Das BVerfG lehnte Klagen gegen die Masern-Impfpflicht für Kita-Kinder ab. Das VG Köln hat die letzten Portoerhöhungen der Deutschen Post als rechtswidrig eingestuft. Olaf Scholz sagt heute im Hamburger Cum-Ex-Untersuchungsausschuss aus.
Thema des Tages
BVerfG zu Masern-Impfpflicht: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die seit März 2020 geltende Masern-Impfpflicht für Kitas gebilligt. Ungeimpften Kindern ist der Zugang zu Kitas verboten und es droht ein Bußgeld von bis zu 2.500 Euro. Zwar sei dies ein "nicht unerheblicher Eingriff" in das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit und in das Elternrecht. Der Eingriff sei aber gerechtfertigt und verhältnismäßig, weil die Vorteile für Menschen überwiegen, die nicht geimpft werden können (insbesondere Säuglinge im ersten Lebensjahr und Menschen mit Immunschwächen). Für diese Menschen habe der Staat eine Schutzpflicht. Ausbrüche der Masern könnten durch eine Steigerung der Impfquote auf 95 Prozent unterbunden werden. Gegen die im Extremfall tödlichen Risiken einer Maserninfektion sei die Impfreaktion mit Rötungen, Schwellungen und Schmerzen an der Einstichstelle "mild". Das BVerfG betont, dass das Elternrecht "ein dem Kind dienendes Grundrecht" ist. Wenn es um die Gesundheit der Kinder gehe, seien sie "weniger frei, sich gegen Standards medizinischer Vernünftigkeit zu wenden." In einem Punkt kam das BVerfG den beschwerdeführenden Eltern aber mit einer verfassungskonformen Auslegung des Masernschutzgesetzes entgegen: Stehen nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung, sind nur solche zulässig, die vor Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken schützen. Es berichten FAZ (Marlene Grunert), SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath), LTO (Tanja Podolski), spiegel.de, zeit.de und bild.de.
Wolfgang Janisch (SZ) zieht in einem separaten Kommentar einen Vergleich zum BVerfG-Beschluss zur Corona-Impfpflicht für medizinisches und Pflegepersonal aus dem Frühjahr, bei dem sich das BVerfG auf die Seite des "Teams Vorsicht" geschlagen habe. Bei den Masern stehe das Gericht faktenmäßig auf einem festeren Grund und das Ergebnis sei geradezu zwingend gewesen. Reinhard Müller (FAZ) kommentiert, dass die "Standards medizinischer Vernünftigkeit" bei Elternentscheidungen auch bei der Corona-Debatte nicht vergessen werden sollten. Jost Müller-Neuhof (Tsp) begrüßt den Beschluss und konstatiert, dass manche Väter und Mütter in Gesundheitsfragen in einer Parallelwelt lebten. Es sei richtig, wenn der Staat eindringlich versuche, sie zur Vernunft zu bringen.Christian Rath hinterfragt auf LTO, warum das BVerfG nicht vorgegeben hat, dass es auch reine Masern-Impfstoffe geben muss. Das BVerfG habe mit Mehrkosten und einer Belastung für die Allgemeinheit argumentiert, aber das sei "dünn" und Akzeptanz gebe es "nicht immer zum Nulltarif." Die Erwartung, dass eine Impfpflicht automatisch die Impfquoten erhöht, sei naiv.
Rechtspolitik:
Planungsbeschleunigung: Auf LTO stellt die Rechtsreferendarin Julia Chladek den Referentenentwurf des Justizministeriums für ein "Gesetz zur Beschleunigung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Infrastrukturbereich" vor. In der Gesamtbetrachtung kritisiert Chladek, dass der Gesetzgeber bei der Beschleunigung den Fokus zu sehr auf das Gerichtsverfahren und zu wenig auf das Verwaltungsverfahren lege. Klagen und Projektverhinderungstaktiken der Umweltverbände seien nur die Spitze des Eisbergs und Folge einer mangelnden Einbindung im Verwaltungsverfahren, wo die entscheidende Zeit verloren gehe.
Wahlrecht: Im Interview mit spiegel.de (Sophie Garbe) kritisiert Rechtsprofessorin Sophie Schönberger an der geplanten Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestags das Vorhaben einer Ersatzstimme, weil Wähler:innen auf verfassungswidrige Weise ungleich behandelt würden. Zum einen erhielten manche Wähler:innen eine zweite Erfolgschance, weil ihre Ersatzstimme gezählt wird, während andere weiterhin nur eine Stimme haben. Zum anderen käme es zu einer Ungleichbehandlung, wenn auch in dieser Ersatzrunde das Zweitstimmenergebnis des nun Erstplatzierten nicht ausreicht. Dann brauche es eine dritte Runde, um das Wahlkreis-Mandat zu vergeben, bei der die Wähler:innen, deren Erst- und Ersatzstimme in der ersten und zweiten Runde gezählt wurden, nicht mehr berücksichtigt werden.
Corona – Triage: Die SZ (Christina Berndt) stellt den aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Triage im Fall von Versorgungsengpässen im Zuge der Corona-Pandemie vor. Danach darf es bei der Zuteilung von Therapien in einer Mangelsituation nur um die "aktuelle und kurzfristige" Überlebenswahrscheinlichkeit des Patienten gehen. Ob jemand alt ist oder gebrechlich darf ebenso wenig einfließen wie eine Behinderung, die geschätzte Lebenserwartung und die vermutete Lebensqualität. Die Zuteilung soll nur vor Beginn der Behandlung erfolgen, eine Ex-post-Triage soll hingegen ausgeschlossen sein. Letzteres werde von Seiten der Ärzteschaft scharf kritisiert, weil sich die Überlebenswahrscheinlichkeit häufig erst nach einem Behandlungsversuch verlässlich abschätzen lasse.
Digitale Dienste: Der Doktorand Yannick Schumacher stellt auf dem JuWiss-Blog die EU-Verordnung zu Digitalen Diensten (Digital Services Act, DSA) und deren Umsetzung in den Mitgliedstaaten vor. Eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung werde der Digital Services-Koordinator einnehmen, was in Deutschland die Landesmedienanstalten sein könnten.
Verkehrsgerichtstag: Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar angekündigt, dass Deutschland ein "Fahrradland" werden soll. Der Präsident des Deutschen Verkehrsgerichtstages, Ansgar Stauding, forderte eine stärkere Berücksichtigung von versicherungs- und verkehrsrechtlichen Themen in der juristischen Ausbildung. LTO und spiegel.de berichten.
Justiz
VG Köln zu Briefporto-Erhöhung: Das Verwaltungsgericht Köln hat die Genehmigung der Bundesnetzagentur für die Portoerhöhung der Deutschen Post für die Zeit von 2019 bis 2021 als rechtswidrig eingestuft. In dieser Zeit war das Standardporto von 70 auf 80 Cent gestiegen und auch andere Briefprodukte wurden deutlich teurer. Geklagt hatte unter anderem der Bundesverband Paket und Expresslogistik (BIEK), hinter dem die Paketkonkurrenz der Post steht. "Damit steht fest, dass die Deutsche Post in diesem Zeitraum unrechtmäßig einen Gewinn in Höhe von 450 Millionen Euro vereinnahmt hat", teilte der BIEK mit. Postkund:innen werden aber nichts zurückerhalten, weil kein Rückerstattungsanspruch für Dritte besteht. Schon in einem Eilverfahren Anfang 2020 hatte das Verwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit festgestellt. Die FAZ (Helmut Bünder) berichtet.
BFH zur Gemeinnützigkeit von Kitas: Nach einem nun veröffentlichten Urteil des Bundesfinanzhofs aus dem Februar ist eine Kita, deren Betreuungsangebot sich vorwiegend an die Kinder von Beschäftigten eines bestimmten Unternehmens richtet, nicht gemeinnützig. Die Kita hatte mit einem Unternehmen einen Vertrag geschlossen, wonach sie die Plätze vorrangig an dessen Mitarbeitende vergab. LTO berichtet.
LG Wuppertal zu Säureangriff auf Manager: Das Landgericht Wuppertal hat den Belgier Nuri T., der im März 2018 einen Säureangriff auf den Manager Bernhard Günther verübte, wegen schwerer und gefährlicher Körperverletzung zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Der Mann soll Günther mit Schwefelsäure übergossen und damit schwer verletzt haben. Günther vermutet als Auftraggeber des Attentats eine Person aus seinem damaligen beruflichen Umfeld, die ihn als Konkurrenten habe ausschalten wollen. Es berichten SZ (Sabine Maguire), FAZ (Reiner Burger), Hbl (Jürgen Flauger) und spiegel.de.
LG Berlin – Abou-Chaker/Bushido: Nun berichtet auch die taz (Erica Zingher) über den 78. Prozesstag im Verfahren gegen den Clan-Chef Arafat Abou-Chaker. Über sechs Stunden hinweg sei eine nur schwer verständliche und wenig ergiebige Tonaufnahme ausgewertet worden, die an dem Tag entstanden sein soll, auf den sich Bushidos Vorwürfe der schweren räuberischen Erpressung, gefährlichen Körperverletzung, Beleidigung und Freiheitsberaubung beziehen.
VG Berlin zu Straßenumbenennung: Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin können sich nur Anwohner gegen die Umbenennung einer Straße wehren. Wenn der Kläger kein Anwohner sei, scheide die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten von vornherein aus. Konkret ging es um die vom Bezirksamt Mitte beabsichtigte Umbenennung der "Mohrenstraße" in "Anton-Wilhelm-Amo-Straße". LTO berichtet.
Recht in der Welt
Polen – Unabhängigkeit von Richter:innen: Auf dem Verfassungsblog berichtet der polnische Rechtsprofessor Marcin Szwed (in englischer Sprache) über einen vom Gesetzgeber neu eingeführten Test zur Sicherstellung der richterlichen Unabhängigkeit von Richter:innen, die vom Nationalen Rat für das Justizwesen (NCJ) nach 2018 ernannt wurden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Test nicht als korrekte Umsetzung der EMRK-Standards gesehen werden kann.
Taiwan/China: Im FAZ-Einspruch kritisiert der Generaldirektor der Taipeh-Vertretung in Deutschland, Wei-ta Chang, den Artikel "China und Taiwan sind keine zwei Staaten" von Matthias Hartwig. Die Republik China (Taiwan) sei seit 1911 ein souveräner und unabhängiger Staat mit einem eigenen Volk, eigener Währung, eigenem Steuersystem, eigener Regierung, eigenem Rechtssystem und eigenem Militär. Taiwan habe nie unter der Jurisdiktion der 1949 gegründeten Volksrepublik China gestanden.
USA – Trumps Finanzchef: Der ehemalige Finanzchef der Trump-Organisation, Allen Weisselberg, hat sich vor einem New Yorker Gericht für schuldig bekannt, für das Unternehmen des Ex-Präsidenten Donald Trump Steuern hinterzogen zu haben. Durch das Geständnis muss Weisselberg nur 1,98 Millionen Euro Strafe zahlen und für fünf Monate in Haft. Andernfalls hätten ihm 15 Jahre gedroht. Trump belastete er jedoch nicht. Es berichten FAZ (Winand von Petersdorff) und spiegel.de.
USA – R. Kelly: In Chicago hat ein neuer Prozess gegen den Popstar R. Kelly begonnen. Er ist unter anderem wegen der Herstellung von Kinderpornografie in mehreren Fällen, der Verleitung Minderjähriger zu sexuellen Handlungen und wegen der Behinderung der Justiz angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, Sex mit mehreren Kindern gehabt und Videos davon gemacht zu haben. Erst vor wenigen Wochen war er in New York zu 30 Jahren Haft wegen des Missbrauchs Minderjähriger verurteilt worden. Es berichten SZ und spiegel.de.
Saudi-Arabien – Tweets zu Frauenrechten: Nun berichten auch FAZ und zeit.de über die Verurteilung von Salma al-Schihab in Saudi-Arabien zu 34 Jahren Haft, weil sie über ihr Twitter-Konto Beiträge von Aktivist:innen teilte. Die Doktorandin lebte in Großbritannien, bis sie 2021 bei einem Heimatbesuch festgenommen wurde.
Sonstiges
Cum-Ex-UA/Olaf Scholz: An diesem Freitag wird Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als Zeuge im Hamburger Cum-Ex-Untersuchungsausschuss vernommen. Der Ausschuss soll klären, ob es eine politische Einflussnahme auf die Entscheidung der Hamburger Steuerverwaltung gegeben hat, Ende 2016 auf die Rückforderung von 47 Millionen Euro von der in den Cum-Ex-Skandal verwickelten Hamburger Privatbank M.M. Warburg zu verzichten. Scholz soll sich in den Tagen vor der Verzichtsentscheidung im Herbst 2016 als Erster Bürgermeister mit den damaligen Bank-Mitinhabern Christian Olearius und Max Warburg getroffen haben, woran er sich heute nicht mehr erinnern könne. Vor wenigen Tagen ist bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft Köln im Frühjahr bei der Durchsuchung des Email-Postfachs einer langjährigen Mitarbeiterin von Scholz auf Hinweise zu den Treffen gestoßen ist. Die Unionsparteien prüfen derweil, ob sie den Bundestag einschalten sollten, wo Scholz erneut aussagen müsste. Vorberichte bringen die FAZ (Marcus Jung/Matthias Wyssuwa), SZ (Peter Burghardt/Klaus Ott u.a.), taz (Stefan Reinecke), Hbl (René Bender/Sönke Iwersen u.a.), zeit.de und focus.de.
bild.de (Nikolaus Harbusch/Hans-Jörg Vehlewald) veröffentlicht exklusiv Tagebucheinträge von Christian Olearius, die eine Beeinflussung Scholz‘ nahelegen sollen. Am 9. November 2016 notierte er etwa bezüglich der 47 Millionen-Rückzahlung: "Wieder das Warten und Starren auf das Handy. Dann endlich, aber keine erwartete Nachricht. H. Scholz ist pikiert, ob des Sieges von Trump und dann: Schicken Sie das Schreiben ohne weitere Bemerkung an den Finanzsenator. Ich frage nichts, danke und lasse das Schreiben H. Tschentscher überbringen." Peter Tschentscher war damals Finanzsenator und ist heute Erster Bürgermeister.
Auf LTO erläutert Rechtsanwalt Max Schwerdtfeger die rechtlichen Grundlagen von Untersuchungsausschüssen und wie die Ausschussmitglieder und Zeugen sich jeweils auf die Vernehmungstermine vorbereiten. Die FAZ (Marcus Jung) portraitiert die NRW-Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die die Durchsuchungen bei Scholz' Mitarbeiterin leitete. Brorhilker leitet eine Abteilung mit knapp 30 Staatsanwält:innen und sei "das Gesicht des Staates im Kampf gegen organisierte Steuerhinterziehung in Deutschland."
AGB-Preiserhöhung/Amazon Prime: Auf beck-aktuell wirft Rechtsanwalt Patrick Rösler die Frage auf, ob die von Amazon angekündigte inflationsbedingte Preiserhöhung der Prime-Abos um bis zu 30 Prozent rechtlich zulässig ist. Amazon hatte dafür eine AGB-Änderung vorgenommen und den Kunden per E-Mail mitgeteilt, dass man bei Missfallen die Möglichkeit zur Kündigung habe. Es sei zunächst zu diskutieren, ob die Entscheidung des BGH zur unzulässigen Zustimmungsfiktionsklausel in Banken-AGB auch auf das Abo-Verhältnis des Prime-Kunden zu Amazon Anwendung finden kann. Sodann sei zu fragen, ob den Kunden nicht nur ein Kündigungs- sondern auch ein Widerrufsrecht hätte eingeräumt werden müssen.
Das Letzte zum Schluss
Auf nach St. Georg – St. Georg?: Im italienischen Kalabrien haben Betrüger Interessierten ihre Hilfe für eine Flucht in einen Staat angeboten, der überhaupt nicht existiert. "St. Georg" preisten sie als ein Paradies in der Antarktis an, wo es einen niedrigen Steuersatz von nur fünf Prozent und keine Impfpflicht gebe. Die Betrüger haben eine Reihe von Institutionen, Amtsblättern, Websites und Ausweisdokumenten geschaffen, um die Existenz des Staates glaubhaft zu machen. Über 700 Interessierte zahlten ihnen für die Flucht nach St. Georg rund 400.000 Euro. spiegel.de berichtet.
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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/tr
(Hinweis für Journalist:innen)
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Die juristische Presseschau vom 19. August 2022: . In: Legal Tribune Online, 19.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49363 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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