Die juristische Presseschau vom 13. April 2022: Bedeu­tungs­ge­winn des IStGH / Neu­start des Nor­men­kon­troll­rats / Buß­geld gegen Boris Johnson

13.04.2022

Bewirkt der russische Angriff auf die Ukraine eine neue Ära des Internationalen Strafrechts? Ist der Normenkontrollrat beim Justizministerium effizienter als beim Kanzleramt? Ist ein Bußgeld für den Premierminister ein Rücktrittsgrund?

Thema des Tages - Ukraine – Krieg und Recht

IStGH – Ukraine: "Schon jetzt ist die internationale Strafjustiz zu einem bedeutenden politischen Faktor geworden, vielleicht mehr als je zuvor in einer Situation des Krieges", stellt die SZ (Ronen Steinke) fest. Auch wenn derzeit nicht absehbar sei, ob sich Putin jemals vor Gericht verantworten müsse, isolierten die Ermittlungen die internationale Bewegungsfreiheit der russischen Machtelite. Bei der Einreise in eines der 123 Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts müssten sie mit der Auslieferung nach Den Haag rechnen. Weder Kriegsverbrechen noch Haftbefehle verjährten. Die internationale Politik könne Wladimir Putin auch nicht einfach wieder integrieren, denn der IStGH sei unabhängig. In einem separaten Interview mit der SZ (Ronen Steinke) spricht der frühere Richter am IStGH, Cuno Tarfusser, über seine Einschätzung der gegenwärtig in der Ukraine verübten Taten und die Notwendigkeit, Ermittlungsergebnisse streng zu prüfen, um nicht getäuscht zu werden.

Der SWR RadioReportRecht (Christoph Kehlbach) spricht mit dem Freiburger Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann, früher Staatsanwalt am Internationalen Jugoslawien-Tribunal (ICTY), über die Aussichten, Wladimir Putin wegen russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine in Den Haag anzuklagen sowie die Schwierigkeiten beim Nachweis eines Völkermordes.

Dunja Ramadan (SZ) kommentiert, dass Taten wie jene in Butscha hätten "verhindert werden können, wenn man Putin früher zur Rechenschaft gezogen hätte." Die Terrorisierung der syrischen Zivilbevölkerung durch russische Truppen sei gut dokumentiert, jedoch ohne merkbare Konsequenzen geblieben.

Sanktionen gegen Russland/Gas: Als mögliche Folge des Krieges wird sowohl in Brüssel als auch in Berlin weiterhin ein Importstopp für russisches Erdgas diskutiert. Rechtsanwältin Miriam Vollmer erklärt im Verfassungsblog die im Embargofall greifende "energierechtliche Notfallkaskade". Erst bei Ausrufung eines Gasnotfalls dürften ordnungsrechtliche Maßnahmen ergriffen werden und schließlich auch "das gesamte Energierecht – und erhebliche Teile des Zivilrechts dazu" faktisch außer Kraft gesetzt werden. Weil Infrastruktur im Gegensatz zu Industrieunternehmen zum geschützten Kundenkreis gehöre, könne es nicht überraschen, dass sich gerade "die Wirtschaft" entschieden gegen ein Embargo ausspreche.

Sanktionen gegen Russland/Sport: In der vergangenen Woche entschied das Schiedsgericht des Internationalen Rennrodel-Verbandes FIL, dass der von der FIL-Exekutive Anfang März beschlossene Ausschluss des russischen Verbandes aufzuheben sei. Der "kollektive Ausschluss russischer Athleten, Trainer und Offiziellen" verletze die olympische Charta, indem er an die Nationalität Betroffener anknüpfe. Dies berichtet die FAZ (Anno Hecker/Alexander Davydov) in ihrem Sport-Teil.

Russland – Kremlkritiker Kara-Mursa: Die SZ (Silke Bigalke) porträtiert den russischen Oppositionellen und Kriegsgegner Wladimir Kara-Mursa, einer der wenigen im Land verbliebenen Kritiker des russischen Präsidenten. Kara-Mursa wurde soeben wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu 15 Tagen Haft verurteilt.

Rechtspolitik

Normenkontrollrat: Die zehn Mitglieder des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) werden am heutigen Mittwoch von der Bundesregierung bestätigt. Das unabhängige Beratungsgremium der Regierung für Bürokratieabbau wird nun vom Unternehmer und FDP-Mitglied Lutz Goebel geleitet. Im Interview mit dem Hbl (Heike Anger) erklärt der neue Chef seine Aufgaben und Vorhaben. Unter anderem forderte er, für jedes neue Gesetz zwei bestehende Gesetze zu streichen. Den Grund für den Wechsel des NKR vom Kanzleramt zum Justizministerium kenne er nicht.

Ökozid am IStGH: Die Zeit (Christiane Grefe u.a.) stellt die Bemühungen von Umweltorganisationen dar, Ökozid als strafbare Handlung in den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs aufzunehmen. Andere im rechtlichen Umweltschutz Tätige wie die Anwältin Roda Verheyen halten dieses Vorgehen dagegen für zu langwierig. Sinnvoller seien etwa die Erweiterung des Verbandsklagerechts – oder die in Spanien möglicherweise bevorstehende Verleihung einer Rechtspersönlichkeit an ein Gewässer.

Mietwucher: Die von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vorbereitete Stellungnahme des Kabinetts zum Gesetzentwurf des Bundesrats zur Bekämpfung von Mietwucher liegt der taz (Christian Rath) vor. Sollte – wie im Gesetzentwurf vorgesehen – auf das Erfordernis eines Ausnutzens einer Mangellage verzichtet werden, entfalle damit möglicherweise ein ahndungswürdiges Unrecht. Dies betreffe das verfassungsrechtliche Schuldprinzip. So habe schon Buschmanns Amtsvorgängerin Christine Lambrecht (SPD) argumentiert.

Die von Justizminister Buschmann vorgebrachten Bedenken wirken für Jasmin Kalarickal (taz) wie "vorgeschoben". Mieten würden schließlich "bewusst festgesetzt und nicht aus Versehen."

Mietendeckel: Das Münchner Ifo-Institut hat eine auf der Auswertung von Angeboten eines Immobilienportals beruhende Analyse des verfassungsgerichtlich gescheiterten Berliner Mietendeckels vorgelegt. Die Mieten betroffener Wohnungen seien demnach deutlich gesunken, wobei dieser Effekt auch immer noch anhalte. Gleichzeitig habe sich das Angebot freier Mietwohnungen geradezu dramatisch verknappt. Es berichtet spiegel.de (Michael Kröger). 

Kartellrecht und Energiepreise: Gesetzgeberische Pläne, dem Preisanstieg bei Mineralöl durch erweiterte Ermittlungsbefugnisse des Bundeskartellamts zu begegnen, beschreibt nun auch Rechtsanwältin Michaela Westrup im Recht und Steuern-Teil der FAZ. Daneben solle die Markttransparenzstelle für Kraftstoffe über eine neue Sektoruntersuchung bei Raffinerien und Großhändlern vermutete Wettbewerbsprobleme aufspüren. Betroffenen Unternehmen sei zu raten, "die (kartellrechtliche) Compliance einmal mehr zur Chefsache zu machen".

Windenergie und Klimaschutz: Das Bundesumweltministerium und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz stellten jüngst ein gemeinsames Eckpunktepapier zur "Beschleunigung des naturverträglichen Ausbaus der Windenergie an Land" vor. Zentrales Thema sei die Akzeptanz heutiger ökologischer Mikroschäden zum Zwecke der Abwehr späterer ökologischer Makroschäden, analysiert Rechtsprofessor Klaus F. Gärditz im Recht und Steuern-Teil der FAZ. Dieses Ziel könne indes nur durch eine klimaschutzpolitische Fortentwicklung des europäischen Naturschutzrechts erreicht werden.

Justiz

BGH zu Angriff auf Synagoge: Der Bundesgerichtshof hat die von zwei Nebenklägern eingelegten Revisionen im Fall des Attentäters von Halle verworfen. Die Revisionsführer waren im Randgeschehen des Anschlags verletzt worden. Dass der Attentäter diesbezüglich wegen fahrlässiger Körperverletzung bzw. überhaupt nicht belangt wurde, sei rechtsfehlerfrei, so LTO zum jetzigen Beschluss, mit dem die lebenslängliche Strafe des Mannes nun rechtskräftig ist.

OVG Berlin-BB zu RAK-Kontrolle: Durch Abweisung der von der Rechtsanwaltskammer Brandenburg und dem Versorgungswerk für Rechtsanwält:innen eingelegten Berufungen hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Ende vergangener Woche eine langjährige Auseinandersetzung mit dem Landesrechnungshof beendet. Dieser darf somit die Haushalts- und Wirtschaftsführung von Kammer und Versorgungswerk prüfen. Eine Revision wurde nicht zugelassen. Bis zuletzt hätten sich die berufsständischen Organisationen vehement gegen den vermeintlichen Eingriff in ihr jeweiliges Selbstbestimmungsrecht zur Wehr gesetzt, schreibt LTO (Hasso Suliak). Vor Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde oder Erhebung einer Verfassungsbeschwerde werde jedoch erst die schriftliche Urteilsbegründung abgewartet.

OLG Stuttgart zu Dieselskandal/Porsche-Anleger: Das Oberlandesgericht Stuttgart hat eine gegen die Porsche SE erhobene Schadensersatzklage einer US-amerikanischen Fondsgesellschaft abgewiesen. Der von der Klägerin geltend gemachte Kursdifferenzschaden aufgrund behaupteter unzureichender Kapitalmarktinformationen im Zusammenhang der Diesel-Affäre sei jedenfalls durch Leerverkäufe mit VW-Aktien ausgeglichen, so das OLG (anders als die Vorinstanz). Die FAZ berichtet in ihrem Unternehmens-Teil.

LSG BaWü zu Cannabis-Behandlung: Ein unter ADHS leidender Kläger ist am Landessozialgericht Baden-Württemberg mit dem Versuch gescheitert, sich von der beklagten Krankenkasse eine Cannabis-Therapie finanzieren zu lassen. Wie schon die Vorinstanz entschied das LSG Mitte März, dass die Aufmerksamkeitsstörung bereits nicht schwerwiegend und Cannabis nicht therapiegeeignet für ADHS sei. Das vom Kläger vorgelegte Gutachten seines Psychiaters sei unzureichend, weil einseitig auf seinen Angaben beruhend. Es berichtet LTO.

LG Düsseldorf zu eBay-Schiffsauktion: Das Landgericht Düsseldorf hat entschieden, dass der über eine Auktion abgewickelte Verkauf eines Ausflugsschiffes wirksam und die vormalige Eigentümerin zur Herausgabe verpflichtet ist. Die von der Beklagten geltend gemachten Unregelmäßigkeiten der Versteigerung seien von ihr selbst zu verantworten, besondere Formvorschriften kämen nicht zum Tragen, so LTO zum Urteil.

LG Wuppertal – Säureanschlag auf Manager: Wegen gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung hat die Staatsanwaltschaft Wuppertal Anklage gegen einen Belgier erhoben. Der Mann soll vor vier Jahren den Manager Bernhard Günther mit hochkonzentrierter Säure schwer verletzt haben, schreibt die SZ.

VG Freiburg zu Auslands-Teilnahme an Videoverhandlung: Nach einem vor einem Monat ergangenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg ist die im Ausland (Schweiz) stattfindende Teilnahme an einer deutschen Gerichtsverhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung zulässig. Mit der Teilnahme würden keine Hoheitsrechte des ausländischen Staates verletzt, weil sich der Ort der Gerichtsverhandlung nach wie vor im Inland befinde. Über die wohl erste veröffentlichte Entscheidung zu dieser Frage – die zudem im Gegensatz zur im Schrifttum herrschenden Ansicht steht – berichtet der ZPO-Blog (Benedikt Windau).

Recht in der Welt

Großbritannien – Boris Johnson: Wegen Verstößen gegen coronabedingte Lockdownbestimmungen in den Jahren 2020 und 2021 hat die britische Polizei gegen Premierminister Boris Johnson und Finanzminister Rishi Sunak Bußgeldbescheide erlassen. Den Politikern wird die Teilnahme an Partys im Amtssitz des Premierministers vorgeworfen, schreiben FAZ (Oliver Kühn, ausführlicher auf faz.net) und Hbl (Torsten Riecke). Nach dem Bericht von spiegel.de (Jörg Schindler) verdanke es Johnson dem russischen Angriff auf die Ukraine, dass die "Partygate" genannte Affäre mittlerweile aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Somit werden die jetzigen Bußgelder wohl nicht zum Rücktritt der Politiker führen.

EGMR/Dänemark – Suizidbeihilfe: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die dänische Verurteilung eines Arztes wegen Beihilfe zum Suizid nicht beanstandet. Entgegen der Darlegung des Beschwerdeführers sei seine Meinungsfreiheit nicht verletzt worden, seine Verurteilung beziehe sich dagegen auf konkrete Hilfestellungen. Die Europäische Menschenrechtskonvention kenne kein Recht auf assistierte Selbsttötung, schreibt die taz (Christian Rath) zur Entscheidung.

Spanien – Rechte einer Lagune: Der spanische Cortes hat mit großer Mehrheit beschlossen, eine Volksinitiative, die der Salzwasserlagune Mar Menor die Rechtspersönlichkeit verleihen will, in einen konkreten Gesetzentwurf umzuwandeln. Sollte der Gesetzentwurf wie geplant im Sommer endgültig beschlossen werden, kommen Eigenrechte der Natur damit auch in der europäischen Rechtspraxis an, schreibt die Doktorandin Jula Zenetti im UmweltimRecht-Blog.

USA – Flächenbrände: Ein US-amerikanischer Energieversorger hat sich mit mehreren kalifornischen Bezirken auf die Zahlung von Schadenersatz in Höhe von mehr als 55 Millionen Dollar geeinigt. Im Gegenzug verzichtet die Staatsanwaltschaft auf Anklagen gegen das Unternehmen, dessen veraltete oder defekte Stromleitungen Flächenbrände im Bundesstaat ausgelöst oder begünstigt haben sollen, meldet die FAZ (Christiane Heil).

Juristische Ausbildung

Studienabschluss: Forderungen nach einer Reform der Abschlussprüfung für Jurastudierende sind so alt wie die preußische Ausbildungsordnung von 1869, schreibt FAZ-Einspruch (Henrik Rampe/Johanna Schley). Während viele die gedrängte Form des schriftlichen Staatsexamens kritisierten und eine Öffnung etwa auch für einen Bachelor-Abschluss forderten, bündele die Initiative "iur.reform" Thesen und stelle sie online zur Abstimmung.

Sonstiges

Anwaltliche Intervision: LTO-Karriere (Franziska Kring) interviewt die Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Anwaltvereins, Sylvia Ruge, zu dem von ihr vorangetriebenen Projekt der Intervision. Hierbei handelt es sich um kollegiale Beratung zu beruflichen Themen in moderierten Gruppen. Ruge erklärt Inhalt, Sinn, Zweck und Ablauf der bislang in sozialen und psychologischen Berufen verbreiteten Intervision und erläutert mögliche Vorteile für die Anwaltschaft.

Schmitt/Böckenförde: Ein 870 Seiten dicker Band, herausgegeben und kommentiert von Reinhard Mehring, versammelt 468 Karten und Briefe der Staatsrechtler Carl Schmitt und Ernst-Wolfgang Böckenförde. In ihrem Geisteswissenschaften-Teil veröffentlicht die FAZ (Patrick Bahners) vier Proben des Briefwechsels und annotiert diese.

Happy Slapping: Der Komiker Oliver Pocher wurde vor einigen Wochen das jüngste prominente Opfer eines sogenannten "Happy Slappings". Die Rechtsanwälte Mirko Laudon und Benedikt Mick erklären auf LTO die Hintergründe dieses nicht ganz neuen "Internet-Phänomens" und legen dar, dass sich eine Strafbarkeit über die "einfache" Körperverletzung hinaus auch aus einer tätlichen Beleidigung, der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs, einer rechtswidrigen Gewaltdarstellung sowie einem Verstoß gegen § 33 Kunsturhebergesetz ergeben könne. In jedem Fall sei der Gesetzgeber schlecht beraten, auf "jeden noch so unschönen Trend mit neuen oder noch härteren Strafen" zu reagieren.

Bernhard Servatius: Die FAZ (Marcus Jung) erinnert in ihrem Unternehmens-Teil an den bevorstehenden 90. Geburtstag von Bernhard Servatius, einflussreicher Berater und "Consigliere" des Verlegers Axel C. Springer. "In der heutigen, schnelllebigen Welt der Wirtschaftsanwälte mit ihrem hohem Spezialisierungsgrad" wären Karrieren wie jene des Jubilars, der als Einzelanwalt begann, die Geschichte der Axel Springer SE maßgeblich beeinflusste und noch bis ins hohe Alter seine Hamburger Kanzlei betreute, "kaum mehr möglich".

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 13. April 2022: . In: Legal Tribune Online, 13.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48139 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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