Der EuGH hat rumänischen Gerichten erlaubt, den nationalen Verfassungsgerichtshof zu ignorieren. Justizminister Buschmann will Vorratsdatenspeicherung abschaffen. BVerfG wird am 28. 12. entscheiden, ob ein Triage-Gesetz erforderlich ist.
Thema des Tages
EuGH zum rumänischen Verfassungsgericht: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass nationale Gerichte der Rechtsprechung ihrer Verfassungsgerichte nicht folgen müssen, wenn diese unionsrechtswidrig ist. Konkret ging es um den rumänischen Verfassungsgerichtshof (CCR). Zwei rumänische Gerichte hatten dem EuGH Verfahren vorgelegt, bei denen sie im Fall der Nichtanwendung der CCR-Rechtsprechung Disziplinarverfahren zu fürchten haben. Zum einen hatte der CCR ein einfachgerichtliches Urteil für nichtig erklärt, das Parlamentarier:innen und Minister:innen wegen Betrug, Korruption und Einflussnahme verurteilte. Grund für die Aufhebungen war eine vermeintlich rechtswidrige Besetzung der Spruchkörper. Zum anderen hatte der CCR verboten, in einem Korruptions-Verfahren Beweismittel zu verwenden, die unter Mitwirkung des Geheimdienstes entstanden sind. Der EuGH stärkte den Gerichten den Rücken: die CCR-Urteile sind jedenfalls dann nicht akzeptabel, wenn dadurch "eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten" geschaffen werde. Da durch die Intervention des CCR in den Korruptionsverfahren Verjährung droht, dürfen die nationalen Gerichte die CCR-Rechtsprechung laut EuGH nun ignorieren. Außerdem verstößt die Androhung von Disziplinarmaßnahmen gegen die richterliche Unabhängigkeit. Es berichten FAZ (Marlene Grunert), SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath), LTO und tagesschau.de (Gigi Deppe).
Christoph Herwartz (Hbl) kommentiert, dass es zum Wohle aller sei, wenn der EuGH sich durchsetze und in diesem Fall sei es besonders gut für die Rumän:innen, die darunter litten, dass ihr Land als korrupt gelte. Wenn sich dagegen immer mehr Verfassungsgerichte über EU-Recht stellten, würde auch der Binnenmarkt leiden.
Rechtspolitik
Vorratsdatenspeicherung: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach sich dafür aus, die anlasslose Vorratsdatenspeicherung "endgültig aus dem Gesetz" zu streichen, weil sie "gegen die Grundrechte" verstoße. Derzeit liegt die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland auf Eis und wurde im November vom Generalanwalt des Europäischen Gerichtshof in seinen Schlussanträgen als unionsrechtswidrig befunden. Stattdessen sprach sich Buschmann für das "Quick-Freeze"-Verfahren aus. Dabei könnten Telekommunikationsanbieter im Verdachtsfall auf richterliche Anordnung hin schnell Daten sichern. Dieses Verfahren sei "rechtsstaatlich sauber." netzpolitik.org (Markus Reuter) und spiegel.de berichten.
Corona – Impfpflicht: Wie spiegel.de (Marc Röhlig/Christian Teevs u.a.) berichtet, drängen die Bundesländer bei der allgemeinen Impfpflicht zur Eile. Das Thema sei bereits ein Punkt auf der Beschlussvorlage für die nächste Bund-Länder-Konferenz. Doch nun hätten die Länder den Punkt um die Bitte ergänzt, die Einführung der allgemeinen Impfpflicht "zügig voranzutreiben und kurzfristig einen Zeitplan vorzulegen".
Im FAZ-Einspruch spricht sich der nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach (CDU) für eine allgemeine Impfpflicht, aber gegen eine Behandlung der Entscheidung als Gewissensfrage aus. Damit wolle man nur "die Risse in den eigenen Reihen verdecken und sich aus der politischen Verantwortung ziehen". Zudem öffne man die Tür für falsche individuelle Einstellungen, so dass man in der Folge auch das Impfen als Gewissensfrage sehen könnte.
Justiz
BVerfG – Triage: Das Bundesverfassungsgericht wird am 28. Dezember einen Beschluss zu der Frage veröffentlichen, ob die Kriterien für ärztliche Triage-Entscheidungen vom Gesetzgeber geregelt werden müssen. Bereits 2020 hatten neun Bürger:innen mit Behinderungen und Vorerkrankungen eine mit einem Eilantrag versehene Verfassungsbeschwerde erhoben, weil sie in der Untätigkeit des Gesetzgebers eine Verletzung ihres Gleichheitsrechts aus Art. 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) sehen. Derzeit werde neben der Dringlichkeit die Erfolgsaussicht als maßgebendes Kriterium bei der Zuteilung von medizinischen Ressourcen im Triage-Fall empfohlen, was Menschen mit Behinderungen oder Vorerkrankungen benachteilige. Im Sommer 2020 lehnte das BVerfG den Eilantrag aufgrund der geringen Auslastung der Intensivstationen noch ab. Nun habe sich die Situation jedoch geändert, sodass ein Beschluss notwendig sei. LTO berichtet.
EuGH zu Sekundärsanktionen der USA: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass europäische Unternehmen US-Sanktionen gegen iranische Unternehmen umsetzen dürfen, wenn ihnen andernfalls selbst unverhältnismäßige US-Sanktionen drohen. Damit relativiert der EuGH eine EU-Verordnung, die genau das verbietet. Im vorliegenden Fall ging es um die Deutsche Telekom, die der deutschen Niederlassung der iranischen Melli Bank aus Angst vor US-Sanktionen die Telefon- und Internetanschlüsse kappte. Die taz (Christian Rath) und LTO berichten.
EuGH zu Fluggastrechten: Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs gilt ein Flug als annulliert, "wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn um mehr als eine Stunde vorverlegt". Eine Entschädigung entfällt nach der EU-Fluggastrechte-Verordnung jedoch, wenn die Anbieter rechtzeitig Bescheid geben, wovon jedenfalls bei einer Unterrichtung zwei Wochen vor Abflug auszugehen ist. Zudem ist die Airline verpflichtet, die Fluggäste darüber zu informieren, von wem eine Ausgleichszahlung verlangt werden kann und welche Unterlagen dafür nötig sind. Die SZ, LTO und spiegel.de berichten.
VerfG Hamburg zu Andy Grote: Innensenator Andy Grote (SPD) hat nach einer Entscheidung des Hamburgischen Verfassungsgerichts bei seiner Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2019 weder die Rechte der AfD-Fraktion noch die einzelner AfD-Abgeordneter verletzt. Er hatte gesagt, dass die AfD in Hamburg ihren Konfrontationskurs gegen die staatstragenden demokratischen Parteien verstärke und auch in der Bürgerschaft konfrontativ auftrete – "unter anderem durch die Forderung der Aufhebung der staatlichen Maßnahmen im Kontext der Bekämpfung der Corona-Pandemie". Die taz (Andreas Speit) und spiegel.de berichten.
BGH – NSU-Helfer Eminger: Der Bundesgerichtshof hat vorige Woche die Revision der Bundesanwaltschaft gegen den Teilfreispruch des Oberlandesgerichts München für den NSU-Helfer André Eminger verworfen, berichtet nun auch swr-RadioReportRecht (Gigi Deppe), der auch auf die Reaktionen der Angehörigen der Opfer eingeht.
BAG – Urlaubsanspruch/Kurzarbeit: In der FAZ berichtet der Rechtsanwalt Christian Rolf über eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von Ende November, wonach in Folge von Kurzarbeit vollständig ausgefallene Arbeitstage bei der Berechnung des Jahresurlaubs zu berücksichtigen sind. Zur Berechnung des verringerten Urlaubsanspruchs müsse die Anzahl der nicht ausgefallenen Tage mit der Anzahl der regulären Urlaubstage in Vollzeit multipliziert und durch 312 Werktage geteilt werden.
OLG Frankfurt/M. – Franco A.: Bei dem Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. gegen den unter Terrorverdacht stehenden Ex-Soldaten Franco A. kam es zu einem Eklat, weil der Angeklagte antisemitische Verschwörungstheorien äußerte. "Das ist antisemitischer Blödsinn, den Sie da reden", unterbrach ihn der Vorsitzende Richter und entzog ihm das Wort. spiegel.de berichtet.
VG Berlin zu Versammlungsverbot: Wie die Welt (Frederik Schindler) berichtet, hat das Verwaltungsgericht Berlin einen Eileintrag gegen eine Verbotsverfügung zurückgewiesen, die sich gegen eine Querdenker-Demonstration richtete. Da "alle relevanten Berliner Gruppen der Szene der Corona-Kritiker" für die Demonstration mobilisierten, drohe eine nicht unerhebliche Infektionsgefahr. Die Rechtsprofessor:innen Anna Katharina Mangold und Ulrich Battis schlossen sich der Meinung des Gerichts an. Rechtsprofessor Clemens Arzt kritisiert das Gericht und sieht das Verbot aufgrund der Möglichkeit von Auflagen zur Maskenpflicht und zum Abstandhalten als unverhältnismäßig.
LG Saarbrücken zu Mord von 1991: Das Landgericht Saarbrücken hat zwei Männer zu lebenslanger Haft verurteilt, weil sie 1991 den Völklinger Peter Gregorius ermordet haben sollen, dessen Leichnam nie gefunden wurde. spiegel.de berichtet.
LG Nürnberg-Fürth – "Drachenlord": Das Landgericht Nürnberg-Fürth wird am 23. März in zweiter Instanz über den 32-jährigen Youtuber Rainer W. verhandeln, der unter dem Namen "Drachenlord" bekannt ist. Sowohl er als auch die Staatsanwaltschaft haben Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Neustadt an der Aisch eingelegt, wonach er unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung für zwei Jahre in Haft soll. In Folge von Cybermobbing führt Rainer W. seit Jahren einen Kleinkrieg mit sogenannten Hatern, die regelmäßig vor seinem Haus auftauchen, um ihn zu provozieren. LTO berichtet.
AG Neubrandenburg zu Mord an Kind Leonie: Das Amtsgericht Neubrandenburg hat die Mutter der 2019 von ihrem Lebensgefährten ermordeten sechsjährigen Leonie wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Sie habe die Misshandlungen durch den Stiefvater erkannt und keine Hilfe geholt. Die FAZ und spiegel.de berichten.
Blitzer vor Gericht: spiegel.de (Dietmar Hipp) rekapituliert den "durchschlagenden" Erfolg des Rechtsanwalts Alexander Gratz im Kampf gegen Tempomessgeräte im Saarland. Er hat einen Gerätetyp ausgemacht, der die Messergebnisse nicht speichert, sondern nur das Ergebnis auswirft, was die Grundrechte auf ein faires Verfahren und auf eine effektive Verteidigung verletzt. Nachdem ihm der saarländische Verfassungsgerichtshof 2019 in dieser Rechtsauffassung bestätigte, bringe er den Behörden eine Niederlage nach der anderen bei.
BVerfG – Hinter den Kulissen: LTO (Annelie Kaufmann) gibt einen Einblick in den "Maschinenraum" des Bundesverfassungsgerichts mit seinen rund 270 Mitarbeiter:innen. Geschildert wird die Arbeit in der Posteingangsstelle und der Bibliothek sowie die Betreuung des Allgemeinen Registers und des Protokolls.
Recht in der Welt
Ungarn – EuGH/Asylrecht: Ungarn will an seinem Asylrecht festhalten und sich damit offenbar einem Urteil des Europäischen Gerichtshof widersetzen: "Die Regierung hat beschlossen, dass wir nichts am Grenzschutzsystem ändern werden", sagte Ministerpräsident Viktor Orbán. Im November hatte der EuGH Teile des ungarischen Asylrechts für unionsrechtswidrig erklärt. Darunter die Regelung, dass Personen, die über einen Drittstaat nach Ungarn kommen, kein Recht auf einen Asylantrag haben. Die SZ berichtet.
Japan – Hinrichtungen: Japan hat drei verurteilte Mörder durch Erhängen hinrichten lassen. Es war die erste Vollstreckung von Todesurteilen seit 2019. Derzeit warten noch 107 Verurteilte auf ihre Hinrichtung. Seit 2012 starben 42 Menschen.
Es berichten die taz (Martin Fritz) und FAZ.
Martin Fritz (taz) kommentiert, dass die Hinrichtungen nicht die beabsichtigte abschreckende Wirkung haben könnten, weil sie abgeschottet von der Öffentlichkeit vollstreckt würden. Hätte die Öffentlichkeit konkretere Kenntnis, würde die Zustimmung "dramatisch" sinken.
Russland – Zwangsuntersuchung für Ausländer: Nach einem neuen russischen Gesetz sollen Ausländer, die in Russland arbeiten, sich und ihre Angehörigen künftig auf Syphilis, HIV und Tuberkulose testen lassen. Es sei wahrscheinlich, dass das Gesetz lediglich schlecht gemacht sei und sich eigentlich "nur" gegen die Millionen Zentralasiat:innen richten soll, die zu niedrigen Gehältern in Russland arbeiten. Es berichtet die FAZ (Katharina Wagner).
Sonstiges
Telegram: Bei der Debatte um die Rechtsdurchsetzung beim Messenger Telegram kritisiert die GFF-Expertin Julia Reda auf netzpolitik.org die Vorschläge zur Sperrung des Anbieters in Deutschland (Geoblocking) und zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG). Die deutsche Politik solle sich lieber auf europäischer Ebene an der Umsetzung des Digital Services Acts (DSA) beteiligen, bei dem sauber zwischen geschlossenen und offenen Kommunikationsfunktionen von Telegram differenziert werde und der Ende 2022 in Kraft treten könne. Für offene Kanäle und Gruppen sei es geplant, Telegram zur Einrichtung eines Meldeverfahrens für illegale Inhalte zu verpflichten. Rechtsprofessor Michael Kubiciel weist in der FAZ darauf hin, dass im DSA jedoch keine Verpflichtung der Anbieter zum Löschen rechtswidriger Beiträge vorgesehen sei. Vielmehr müsse von nationalen Behörden "eine Anordnung zum Vorgehen gegen einen bestimmten illegalen Inhalt" ergehen, was weniger effektiv sei, als die Regelung des NetzDGs. Die größte Wirkung "um totes Recht zum Leben zu erwecken", gehe von Sanktionsregeln aus, die sich schon im Datenschutzrecht als entscheidende Triebfeder erwiesen hätten. Auf dem Verfassungsblog kritisiert der wissenschaftliche Mitarbeiter Erik Tuchtfeld hingegen einen zu verengten "Fokus auf die verwendete Technik statt auf die Menschen, die sich radikalisieren." Bei den offenen Kommunikationsfunktionen von Telegram müsse der Staat verstärkt auf verdeckte Ermittler:innen setzen. Den ebenfalls kursierenden Vorschlag einer Einflussnahme auf die App-Stores lehnt er ab, weil Staaten die Entscheidungshoheit der Gatekeeper nicht für ihre eigenen Ziele nutzen sollten und in der Praxis zudem Umgehungsmöglichkeiten bestünden. Wie die Zeit (Götz Hamann/Ann-Kathrin Nezik) berichtet, setzt die Landesmedienanstalt (LfM) Nordrhein-Westfalen bereits seit Februar eine Software ein, die auch bei Telegram Chatverläufe auf rechtswidrige Inhalte prüft. Daraus seien bisher 140 Anzeigen resultiert, 17 in Bezug auf Telegram.
Corona – Impfpass-Fälschung: Die SZ (Philipp Bovermann) berichtet über die Sorge von Apotheker:innen, sich bei der Herausgabe von Daten von vermeintlichen Impfpassfälscher:innen an die Polizei strafbar zu machen. Die Landesapothekerkammern geben unterschiedliche Hinweise, teilweise warnen sie die Apotheker:innen vor Strafverfolgung, teilweise ermuntern sie zur Kooperation mit den Ermittler:innen.
Corona – Arbeitsrecht: Im Interview mit LTO (Tanja Podolski) stellt der Rechtsprofessor und Fachanwalt für Arbeitsrecht Michael Fuhlrott dar, was zur Zeit arbeitsrechtlich mit Blick auf Corona zu beachten ist. Wenn man in Quarantäne und "nur" ansteckungsverdächtig ist, bestehe eine Pflicht zum Homeoffice, falls dies möglich ist. Wenn nicht, bestehe für Ungeimpfte kein Lohnanspruch. Liegt bei Ungeimpften darüber hinaus ein Krankheitsfall vor, sieht Fuhlrott einen Lohnanspruch eher kritisch, auch wenn gerichtlich noch nicht darüber entschieden worden sei.
Das Letzte zum Schluss
Weihnachtstombola: Die spanische Polizei hat zwei Drogendealer in Murcia festgenommen, die zu Weihnachten Präsentkörbe mit Kokain, Haschisch, Tabak, Bargeld und acht-Kilo-Schinken verlosen wollten. Bei einer Drogen-Razzia sichteten die Beamten an der Wand eine Liste mit den Teilnehmenden an der Tombola. Ein Los kostete fünf Euro. spiegel.de berichtet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/tr
(Hinweis für Journalist:innen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 22. Dezember 2021: . In: Legal Tribune Online, 22.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47021 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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