Die juristische Presseschau vom 17. November 2021: EuGH zu Ungarn und Polen / OLG Greifs­wald zu Nord Stream 2 / Bun­des­netza­gentur zu Nord Stream 2

17.11.2021

Der EuGH beanstandet erneut das Asylrecht in Ungarn und die Justizreform in Polen. Die Nord Stream 2-Pipeline siegt vor Gericht und muss dafür eine Niederlage seitens der Bundesnetzagentur hinnehmen. 

Thema des Tages

EuGH/Ungarn – Asylrecht: Der Versuch Ungarns, die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen zu kriminalisieren, wenn sie Flüchtlingen bei der Stellung unzulässiger Asylanträge unterstützen, verstößt gegen Unionsrecht. Die 2018 als "Stop-Soros-Gesetz" in Kraft getretene Regelung beschränkt laut Europäischem Gerichtshof den Zugang schutzbedürftiger Personen zu rechtlicher Beratung. Sie sei auch nicht durch das Ziel, illegale Einwanderung zu verhindern, gerechtfertigt. Auf die Aussichtslosigkeit eines Asylantrags in Ungarn könne es schon deshalb nicht ankommen, weil Ungarn auch Asylanträge für unzulässig erklärt, die nach EU-Recht zulässig sein müssten. Helfenden könne zudem nicht zugemutet werden, selbst eine Prüfung der Erfolgsaussichten eines Asylantrags vorzunehmen. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch)taz (Christian Rath) und LTO.

EuGH/Polen – Justizreform: Ebenfalls als unionsrechtswidrig wurde vom EuGH eine polnische Regelung eingestuft, nach der der Justizminister zur Abordnung von Richter:innen an Strafgerichte höherer Instanz befugt ist. Die jederzeit widerrufbaren Abordnungen ergingen ohne jede Begründung. Zudem sei problematisch, dass der Minister auch als Generalstaatsanwalt fungiere. All dies behindere die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz. Es berichtet LTO. Die Welt (Philipp Fritz)
gibt zudem Reaktionen polnischer Regierungsmitglieder wieder.

EuGH/Ungarn/Polen: Verbundene Berichte zu beiden vorgenannten EuGH-Urteilen bringen FAZ (Marlene Grunert/Thomas Gutschker) und tagesschau.de (Gigi Deppe). Sollte die EU-Kommission den Eindruck gewinnen, dass die Urteile folgenlos bleiben, würden erneute Anträge zur Zahlung von Zwangsgeldern erwartet.

Rechtspolitik

Corona – Impfpflicht: Nach Einschätzung der FAZ (Helene Bubrowski) bewegen sich die mutmaßlich zukünftigen Regierungskoalitionäre in ihren Beratungen auf eine Impfpflicht zumindest für bestimmte Berufsgruppen zu. Hierzu stünde auch ein einrichtungsbezogenes Modell zur Diskussion. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) wolle eine Impfpflicht "für den Fußballbereich" diskutieren. Eine Analyse von tagesschau.de (Claudia Kornmeier) legt die grundsätzliche Zulässigkeit einer – verhältnismäßig ausgestalteten – Impfpflicht dar. Erst kürzlich habe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte "eine recht umfangreiche" Impfpflicht für tschechische Kinder gebilligt. Die zwangsweise Durchsetzung einer Impfung sei nicht denkbar, Sanktionen für die Weigerung müssten sich auf Bußgelder beschränken.

Corona – Infektionsschutzgesetz: Teile der jüngsten Änderungsvorschläge zur Novellierung des Infektionsschutzgesetzes werden von Rechtsprofessor Michael Fuhlrott auf LTO vorgestellt. Er konzentriert sich auf die Wiedereinführung einer Homeoffice-Pflicht und die bundesweite 3G-Vorgabe für Arbeitsstätten. Vor der für den morgigen Donnerstag geplanten Beratung im Bundestag sei die Einführung einer berufsgruppenspezifischen Impfpflicht weiterhin unklar.

Corona – Verfassungsrecht: LTO (Alexander Cremer) sammelt verfassungsrechtliche Einschätzungen zur Zulässigkeit coronabedingter Einschränkungen. In Ermangelung einer verfassungsgerichtlichen Leitentscheidung – ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur im April beschlossenen Bundes-Notbremse wird erst Ende des Monats erwartet – müsse "die Politik sozusagen auf Sicht fahren", könne sich dabei aber auch auf einen weiten Einschätzungsspielraum berufen. In der juristischen Expertise sei es mittlerweile wohl herrschende Meinung, dass etwa eine Impfpflicht zulässig sei.

Windparks: Die FAZ (Rüdiger Soldt) analysiert Pläne der baden-württembergischen Grünen zur Neujustierung von Bürgerbeteiligungsverfahren als Beschneidung direkter Demokratie. Der im Südwesten geplante großflächige Ausbau von Windparks sei ohne "Straffung von Bürgerbeteiligungsverfahren und eine Beschleunigung der Planungsverfahren" illusorisch. Bürgerliche Partizipationsmöglichkeiten sollten daher auf die Standortauswahl der Landesregierung beschränkt werden und "dialogisch" organisiert werden. Die Rechtsanwältinnen Christiane Kappes und Neele Christiansen stellen im Recht und Steuern-Teil der FAZ Maßnahmen vor, durch die Genehmigungsverfahren für Windparks erleichtert würden. Dem Artenschutz könne auch Rechnung getragen werden, wenn die bislang individuenbezogene Prüfung durch eine populationsbezogene Betrachtung ersetzt würde.

Digital Services Act: Der Rat der EU steht vor einer Einigung zum Digital Services Act. Die EU-Verordnung solle den Umgang mit illegalen Netzinhalten regeln, einheitliche Vorgaben für die Moderation von Inhalten machen und mit einer neuen Aufsichtsstruktur vor allem großen Diensten auf die Finger schauen, schreibt netzpolitik.org (Alexander Fanta). Der nun erarbeitete Entwurf verbiete unter anderem die Verwendung sogenannter "Dark Patterns", durch die Verbraucher und Verbraucherinnen beim Kauf von Waren und Dienstleistungen zu Entscheidungen im Sinne des Diensteanbieters verleitet werden.

Justiz

OVG Greifswald zu Nord Stream 2: Eine von der Deutschen Umwelthilfe gegen die Genehmigung der Nord Stream 2-Pipeline erhobene Klage ist vom Oberverwaltungsgericht Greifswald als teilweise unzulässig und darüber hinaus unbegründet abgewiesen worden. Die von der Klägerin geltend gemachten infrastrukturellen und klimaschädlichen Mängel beim russischen Teil der Leitung seien nicht Teil des deutschen Planfeststellungsverfahrens gewesen, so spiegel.de.

BGH zu beA-Nutzung: Vor dem Beginn der aktiven Nutzungspflicht des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs im neuen Jahr kann Anwälten und Anwältinnen, die mit der Nutzung nicht vertraut sind, nicht zugemutet werden, fristwahrende Schriftsätze auf diesem Weg zu versenden. Dies entschied der Bundesgerichtshof im einen nun veröffentlichten Beschluss von Ende September. Im entschiedenen Fall hatte ein defektes Faxgerät des adressierten Gerichts den Zugang verhindert, schreibt LTO (Hasso Suliak). Weil der absendende Anwalt das Postfach bislang nicht aktiv genutzt hatte, sei der Versand per beA damit "keine sich aufdrängende, mit geringfügigem Aufwand nutzbare Alternative".

BVerwG zu Vorkaufsrecht/Milieuschutz: In der vergangenen Woche befand das Bundesverwaltungsgericht, dass die Berliner Praxis, im Anwendungsbereich von Milieuschutzsatzungen ein kommunales Vorkaufsrecht aufgrund der Annahme auszuüben, Erwerber planten Mieterhöhungen, rechtswidrig ist. Rechtsanwalt Carl-Stephan Schweer führt auf LTO in die rechtliche Problematik ein und erläutert die Entscheidung. Bislang sei in der Literatur durchaus vertreten worden, dass Nutzungsabsichten von Erwerbern beachtlich seien. Nun stehe aber fest, dass mit Mitteln des Baugesetzbuches dem städtebaulichen Ziel der Erhaltung der Wohnbevölkerung nicht gedient werden könne. Im Ergebnis sei das Vorkaufsrecht bei vermieteten Bestandsgebäuden aber tatsächlich ungeeignet.

LG Itzehoe – KZ-Sekretärin Stutthof: Im Leitartikel erinnert Ronen Steinke (SZ) daran, dass "die bis heute geltende deutsche Rechtsprechung zum Holocaust, bis hinauf zum Bundesgerichtshof", lediglich drei Täter mit "alleiniger Verantwortung" kenne. Auch der am Landgericht Itzehoe angeklagten Irmgard F. werde lediglich eine Beihilfe zu den zahlreichen Morden im KZ Stutthof vorgeworfen. Dies illustriere, wie beim Betrieb einer "rassistischen Tötungsfabrik" die strafrechtliche  Verantwortung "sozusagen gnädig in der Luft" diffundiere und nur noch Gehilfen übrigblieben. Die in Itzehoe und anderswo nun betriebenen Verfahren gegen Hochbetagte bedeuteten keine Härte, erforderlich wäre sogar die Rückkehr zur "grundlegendsten rechtsstaatlichen Regel", dass Mord mit der höchsten Strafe geahndet wird.

LG Düsseldorf zu Waffenpatenten: Das Landgericht Düsseldorf hat entschieden, dass ein halbautomatisches Gewehr des Suhler Unternehmens Haenel ein Patent des Konkurrenten Heckler & Koch verletzt. Dies setze die Auseinandersetzung beider Firmen über einen Großauftrag der Bundeswehr für das Nachfolgemodell des Gewehrs G36 fort, schreibt die FAZ (Oliver Schmale). Eine Verhandlung in jenem Verfahren sei vom Oberlandesgericht Düsseldorf für Anfang März geplant.

LG Freiburg zu Masken-Attest: Das Landgericht Freiburg hat entschieden, dass die Nutzung eines offensichtlichen Gefälligkeitsattests zur Befreiung von der Maskenpflicht strafbar sein kann. Die Unrichtigkeit des Gesundheitszeugnisse könne sich schon aus dem Umstand ergeben, dass der ausstellende Arzt den Verwender tatsächlich nicht körperlich untersucht habe. Das LG verwies das Verfahren an das örtliche Amtsgericht zurück. spiegel.de berichtet.

LG München I – Alfons Schuhbeck: Nach Informationen der SZ (Klaus Ott) hat die Staatsanwaltschaft München I beim zuständigen Landgericht Anklage gegen den Starkoch Alfons Schuhbeck erhoben. Dem Koch werde vorgeworfen, beim Betrieb zweier Restaurants in München Steuern in Höhe von zwei Millionen Euro hinterzogen zu haben.

LG Berlin zu Negativzinsen: Über die Entscheidung des Landgerichts Berlin, das der Sparda-Bank die Erhebung von Negativzinsen untersagt und die Rückforderung bereits erhobener Negativzinsen anordnet, berichten jetzt auch die SZ (Harald Freiberger) und spiegel.de.

VG Hannover zu "erdnussfreier Schule": Das Verwaltungsgericht Hannover entschied, dass eine Grundschülerin mit lebensgefährlicher Erdnussallergie eine "erdnussfreie Schule" außerhalb ihres Schulbezirks besuchen darf. Das öffentliche Interesse an der Einhaltung der Schulbezirke müsse hier zurücktreten. spiegel.de berichtet.

AG Schwelm zu mutlosen Polizistinnen: Wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung im Amt durch Unterlassen hat das Amtsgericht Schwelm zwei Polizistinnen zu Bewährungsstrafen von jeweils einem Jahr verurteilt. Anfang Mai 2020 kamen beide auf einer Streifenfahrt an einer polizeilichen Verkehrskontrolle vorbei, die gerade eskalierte. Statt einem angeschossenen Kollegen zu helfen, flüchteten beide Polizistinnen. Dass sie Todesangst empfanden, habe das Gericht nachvollziehen können. Aufgrund ihres Berufes ergäben sich aber besondere Pflichten. Die Angeklagten würden bei Rechtskraft des Urteils ihren Beamtenstatus verlieren, erklären SZ (Christian Wernicke) und KStA.

AG Düsseldorf zu Hochstapler: Wegen Verschaffens falscher amtlicher Ausweise hat das Amtsgericht Düsseldorf einen notorischen Hochstapler, der diesmal als Richter aufgetreten war, zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Angeklagte sei um eine Verurteilung wegen schweren Betruges herumgekommen, weil der Geschädigte die einschlägigen Vorstrafen des Angeklagten kannte und sich dennoch zu Geldzahlungen bereit erklärt hatte. Insofern scheide eine Täuschung aus, zitiert LTO aus der mündlichen Urteilsbegründung. 

BSG-Richterwoche: Die FAZ (Marcus Jung) berichtet von der Richterwoche, einer kurzfristig in den virtuellen Raum verlegten Fachkonferenz des Bundessozialgerichts. Dessen Vizepräsident Thomas Voelzke habe in seinem Vortrag eine Prozesswelle um Kurzarbeitergeld während des ersten Corona-Lockdowns prognostiziert. Auseinandersetzungen über entsprechende Rückforderungen hätten das BSG bislang aber ebenso wenig erreicht wie solche über coronabedingten Mehrbedarf von Hartz IV-Empfängern.

Recht in der Welt

Polen – Asylrecht an der Grenze: In einem Interview mit spiegel.de (Steffen Lüdke) legt die Völkerrechtlerin Dana Schmalz dar, dass die gegenwärtig an der polnisch-belarussischen Grenze offenbar praktizierten Pushbacks von Migranten und Migrantinnen illegal sind. Auch wenn die Betreffenden die Grenze irregulär überquert hätten, verstießen Kollektivausweisungen ohne individuelle Prüfung von Asylansprüchen gegen Unionsrecht und die Europäische Menschenrechtskonvention. Es müsse grundsätzlich möglich sein, so Schmalz, an Grenzübergängen Asylanträge zu stellen. Gegen den Bau einer Sperranlage gebe es keine rechtlichen Bedenken.

Italien – "Pestizid-Tirol": Der SWR RadioReportRecht (Hannah Eberhard/Gigi Deppe) behandelt den Fall des Bundestagsabgeordneten Karl Bär (Grüne), der sich nach Kritik am Pestizideinsatz in der Südtiroler Landwirtschaft dort strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt sieht. In diesem Zusammenhang behandelt der Beitrag auch die Bestrebungen des EU-Parlaments, strategische Prozesse, die allein der Abschreckung kritischer Stimmen dienen, zu unterbinden.

Vatikan – Prozess gegen Kardinal: Dem Vatikan steht ein Justizskandal bevor, schreibt die FAZ (Matthias Rüb). Das Verfahren gegen Kardinal Becciu, dem gemeinsam mit anderen Angeklagten u.a. Unterschlagung vorgeworfen wird, könne ein schnelles Ende nehmen. Der Anklage sei es bislang nicht gelungen, handfeste Beweise für das von ihr behauptete "dubiose Finanzgebaren" der Angeklagten beizubringen.

Belarus – Politische Gefangene: zeit.de (Ljubow Kasparowitsch) beschreibt die Schicksale dreier Menschen aus Belarus, die wegen ihrer Beteiligung an den Protesten gegen die Wahlfälschungen bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr in U-Haft sitzen oder zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden.

Sonstiges

Bundesnetzagentur und Nord Stream 2: Die Bundesnetzagentur hat die Zertifizierung der Betreibergesellschaft der Nord Stream 2-Pipeline auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Die Nord Stream 2-AG mit Sitz in der Schweiz und im Eigentum des Gazprom-Konzerns erfülle derzeit nicht die Bedingungen für einen unabhängigen Netzbetrieb, schreibt die SZ (Michael Bauchmüller/Paul-Anton Krüger). Erforderlich sei eine Organisation "in einer Rechtsform nach deutschem Recht". Ob die für das Genehmigungsverfahren verbleibenden zwei Monate hierfür ausreichten, sei fraglich.

Öffentlichkeitsarbeit von Behörden: Keineswegs begeistert ist Marvin Damian Hubig auf JuWissBlog über die nun auch in der Twittersphäre betriebene behördliche Öffentlichkeitsarbeit. Dass sich etwa der Niedersächsische Verfassungsschutz mit einem "Memefriday" über das Anwerben und Aufklären hinaus bewusst "an jugendliche User:innen" anbiedere, sei keineswegs komisch, vielmehr eine schlichte Verletzung des Sachlichkeitsgebotes.

Das Letzte

Überholspur: Die Karriere der politischen Nachwuchshoffnung Philipp Amthor (CDU) konnten bislang weder Lobbyvorwürfe noch fragwürdige Fotomotive ausbremsen. spiegel.de weiß zu berichten, dass der Bundestagsabgeordnete auch weiterhin flott unterwegs ist. Vom Amtsgericht Pasewalk wurde er jüngst wegen einer Geschwindigkeitsübertretung zu einem einmonatigen Fahrverbot verdonnert.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage. 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 17. November 2021: . In: Legal Tribune Online, 17.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46667 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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