Auch der BGH entschied, dass das "Judensau"-Relief an der Wittenberger Stadtkirche nicht entfernt werden muss. DAV kritisiert schleppende Digitalisierung der Gerichte. Ein Audi-Mitarbeiter möchte nicht gendergerecht angesprochen werden.
Thema des Tages
BGH zu "Judensau"-Relief: Wie schon die Vorinstanzen entschied nun auch der Bundesgerichtshof, dass das sogenannte "Judensau"-Relief an der Wittenberger Stadtkirche nicht entfernt werden muss. Isoliert betrachtet verhöhne und verunglimpfe das mittelalterliche Relief zwar das Judentum, so der BGH. Eine 1988 gefertigte künstlerische Bodenplatte und ein informierender Schrägaufsteller wandle das "Schandmal" jedoch zu einem "Mahnmal". Durch diese Distanzierung von der diffamierenden und judenfeindlichen Aussage des Reliefs habe die evangelische Kirchengemeinde die Rechtsverletzung beseitigt. An der Klagebefugnis des Klägers Michael Düllmann hatte der BGH ebenso wenig Zweifel wie an der Passivlegitimation der obsiegenden Kirchengemeinde. Über die Entscheidung berichten u.a. FAZ (Marlene Grunert), taz (Christian Rath), spiegel.de (Dietmar Hipp) und LTO.
Jost Müller-Neuhof (Tsp) kommentiert, dass die Klage zwar abgewiesen sei, aber trotzdem nicht von einem verlorenen Prozess gesprochen werden müsse. In der auch weiterhin gebotenen Einzelfallbetrachtung seien "die hiesigen christlichen Gemeinden" dazu aufgefordert, vorhandene Schmähungen und ihre Kontextualisierung "mit selbstkritischer Schärfe in den Blick zu nehmen". Hierbei müsse auch Berücksichtigung finden, "dass der im Christentum jahrhundertelang propagierte Judenhass den Holocaust mit ermöglicht hat." Felix W. Zimmermann (LTO) warnt hingegen, dass die Distanzierung und die öffentliche Debatte darum die Aufmerksamkeit für das Relief noch erhöhe. Die "Judensau" werde so "zu einer Art Hauptattraktion der Stadtkirche in Wittenberg". Die Bilder wirkten dabei "leider nachhaltiger als jede textliche Distanzierung". "Schandmal bleibt Schandmal", meint der Autor. Soweit die beklagte Kirche mehr sein wolle "als ein Museum", sollte sie auch ihre äußere Fassade "an die Gegenwart anpassen". Reinhard Müller (FAZ) hält dagegen im Leitartikel "eine solche ideologische Entsorgung von vermeintlichem Ballast" für "recht billig." Tatsächlich stünden wir "nicht nur auf den Schultern von Riesen, sondern auch von Völkermördern, Rassisten und Judenhassern." Die zum Relief gehörende Erklärung mache hinreichend deutlich, dass "die alte Botschaft" nicht mehr gelte und gebe so auch Brüche und Gelerntes wieder.
Rechtspolitik
Kartellrecht und Energiepreise: Der Vorschlag von Wirtschaftsminister Robert Habek (Grüne) zu einer Verschärfung des Kartellrechts ist Thema eines Interviews von Hendrik Wieduwilt (Libra) mit Rechtsprofessor Daniel Zimmer. Dieser meint, dass missbrauchsunabhängige Eingriffsbefugnisse von Kartellbehörden keineswegs neu seien. Es sei jedoch erforderlich, die von einer Entflechtung betroffenen Unternehmen angemessen zu entschädigen. In der Zeit argumentieren Mark Schieritz und Roman Pletter Pro und Kontra zu einer staatlichen Gewinnabschöpfung bei Mineralölkonzernen. Ein separater Überblick der Zeit (Mark Schieritz) beschreibt, welche Instrumente derzeit diskutiert werden, um die Marktmacht von Unternehmen zu begrenzen und zu reduzieren.
Taxonomie: Die Ausschüsse für Umwelt und Wirtschaft des Europaparlaments haben in einem gemeinsamen Votum überraschend gegen die von der EU-Kommission beschlossene Einstufung von Atomkraft und Gas als nachhaltige Finanzanlage gestimmt. Darüber berichtet die FAZ (Hendrick Kafsack) und macht darauf aufmerksam, das der Kommissions-Vorschlag als sogenannter delegierter Rechtsakt formuliert worden ist. Dessen Ablehnung durch das Parlament erfordere eine absolute Mehrheit der Abgeordneten. Komme diese nicht zustande, treten die Taxonomieregeln im nächsten Jahr automatisch in Kraft.
Michael Bauchmüller (SZ) begrüßt, dass das EU-Parlament von der Kommission auch gefordert habe, vor zukünftigen delegierten Rechtsakten angehört zu werden. Etabliere sich diese Ansicht, hätte die "irre" Idee einer "grünen" Taxonomie am Ende "etwas Gutes gehabt."
Lieferketten und Menschenrechte: Die FAZ (Heike Göbel) berichtet über ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, das am heutigen Mittwoch veröffentlicht wird. Das Gutachten schlage eine Liste "sicherer Herkunftsländer" vor. Diese Länder mit u.a. einer "funktionierenden rechtsstaatliche Ordnung" sollten einer geringeren Kontrolle unterliegen. Bezüglich der geplanten Europäischen Lieferketten-Richtlinie warne das Gutachten vor zu scharfen Standards und mache auf mögliche wettbewerbsrechtliche Verstöße durch erforderliche Absprachen aufmerksam.
Justiz
Digitalisierung der Justiz: In einem Gastbeitrag für LTO beschreibt Martin Schafhausen (Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins), dass Anwält:innen den Zweck des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten erfüllten und nun den Eindruck bekämen, ihre "Vorleistung" diene lediglich dazu, "richterliche Druckstraßen zu beliefern". Es sei notwendig, Gerichte zur ausschließlich elektronischen Kommunikation zu verpflichten, Vorarbeiten für die 2026 geplante Einführung der elektronischen Akte müssten jetzt erbracht werden. Der in Aussicht gestellte Digitalpakt sollte darüber hinaus die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Videoverhandlungen nicht mehr eine Ausnahme sind. KI-Tools könnten zumindest in bestimmten Verfahren sinnvoll automatisierte Entscheidungen treffen. Über die in einer vergleichenden Untersuchung von Bucerius Law School, Boston Consulting Group und Legal Tech Verband aufgedeckten Mängel bei der Digitalisierung der deutschen Justiz berichtet nun auch die FAZ (Katja Gelinsky).
LG Ingolstadt – Gendergerechte Sprache: Das Landgericht Ingolstadt verhandelte über die Unterlassungsklage eines Audi-Mitarbeiters, der verhindern will, dass sein Arbeitgeber mit ihm gendergerecht unter Verwendung des sogenannten Gender-Gaps kommuniziert. Einen Vergleichsvorschlag des Gerichts, nach dem der Autobauer den Mitarbeiter weiterhin in herkömmlicher Sprache anschreibt, habe das beklagte Unternehmen abgelehnt, in der Praxis sei der Vorschlag "nicht handhabbar". Ein Verkündungstermin wurde vom Gericht auf den 29. Juli festgelegt. Die SZ (Christina Kunkel) berichtet.
BVerfG – GASP-Informationen: Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über Organklagen der Bundestagsfraktionen von Grünen und Linken über den Umfang der Informationspflichten der Bundesregierung zur europäischen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die aus Art. 23 Grundgesetz zu folgernde Pflicht sei unter anderem bei der Seenotrettungsoperation Sofia im Mittelmeer verletzt worden, so die Fraktionen. Für das Auswärtige Amt habe Staatssekretärin Susanne Baumann dargelegt, dass innerhalb der GASP eigene Regeln gelten, die Regierung ihre Informationspflichten gegenüber dem Bundestag aber sehr ernst nehme. Ein Urteil wird in einigen Monaten erwartet. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch) und LTO.
BGH zu Myright/Dieselskandal: Über das Urteil des Bundesgerichtshofs, dass der Inkassodienstleister Myright – nach entsprechender Abtretung - auch Schadensersatzforderungen Schweizer Dieselfahrer klageweise geltend machen kann, berichtet nun auch die FAZ (Marcus Jung). In einem separaten Kommentar macht Marcus Jung (FAZ) im Unternehmens-Teil auf die "Sprengkraft" des Urteils aufmerksam. In aktuellen Münchner Verfahren "rund um das LKW-Kartell" sei das dortige Abtretungsmodell noch für nichtig erklärt worden. Die jetzt ausformulierte Rechtsansicht des BGH dürfte die Vergleichsbereitschaft betroffener Unternehmen erhöhen, auch wenn noch nicht von "amerikanischen Verhältnissen" gesprochen werden könne.
LG Kaiserslautern – Polizistenmorde von Kusel: In der nächsten Woche beginnt am Landgericht Kaiserslautern der Strafprozess wegen der Polizistenmorde von Kusel. Andreas S. ist wegen zweifachen Mordes angeklagt, sein Begleiter Florian V. wegen gewerbsmäßiger Jagdwilderei und Strafvereitelung. In einer Reportage beschreibt die Zeit (Niklas Bessenbach u.a.), dass beide Angeklagte umfangreiche Gerichtserfahrungen aufweisen und S. dennoch jahrelangen Umgang mit Waffen pflegen konnte.
LG Dresden – Einbruch ins Grüne Gewölbe: Der Strafprozess wurde am Landgericht Dresden mit der Vernehmung Berliner Polizisten fortgesetzt. Diese beschrieben eine Fahrzeugkontrolle von drei Angeklagten nur wenige Stunden vor dem Einbruch. Die hierbei festgestellten Brecheisen und Bolzenschneider hätten kein Aufsehen erregt, weil es in Berlin "nicht ganz ungewöhnlich {sei}, wenn jemand so etwas im Kofferraum hat", zitiert die FAZ (Stefan Locke) eine vernommene Polizistin.
AG Neuss zu AfD-MdEP Beck: Zu einer Geldstrafe wegen Titelmissbrauchs ist der Europaageordnete Gunnar Beck (AfD) vom Amtsgericht Neuss verurteilt worden. Im Verfahren habe sich Beck damit verteidigt, dass die Öffentlichkeit mit seinen englischen Berufsbezeichnungen "Reader" und "Barrister at law" nichts habe anfangen können und er sich daher als "Professor und Fachanwalt für EU-Recht" bezeichnet habe. Dies berichtet LTO.
VG Köln – Auskunftsrechte für juristische Personen: Unterstützt von der Gesellschaft für Freiheitsrechte wird das Künstlerkollektiv Peng! am heutigen Mittwoch am Verwaltungsgericht Köln eine Untätigkeitsklage gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz erheben. Unter Berufung auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung habe das Kollektiv beim Amt nachgefragt, ob der Verein beobachtet und erhobene Daten gespeichert werden, so netzpolitik.org (Markus Reuter). Eine Antwort habe der Verfassungsschutz nicht erteilt, weil Auskunftsrechte lediglich natürlichen Personen zustünden. Ob diese Rechtsansicht richtig ist, muss nun das VG klären.
StA Berlin – Masken-Deal: Wegen eines möglichen Schmiergeldverdachts ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin zu einem Masken-Deal aus der Hochphase des ersten Corona-Lockdowns, berichtet die SZ (Markus Grill/Klaus Ott) exklusiv. Am 24. April 2020 hatte das Bundesgesundheitsministerium bei der Schweizer Firma Emix Masken zu einem Preis von 540 Millionen Euro bestellt, obgleich der damalige Minister Jens Spahn (CDU) nur kurz zuvor einen geringeren Bedarf kommuniziert hatte und bereits ein Angebotsverfahrens lief. Die jetzigen Ermittlungen richteten sich nicht gegen Spahn persönlich.
Justizkritik: In der Serie "Das gelähmte Land" lässt bild.de (Nicole Biewald u.a.) den Dinslakener Amtsrichter Thorsten Schleif und den Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel zu Wort kommen. Die auch als Buchautoren bekannten Kritiker monieren Personalmangel bei Justiz und Polizei und zu milde Urteile etwa gegenüber Gewaltverbrechern. Schleif schlägt zudem vor, die mögliche Dauer einer Untersuchungshaft gesetzlich zu staffeln.
Recht in der Welt
EGMR – GB/Asylverfahren in Ruanda: Nach Bericht von spiegel.de hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit einer einstweiligen Verfügung den für die vergangene Nacht geplanten Abschiebeflug von Großbritannien nach Ruanda gestoppt. Mit dem Flug habe die britische Regierung Menschen, die illegal in das Land gekommen waren, unabhängig von ihrer Herkunft nach Ostafrika verbringen wollen, um dort ihre Asylanträge bearbeiten zu lassen. In Frage-und-Antwort-Form erklärt die Welt (Stefanie Bolzen/Christian Putsch) die Hintergründe der sogenannten "Ruanda-Partnerschaft".
Schweiz – Sepp Blatter/Michel Platini: Das Strafverfahren gegen die früheren FIFA-Funktionäre Sepp Blatter und Michel Platini hat eine spektakuläre sportpolitische Wendung erhalten. Vor Gericht bestritt der damalige FIFA-Finanzchef und Blatter-Vertraute Markus Kattner, dass er der Schweizer Bundesanwaltschaft Hinweise auf die zur Verhandlung stehenden Millionenzahlung der FiFA an Platine gegeben habe. Damit verdichteten sich die Hinweise auf gezielte Anschwärzungen aus dem Infantino-Lager, die dann zur Inthronisierung des nun amtierenden FIFA-Präsidenten Gianni Infantino führten. Die SZ (Thomas Kistner) berichtet.
Österreich – Josef Fritzl: In ihrer Rubrik "Akteneinsicht" veröffentlicht die SZ (Hans Holzhaider) eine Prozessreportage zum Fall Josef Fritzl aus dem Jahr 2009. Separat erinnert die SZ (Hans Holzhaider) daran, dass Fritzl zwischenzeitlich seinen Namen änderte. Ein noch nicht rechtskräftiger Beschluss des Landesgericht Krems vom April habe seine Verlegung in den Normalvollzug verfügt. Mit Rechtskraft könnte der vormalige Fritzl im nächsten Jahr seine frühzeitige Entlassung beantragen.
USA – Deutsche Bank: Ein New Yorker Bezirksgericht hat die Zulässigkeit einer Sammelklage von Aktionären der Deutschen Bank festgestellt. Die SZ schreibt, dass sich das Geldhaus damit auf Entschädigungsforderungen einstellen kann, die mit unzureichenden Kontrollen vermögender Kunden und den hieraus entstandenen Kursverlusten begründet werden.
Afghanistan – Rechtssystem: Für den FAZ-Einspruch beschreibt Sarah Schmid-Nürnberg (Hanns-Seidel-Stiftung) die Rechtsentwicklung in Afghanistan und macht ein Scheitern der Bemühungen zum Aufbau "rechtsstaatlicher Minimalstrukturen" aus. Die Korruption im Justizsystem habe hierzu beigetragen und den Taliban die Chance eröffnet, ihre Schattengerichtsbarkeit zu etablieren. Hieraus sei zu folgern, dass die "Ausbildung von Richtern" für das Gelingen internationaler Einsätze "genauso essentiell sei wie der Aufbau von Armee und Polizei". Es gebe "keine einheitliche Blaupause für den Aufbau der Rechtsstaatlichkeit", diese sei vielmehr "in eine ganzheitliche Strategie einzubetten".
Sonstiges
Edith Kindermann im Interview: Hendrik Wieduwilt (Libra) fasst ein Video-Interview mit Edith Kindermann zusammen. Die Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins spricht über die Gründe für eine anwaltliche Tätigkeit, deren Digitalisierung, die Zukunft des von ihr geführten Verbandes und ihre Wünsche an den Bundesjustizminister.
EZB und Klimaschutz: In einem Gastbeitrag für den Staat und Recht-Teil der FAZ legt Rechtsanwältin Sara Dietz dar, dass und wie die Europäische Zentralbank mit ihrem Vorhaben, zum Zwecke des Klimaschutzes nachhaltige Unternehmen zu fördern, ihr Mandat überschreite. Neben der Klimapolitik gebe es zahlreiche andere förderungswürdige Gemeinwohlbelange. Die EZB erodiere ihre Legitimationsbasis als unabhängige Behörde.
Das Letzte
Schiedlich friedlich: Über ein herzerwärmendes Beispiel des Nutzens friedlicher Verhandlungen berichten bild.de (Ingrid Raagaard) und taz (Reinhard Wolff). Nach jahrzehntelangem, hauptsächlich durch hinterlassene Flaggen und Flaschen mit Hochprozentigem ausgetragenem Streit über die Zugehörigkeit der Hans-Insel im arktischen Nordatlantik haben sich Dänemark und Kanada über eine Grenzziehung verständigt. Der 1,3 Quadratkilometer große Felsen wird nun geteilt.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.
Am Freitag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 15. Juni 2022: . In: Legal Tribune Online, 15.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48753 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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