 23. Dezember 2021: . In: Legal Tribune Online, 23.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47030 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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