Die juristische Presseschau vom 19. November 2021: Neue Corona-Maß­nahmen besch­lossen / Vor­rats­da­ten­spei­che­rung EU-rechts­widrig? / Straf­bar­keits­lücke in Masken-Affäre?

19.11.2021

Bundestag beschließt IfSG-Novelle und Bund-Länder-Konferenz vereinheitlicht Maßnahmen. Laut EuGH-Generalanwalt ist die deutsche Vorratsdatenspeicherung unionsrechtswidrig. Keine Strafen für Georg Nüßlein und Alfred Sauter in der Masken-Affäre.

Thema des Tages

Corona – Infektionsschutzgesetz: Der Bundestag hat mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen SPD, Grüne und FDP die Novelle des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Direkt im Gesetz angeordnet und bundesweit verpflichtend werden u.a. 3G am Arbeitsplatz und 3G im öffentlichen Verkehr eingeführt. Der Katalog der Corona-Einschränkungen, die die Länder einführen können, wird reduziert und von der "epidemischen Lage nationaler Tragweite", die am 25. November auslaufen soll, entkoppelt. Möglich bleiben z.B. die Maskenpflicht, 2G-Vorgaben oder das Untersagen von Freizeitveranstaltungen. Nicht mehr möglich sind das generelle Schließen von Schulen, Geschäften und Restaurants sowie Reiseverbote und Ausgangsbeschränkungen. Ein Antrag der CDU/CSU, die "epidemische Lage" zu verlängern, fand keine Mehrheit. Die Drohung der unions-mitregierten Länder, die zustimmungspflichtige Novelle im Bundesrat zu blockieren, scheint vom Tisch, nachdem die Ampel-Fraktionen eine Evaluation der Novelle bis Mitte Dezember zusagten. Es berichten die FAZ (Helene Bubrowski/Eckart Lohse), SZ (Nico Fried/Cerstin Gammelin), taz (Ulrich Schulte), Welt (Thore Barfuss/Nikolaus Doll u.a.), tagesschau.de (Frank Bräutigam), LTO und deutschlandfunk.de (Gudula Geuther/Frank Capellan).

Reinhard Müller (FAZ) kritisiert die verhärteten Fronten zwischen der Union und den Ampel-Parteien und fordert eine gemeinsame Front gegen Corona. Auf beck-online befürwortet Rechtsprofessor Thorsten Kingreen das "Ausschleichen" der epidemischen Lage durch die Ampel-Parteien, weil der Begriff verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht werde. Für Nikolas Doll (Welt) ist das neue Maßnahmenpaket "faktisch ein Lockdown für Ungeimpfte".

Corona – Beschränkungen/Impfpflicht: Nach dem IfSG-Beschluss des Bundestags fand am Donnerstagnachmittag eine Bund-Länder-Konferenz statt, die ein einheitliches Vorgehen der Länder vereinbarte. Schärfere Corona-Maßnahmen sollen künftig auf einem einheitlichen Drei-Stufen-Modell beruhen, das sich an Hospitalisierungsraten orientiert: Liegt die Rate in einem Land bei 3, ist der Zugang zu Gaststätten und Veranstaltungen nur für Genesene und Geimpfte (2G-Regel) möglich. Bei einer Rate von 6 ist zusätzlich ein Antigenschnelltest nötig (2G-Plus). Ab dem Wert 9 sind Kontaktbeschränkungen vorgesehen. Deutschlandweit lag die Rate am Donnerstag bei 5,3. Die Länder forderten den Bund in der Konferenz zu einer partiellen Impflicht für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeheimen auf, die Kontakt zu vulnerablen Personen haben. 

Corona – 3G am Arbeitsplatz: Auch nach Einführung von 3G am Arbeitsplatz durch das novellierte Infektionsschutzgesetz müssen die Arbeitgeber zwei Tests pro Woche kostenlos anbieten. Dabei kann es sich aber um Selbsttests ohne Aufsicht handeln, die für den 3G-Zugang zum Arbeitsplatz nicht ausreichen, berichtet die Welt (Christine Haas/Karsten Seibel). In diesen Fällen müsse sich der Arbeitnehmer die für den Betriebszugang erforderlichen Nachweise anderweitig besorgen, zum Beispiel bei den nun wieder kostenlosen Bürgertests.

Rechtspolitik

Cannabis: Wie bild.de (Hans-Jörg Vehlewald/Sebastian Geisler) und spiegel.de berichten, hat sich die Arbeitsgruppe "Gesundheit und Pflege" der Ampel-Parteien auf die Legalisierung von Cannabis geeinigt. In einem Ergebnispapier heißt es: "Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein."

Digitale Märkte: Im EU-Parlament wurde ein Kompromiss zum geplanten Digital Markets Act gefunden. Der Ministerrat will seine Position am Donnerstag endgültig festlegen, sodass eine Verabschiedung im ersten Halbjahr 2022 möglich sei. Das DMA soll großen Plattformen rund zwanzig Verhaltensweisen verbieten, um den Missbrauch von Marktmacht zu verhindern. Die FAZ (Hendrik Kafsack) berichtet.

Digital Services: Auf dem Verfassungsblog diskutieren die Ex-Piraten-Politikerin Julia Reda und der Jurist Joschka Selinger von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) eine aktuelle Streitfrage zum Verordnungsentwurf des Digital Services Acts (DSA). Es werde verhandelt, ob Behörden das Recht zur einstweiligen Sperrung von Online-Plattformen bekommen sollen, was eine "besorgniserregende Wendung" sei. Der DSA soll unter anderem Haftungs- und Sicherheitsvorschriften für digitale Plattformen, Dienste und Produkte schaffen und diese an das Gemeinwohl binden.

Justiz

EuGH – Vorratsdatenspeicherung: Die deutsche allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung im Bereich der elektronischen Kommunikation sei unionsrechtswidrig. Zu dieser Einschätzung kommt Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona in seinen Schlussanträgen zu einer Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts. Das deutsche Gesetz verstoße gegen die EU-Richtlinie zum Datenschutz für elektronische Kommunikation. Anhand der gespeicherten Daten könnten umfassende Persönlichkeitsprofile erstellt werden, die Einblicke in Gewohnheiten und soziale Beziehungen erlauben. Ausnahmen vom Verbot einer allgemeinen Vorratsdatenspeicherung seien nur im Fall der Verteidigung der nationalen Sicherheit möglich. Zulässig wäre auch die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen. In Deutschland ist die 2015 beschlossene Vorratsdatenspeicherung von der Bundesnetzagentur ausgesetzt worden. Das Urteil des EuGH wird Anfang 2022 erwartet. Es berichten die FAZ (Helene Bubrowski/Marlene Grunert), taz (Christian Rath), LTO (Markus Sehl/Pauline Dietrich), tagesschau.de (Gigi Deppe), netzpolitik.org (Anna Biselli) und spiegel.de

Konstantin Macher und Julia Witte von Digitalcourage e.V. rechnen in der taz mit einer Absage des EuGH an die Vorratsdatenspeicherung und weisen darauf hin, parallel auch eine "Klage" beim Bundesverfassungsgericht eingereicht zu haben.

OLG München zu Masken-Affäre: Das Oberlandesgericht München sieht die Tatbestände der Bestechung und der Bestechlichkeit von Mandatsträgern bei dem CSU-Landtagsabgeordneten Alfred Sauter und bei dem mittlerweile aus der CSU ausgetretenen Ex-Bundestagsabgeordneten Georg Nüßlein nicht erfüllt. Für ihre Vermittlung von Schutzmasken erhielten sie die Gegenleistung nicht – wie vom Wortlaut des § 108 e Strafgesetzbuch vorausgesetzt – bei der Wahrnehmung ihres Mandats, sondern lediglich durch ihre Kontakte bzw. durch die Autorität ihrer Mandate. Die bei Durchsuchungen arrestierten Gelder in Höhe von insgesamt 1,9 Millionen Euro gab das Gericht wieder frei. Das Gericht merkte an, dass ein eklatanter Widerspruch zum allgemeinen Rechtsempfinden vorliege. Die Generalstaatsanwaltschaft München kündigte an, eine Beschwerde vor dem Bundesgerichtshof einzulegen. Die FAZ (Timo Frasch), SZ (Klaus Ott), LTO und spiegel.de berichten.

Klaus Ott (SZ) geht davon aus, dass die beiden Politiker am Ende wahrscheinlich ohne Verurteilung und Strafe davonkommen und schreibt dem Bundestag eine Verantwortung dafür zu. Thomas Holl (FAZ) sieht das ähnlich und glaubt, dass die beiden juristisch versierten Abgeordneten um die Lücke im Gesetzestext wussten. Jost Müller-Neuhof (Tsp) sieht den Bundestag ebenfalls in der Pflicht, aber bezeichnet es schon als Fortschritt, dass der Vorgang als Skandal gewertet wird.

BGH zu Breitbandanschluss: Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs müssen Mieter:innen die Kosten für einen Kabelanschluss nach aktueller Rechtslage noch selbst bezahlen, wenn dies im Mietvertrag so geregelt ist. Geklagt hatte die Wettbewerbszentrale, die neben der fehlenden Wahlmöglichkeit von Mieter:innen eine Benachteiligung alternativer Übertragungswege wie etwa bei Streamingdiensten monierte. Zum 1. Dezember tritt jedoch ein Gesetz in Kraft, das solche Klauseln verbietet. FAZ (Marcus Jung), SZ, Welt und LTO berichten.

OLG Hamm zu Pestiziden: Das Oberlandesgericht Hamm verurteilte zwei konventionell wirtschaftende Landwirte zu einer Schadensersatzzahlung von insgesamt 50.000 Euro, weil ein von ihnen verwendetes Pestizid auf das benachbarte Grundstück eines Ökolandwirts "abgedriftet" war. Auf den Sprühdrüsen sei zu viel Druck gewesen, so dass ein Verstoß gegen das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme vorliege. LTO berichtet.

OLG Naumburg zu Angriff auf Synagoge: Die SZ (Ronen Steinke) stellt das Buch "Der Halle-Prozess: Mitschriften" vor, welches den Prozess zum Halle-Attentat von 2019 detailliert schildert und von Linus Pook, Grischa Stanjek Tuija Wigard herausgegeben wurde. Es sei ein "Zeitdokument, auch eine Ressource für weitere Debatten."

LG Hagen zu untätiger Richterin: Das Landgericht Hagen hat eine Richterin des Amtsgerichts Lüdenscheid wegen Rechtsbeugung in mehreren Fällen zu drei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. In einem Teilgeständnis hat die 37-Jährige eingeräumt, Akten, die später in ihrem Keller gefunden wurden, wegen einer "Blockade" im Kopf nicht bearbeitet zu haben. Sie soll zudem versucht haben, die begangenen Fristversäumnisse anderen Mitarbeitenden des Amtsgerichts in die Schuhe zu schieben, was ihr das Gericht besonders zur Last legte. LTO und spiegel.de berichten. 

LG Kassel – Amokfahrt Volkmarsen: Im Strafprozess gegen einen Autofahrer, der 2020 in eine Menschenmenge beim Volkmarsener Rosenmontagszug raste und dabei über 100 Menschen verletzte, hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/M. beantragt, auch den Tatvorwurf des versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen zu prüfen. Für die Tat kämen nur besonders verwerfliche und verachtenswerte Motive in Betracht. Es berichten zeit.de und LTO.

StA Hanau – Morde von Hanau: Die Staatsanwaltschaft Hanau leitet im Zusammenhang mit dem rechtsextremistischen Anschlag in Hanau von 2020 keine Ermittlungen gegen Polizeibeamte wegen unterlassener Hilfeleistung ein. Überlebende des Anschlags sowie Opferangehörige hatten im März eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt, unter anderem weil Beamte beim Eintreffen am Tatort keine adäquate Erstversorgung eines verstorbenen Opfers unternommen hätten. Nach Vorermittlungen habe sich jedoch kein Anfangsverdacht ergeben. Es berichten SZ und spiegel.de (Julia Jüttner).

StA Hannover – Dieselskandal/VW/Continental: Die Staatsanwaltschaft Hannover hat ihre Ermittlungen im VW-Dieselskandal auf den Ex-Konzernchef der Continental, Elmar Degenhart, und auf weitere ehemalige Topmanager ausgeweitet. Die Vorwürfe im Zusammenhang mit einer möglichen Verwicklung in die Abgasmanipulationen von VW lauten auf Beihilfe zu Betrug und Untreue sowie auf vorsätzliche Verletzung der Aufsichtspflicht. Es berichten Hbl (Roman Tyborski/Volker Votsmeier),

FAZ (Carsten Germis)

, Welt und spiegel.de.

In einem separaten Kommentar hält Carsten Germis (FAZ) die Annahme für verschwörungstheoretisch, dass ein Zulieferer den Auftrag bekommt und annimmt, eine offensichtlich betrügerische Software zu entwickeln. Gleichwohl habe Continental seine internen Ermittlungen nicht adäquat geführt, weshalb es jetzt schneller Ergebnisse bedürfe.

Bundesanwaltschaft: Nun berichten auch die taz (Konrad Litschko) und tagesschau.de (Klaus Hempel) über eine von Generalbundesanwalt Peter Frank in Auftrag gegebene Studie über die NS-Verwicklung der Bundesanwaltschaft. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass bis in die 1970er-Jahre hinein führende Mitarbeitende einst der NSDAP angehörten. Bei den für die Strafverfolgung verantwortlichen Bundesanwälten waren es 1966 zehn von elf Personen.

Europäische Staatsanwaltschaft: Die Europäische Staatsanwaltschaft (European Public Prosecutor's Office, kurz EPPO) hat im ersten halben Jahr nach ihrer Einsetzung in mehr als 400 Fällen mit einem geschätzten Schaden von über fünf Milliarden Euro Ermittlungen eingeleitet. Die Behörde dient dem Kampf gegen Betrug, Unterschlagung und Korruption mit EU-Geldern. LTO berichtet.

Recht in der Welt

Österreich – Sebastian Kurz: Das österreichische Bundesparlament hob die Immunität des ehemaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) auf. Kurz und die ÖVP unterstützen die Maßnahme, um die rasche Aufklärung der Korruptions-Vorwürfe gegen Kurz zu ermöglichen. spiegel.de berichtet. 

Polen – Grenzschutz: Das polnische Parlament hat mit großer Mehrheit für ein Gesetz zum Schutz der Grenze gestimmt, das eine zeitweise Einschränkung der Bewegungs- und Pressefreiheit in der Grenzregion ermöglicht. Nun muss noch der polnische Senat über das Gesetz abstimmen. LTO berichtet.

USA – Malcom X: Zwei Männer, die für den Mord an US-Bürgerrechtsaktivist Malcolm X im Jahr 1965 für 20 Jahre im Gefängnis waren, sollen nun offiziell rehabilitiert werden. Eine Untersuchung der Manhattener Staatsanwaltschaft erhebt schwere Vorwürfe gegen das FBI und die New Yorker Polizei. Es berichten die FAZ (Majid Sattar) und SZ (Moritz Geier).

Das Letzte zum Schluss

Früh übt sich: Im nordrhein-westfälischen Werther hat die Polizei einen elfjährigen Autofahrer angehalten, der zuvor an einer schmalen Stelle ein anderes Fahrzeug per Lichthupe aufgefordert hatte, Platz zu machen. Der Junge hatte seinen Eltern den Autoschlüssel gestohlen. spiegel.de berichtet.  


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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/tr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 19. November 2021: . In: Legal Tribune Online, 19.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46694 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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