EuGH schränkt die Verarbeitung von Fluggastdaten ein. Im Prozess um die Polizistenmorde von Kusel präsentiert der Hauptangeklagte einen alternativen Geschehensablauf. Kai Ambos zu Donezker Todesurteilen gegen ausländische Kämpfer.
Thema des Tages
EuGH zu Fluggastdaten-Verarbeitung: Die anlasslose Speicherung und Auswertung von Fluggastdaten verstößt nur dann nicht gegen EU-Recht, wenn die zugrundeliegende EU-Richtlinie (Passenger Name Records/PNR-Richtlinie) eng ausgelegt und auf das absolut Notwendige beschränkt wird. Dies entschied der Europäische Gerichtshof auf Vorlage des belgischen Verfassungsgerichts. Dies beinhalte eine Verkürzung der in der Richtlinie vorgesehenen Speicherfrist der Daten von fünf Jahren auf sechs Monate. Daten dürfen auf innereuropäischen Strecken nur noch eingeschränkt erfasst werden, insbesondere wenn eine akute terroristische Bedrohung vorliegt. Die Auswertung erhobener Daten durch KI-Systeme sei unzulässig, wenn die Systeme selbstlernend arbeiten, also eigene Bewertungsmaßstäbe entwickelten. Die Daten dürfen nur noch zur Verfolgung von Terror und flugverkehrsbezogener schwerer Kriminalität ausgewertet werden. Keinesfalls dürfe die Datenerhebung für Grenzkontrollen oder zur Unterbindung illegaler Einwanderung benutzt werden. Nach der EuGH-Entscheidung muss auch die deutsche Praxis angepasst werden. So werden derzeit noch die Fluggastdaten auf allen innereuropäischen Flügen gespeichert und ausgewertet. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath), tagesschau.de (Gigi Deppe), netzpolitik.org (Constanze Kurz) und LTO.
Gigi Deppe (tagesschau.de) macht in dem Urteil "gute Ansätze" wie etwa die Begrenzung der Speicherfrist aus, hält aber "manches" für "zu diffus". Die "massenhafte Datenspeicherung" sei jedenfalls nicht gestoppt. Für Wolfgang Janisch (SZ) ist die Entscheidung "ein Gewinn für die Freiheit, ohne dass damit Einbußen für die Sicherheit verbunden wären". Es bleibe weiterhin "Illusion", dass "das Anhäufen gigantischer Datenberge auf Vorrat" mehr Verbrechen aufkläre als eine zielgerichtete Suche. Mit seinen Aussagen zum Einsatz von KI habe der EuGH zudem ein "Zukunftsthema" angetippt. Auch Reinhard Müller (FAZ) hält das ausgesprochene Verbot selbstlernender Algorithmen für "bemerkenswert". Weiterhin müssten Menschen auswählen, entscheiden und schließlich auch die "Verantwortung für Grundrechtseingriffe" tragen.
Rechtspolitik
Rechtspolitik der Ampel-Koalition: Zum Auftakt des Deutschen Anwaltstags diskutierten Rechtspolitiker:innen von SPD, Grünen, FDP und CDU über ein Zwischenfazit nach knapp 200 Tagen Ampel-Koalition. Die Teilnehmenden besprachen den Stand der Arbeiten zur audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung im Strafprozess, die Chancen für eine Neuauflage des Pakts für den Rechtsstaat, den Bedarf für das in der vergangenen Legislaturperiode gescheiterte Unternehmensstrafrecht, die Zukunft des Jurastudiums sowie die Rechtmäßigkeit der Wiederaufnahme von Strafverfahren zulasten Freigesprochener. LTO berichtet.
Arbeitsverträge: Am morgigen Donnerstag steht der Bundestag vor der Verabschiedung des Umsetzungsgesetzes zu formalen Mindestanforderungen für Arbeitsverträge. Schon seit 1995 ist es Arbeitgebenden verboten, den Beschäftigten ihre Arbeitsverträge nur elektronisch zu übermitteln. Nun soll das Verbot durch Bußgelddrohung verschärft werden, so die FAZ (Dietrich Creutzburg) in ihrem Wirtschafts-Teil. Während Unternehmens-Verbände über drohende bürokratische Belastungen klagten, füge man sich bei der an "digitalen Lösungen" interessierten FDP offenbar der Koalitionsräson.
Mindestlohn: Der Bundesrat hat jüngst die vom Bundestag beschlossene Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns gebilligt. Rechtsanwalt Frank Lenzen macht im Recht und Steuern-Teil der FAZ darauf aufmerksam, dass neben der ohnehin geplanten turnusmäßigen Erhöhung im Juli damit ab November bereits die nächste Erhöhung anstehe. Er bedauert, dass strittige Fragen wie die Anrechnung von Zuschlägen ungeregelt blieben. Mit der nunmehr geltenden dynamischen Ermittlung der Geringfügigkeitsgrenze stehe in diesem Beschäftigungsbereich nicht weniger als ein "Systemwechsel" ins Haus.
Enteignung russischer Oligarchen: Über die juristischen und tatsächlichen Schwierigkeiten, "eingefrorene" Vermögenswerte mutmaßlich kremlnaher Oligarchen zugunsten des Wiederaufbaus der Ukraine zu enteignen, schreibt nun auch die taz (Christian Rath). Sanktionsrechts-Experten halten entsprechende Vorschläge für verfassungs- und EU-rechtswidrig. Möglich sei aber die Einziehung (entschädigungslose Enteignung) nach Sanktionsverstößen, wobei die Strafbarkeiten Ende Mai durch die Einführung einer Anmeldepflicht von Vermögen stark ausgeweitet wurde.
Justiz
LG Kaiserslautern – Polizistenmorde von Kusel: Am Landgericht Kaiserslautern wurde der Strafprozess wegen der Polizistenmorde von Kusel eröffnet. Nach Verlesung der Anklage, die sich in weiten Teilen auf die Einlassung des mitangeklagten Florian V. stützt, gab der Verteidiger des hauptangeklagten Andreas S. für seinen Mandanten eine Erklärung zum Geschehen in der Tatnacht ab. Andreas S. habe dabei Florian V. als Hauptverantwortlichen benannt, so die Berichte von Welt (Hannelore Crolly), FAZ (Julia Anton), SZ (Benedikt Warmbrunn) und spiegel.de (Julia Jüttner). V. habe sich an den "halblegalen Jagden" beteiligt, um trotz Drogenproblemen seine Familie zu unterstützen. Nachdem V. – so die Erklärung des Verteidigers – in einen Schusswechsel mit beiden Polizisten geriet, habe S. lediglich ein Feuer erwidert, "um zu erreichen, dass nicht weiter auf ihn geschossen wurde". Die Rechtsgrundlagen der Anklage und insbesondere den Unterschied zwischen Mord und Totschlag erklärt swr.de (Frank Bräutigam).
BVerfG – AfD-Ausschussvorsitz: Laut LTO gibt das Bundesverfassungsgericht am morgigen Donnerstag seine Entscheidung zum Eilantrag der Bundestagsfraktion der AfD bekannt, ihre gescheiterten Kandidaten für den Vorsitz dreier Parlamentsausschüsse bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig einzusetzen. Entgegen bisheriger Gepflogenheiten waren die vorgeschlagenen Abgeordneten nach der letzten Bundestagswahl nicht zu Ausschuss-Vorsitzenden gewählt worden und bei geheimen Wahlen durchgefallen.
BGH zu "Judensau"-Relief: Die letztwöchige Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum sogenannten "Judensau"-Relief an der Wittenberger Stadtkirche wird – einschließlich der nachfolgenden Kritik – nun auch im SWR RadioReportRecht (Max Bauer/Jan Henrich) thematisiert.
OLG Frankfurt/M. zu Anrede von nicht-binärer Person: Die Deutsche Bahn muss es ab dem 1. Januar 2023 unterlassen, einer Person nicht-binärer Geschlechtszugehörigkeit im Rahmen von Ticketbuchungen zur Angabe einer der Alternativen Mann oder Frau zu zwingen. Dies entschied nach Berichten von SZ (Marcel Laskus) und LTO das Oberlandesgericht Frankfurt/M. und sprach der klagenden Person wegen erlittener psychischer Belastungen zudem eine Entschädigung von 1.000 Euro zu. In ihrem Bericht weist die Welt (Laurin Meyer) zudem auf vergleichbare Fälle hin.
LG Leipzig zu Bombenbastler: Unter anderem wegen der Herbeiführung von Sprengstoffexplosionen hat das Landgericht Leipzig einen 34-Jährigen zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Dem geständigen Angeklagten bleibe eine Sicherheitsverwahrung erspart, berichtet spiegel.de.
LG Stuttgart – Klimaschutz/Mercedes: Am Landgericht Stuttgart will die Deutsche Umwelthilfe (DUH) das Unternehmen Mercedes-Benz zu einer klimaschonenden Unternehmensstrategie verpflichten, wobei u.a. ab 2030 keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor mehr verkauft werden dürften. Zum Prozessauftakt habe das Gericht erhebliche Zweifel an der Begründetheit der Klage mitgeteilt, so SZ (Christina Kunkel), LTO und FAZ (Gustav Theile) im Unternehmens-Teil. An dem für den 13. September geplanten Verkündungstermin könne aber auch eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erfolgen.
FG Hamburg zu Umsatzsteuer auf St. Pauli: Die Nutzungsüberlassung sogenannter Steigen-Zimmer an Prostituierte ist jedenfalls dann umsatzsteuerpflichtig, wenn die vermietende Partei über die bloße Überlassung der Zimmer hinaus weitere Dienstleistungen anbietet. Nach einem nun veröffentlichten Urteil des Finanzgerichts Hamburg von Mitte Mai war dies im Falle des unterlegenen Klägers der Fall: Das Stundenhotel habe einen bordellartigen Betrieb entwickelt. LTO berichtet.
Impfpass-Fälschung: Für die Rechtslage bis zum 24.11.2021 herrscht in der Rechtsprechung immer noch Uneinigkeit darüber, ob die Fälschung von Impfausweisen nach den speziellen Vorschriften über Gesundheitszeugnisse nach den §§ 277 ff. Strafgesetzbuch (StGB) strafbar ist, und wenn nicht, ob ein Rückgriff auf die "allgemeine" Urkundenfälschung nach § 267 StGB zulässig ist. In einem Gastbeitrag für LTO arbeitet Henning Lorenz, wissenschaftlicher Mitarbeiter, die dogmatischen Voraussetzungen heraus. In einem zweiten Teil legt der Autor die prozessrechtlichen Voraussetzungen für eine diesbezügliche Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs dar. Nach sich widersprechenden Entscheidungen mehrerer Oberlandesgerichte sei diese dringend erforderlich und wohl auch bald erwartbar.
BGH-Gedenktafel für RG-Richter: Über das am Bundesgerichtshof veranstaltete Symposium zum angemessenen Umgang mit einer 1957 installierten Gedenktafel für in sowjetischen Internierungslagern verstorbene 34 Juristen des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft berichtet LTO (Christian Rath). Der Rechtshistoriker Andreas Roth beschrieb, dass 33 der 34 Getöten NSDAP-Mitglieder waren. Auch die Rechtsprechung der meisten sei stark NS-belastet gewesen. Zur Diskussion steht, die Gedenktafel "herauszureißen", zu verdecken oder zu "kontextualisieren". BGH-Präsidentin Bettina Limperg will weiter über die Lösung nachdenken.
Frauen in der Justiz: Anhand einer Statistik des Bundesfamilienministeriums zum Frauenanteil bei Führungspositionen in der Justiz auf Länderebene versucht Marie-Luise Schlicker (Libra) eine Erklärung der teils eklatanten Unterschiede zwischen Bundesländern und Besoldungsstufen. Der damalige Gesetzgeber hatte Frauen 1922 den Zugang zu beiden Staatsexamina eröffnet. Die Erfahrungen der vergangenen 100 Jahre würden "keine ausreichende Erfolgsbilanz" darstellen und offenbarten tatsächlich die Notwendigkeit gezielter Förderung.
Recht in der Welt
Volksrepublik Donezk/Ukraine – Kriegsgefangene: spiegel.de (Dietmar Hipp) befragt Rechtsprofessor Kai Ambos zu seiner rechtlichen Einschätzung der jüngst in der sogenannten Volksrepublik Donezk verhängten Todesstrafen gegen ausländische Kämpfer. Weil diese in die ukrainischen Streitkräfte integriert gewesen seien, seien die Todesurteile "willkürlich". Als Kombattanten genießen die Männer solange Immunität, wie sie sich keine Verstöße gegen das humanitäte Völkerrecht zuschulden kommen lassen. Der Volksrepublik Donezk könne keine Völkerrechtssubjektivität zuerkannt werden, in der Ukraine sei die Todesstrafe abgeschafft. Auch ukrainische Strafverfahren gegen russische Soldaten müssten "kritisch begleitet" werden. So sei bei der ersten Verurteilung eines gefangengenommenen Soldaten das Strafmaß problematisch, außerdem sei ein denkbarer Verbotsirrtum nicht hinreichend geprüft worden.
Großbritannien – Julian Assange: Die SZ (Paul-Anton Krüger) glossiert die "auffällige" Ruhe der Bundesregierung in der Angelegenheit Julian Assanges, dessen Auslieferung in die USA in der vergangenen Woche angeordnet wurde. Offensichtlich hege so "mancher in Berlin die Hoffnung", der britische High Court oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte würden die Auslieferung noch verhindern. Bis dahin beuge man sich, trotz der im Koalitionsvertrag vereinbarten wertebasierten deutschen Außenpolitik, auch im Auswärtigen Amt "diplomatischen Gepflogenheiten".
USA – Bayer: Der US-Supreme Court hat einen Revisionsantrag des Bayer-Konzerns in Sachen des glyphosathaltigen Pflanzenschutzmittels "RoundUp" nicht zur Entscheidung angenommen. Damit sinken die Chancen des Unternehmens, die kostspieligen Auseinandersetzungen in den USA zu beenden, so die FAZ (Jonas Jansen). Nachdem jüngste unterinstanzliche Entscheidungen zu Schadensersatzforderungen wegen Krebsschäden durch "RoundUp" mehrheitlich gewonnen worden seien, wolle Bayer künftig nur noch "strategisch vorteilhafte" Vergleiche eingehen. Die Chancen dieses "Plan B" stellt das Hbl (Bert Fröndhoff/Katharina Kort) optimisitischer dar.
Sonstiges
DAT – Anwaltsberuf: Vor dem erstmals seit drei Jahren wieder in Präsenz stattfindenden Deutschen Anwaltstag schreibt die FAZ (Marcus Jung) im Recht und Steuern-Teil über das sich wandelnde Bild des Berufsstandes. Die Kammern verzeichneten stagnierende oder sogar zurückgehende Mitgliederzahlen. Verantwortlich hierfür sei auch, dass rechtsinteressierte Schulabgänger und -abgängerinnen sich häufiger für juristische Bachelor- und Masterstudiengänge entschieden.
Berufseinstieg von Juristen: Barbara Helten (Libra) beschreibt die Motivlage junger Juristen und Juristinnen bei der Wahl des ersten Arbeitsplatzes nach erfolgreichem Bestehen des zweiten Staatsexamens. Angemessene Vergütung sei heutzutage nicht mehr das alleinige Kriterium, wichtig sei der sogenannten Generation Z hingegen Kanzlei-Klima, regelmäßiges Feedback und Flexibilität.
Professorentitel und Unwürdigkeit: Der Mediziner Sucharit Bhakdi gilt in Querdenker-Kreisen als Ikone, bei dem hierfür zuständigen Ministerium für Wissenschaft und Gesundheit in Rheinland-Pfalz werde dagegen geprüft, ob ihm nicht die Weiterführung seines Professorentitels untersagt werden könne, so spiegel.de (Armin Himmelrath). Das Hochschulgesetz des Landes setze hierfür "Unwürdigkeit" des Betreffenden voraus. Ob sich eine solche aus antisemitischen Äußerungen Bhakdis im vergangenen Bundestags-Wahlkampf ergebe oder bereits aus seinen Verschwörungstheorien rund um Corona, sei offen.
Weltraumrecht/Artemis Accords: spiegel.de (Christoph Seidler) berichtet über Entwicklungen im Weltraumrecht. Hier machen die US-amerikanischen Versuche, ihre als "Artemis Accords" bekannten, bilateralen Verträge zur Weltraumnutzung weltweit durchzusetzen, Fortschritte. Auch Frankreich, das bisher zu den Kritikern gehörte, hat jüngst unterschrieben. In Deutschland teile man aber weiterhin die Auffassung nicht, die Accords stellten die Umsetzung des internationalen Weltraumvertrages von 1967 dar. Daher drohe ein Ausschluss von der Beteiligung an den für die nächsten Jahre geplanten Mondexpeditionen der US-Amerikaner.
Das Letzte zum Schluss
Verleiht Flügel: Einen besonderen Durst verspürten Einbrecher im nordrhein-westfälischen Geilenkirchen. Die SZ berichtet, dass die beiden Männer in einer Nacht insgesamt drei Mal in den Lagerplatz eines Verbrauchermarktes einstiegen. Sie erbeuteten dabei – gut nachvollziehbar über die aktive Videoüberwachung – 40 Paletten mit Energydrinks.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 22. Juni 2022: . In: Legal Tribune Online, 22.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48810 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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