Die SZ zeigt das Dilemma des BVerfG im Verfahren um den Corona-Aufbaufonds. Im Strafvollzug besteht teils drastischer Personalmangel. Oberlandesgericht Wien hält Amtshaftung wegen falscher Informationen zur Corona-Situation in Ischgl für möglich.
Thema des Tages
BVerfG – Corona-Aufbaufonds: An diesem Dienstag beginnt die Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über das deutsche Ratifizierungsgesetz zum 750 Milliarden Euro schweren schuldenfinanzierten Corona-Aufbaufonds der EU. Hierzu bringt die SZ (Wolfgang Janisch) eine rechtspolitische Einordnung. Das Verfahren stehe in einer Reihe mit Entscheidungen zu den "europäischen Kriseninterventionen der vergangenen Jahre" (wie etwa die Euro-Rettungsschirme und die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank). Im Grunde stellten sich hier "zutiefst politische Fragen" nach der Weiterentwicklung der EU. Es wäre richtiger, solche Reformen "durch die Vordertür anzugehen, also durch eine Grundsatzdiskussion über eine Änderung der europäischen Verträge." Da das politisch aber derzeit unmöglich sei, bleibe nur der Weg über eine großzügige Interpretation der bestehenden Regeln, wobei den Gerichten eine Schlüsselrolle zukomme, "die sie bei politischen Reformen nicht haben sollten." Vermutlich werde es das BVerfG "bei ein paar mahnenden Worten in Richtung Berlin und Brüssel belassen", weil der Fall sonst wohl dem EuGH vorgelegt werden müsste. Und dann könnte es nach dem EZB-Urteil vor zwei Jahren zu einer erneuten Konfrontation kommen, was das BVerfG wohl vermeiden wolle.
Rechtspolitik
Schuldenbremse: Anlässlich der aktuellen Überlegungen zu einer erneuten Aussetzung der Schuldenbremse hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof gegenüber der Welt (Karsten Seibel) moniert, dass es an einer "außergewöhnliche Notsituation" fehle, die das Grundgesetz voraussetze. Die bloße Befürchtung einer Rezession reiche nicht aus. Rechtsprofessor Hanno Kube sieht das ähnlich: Je länger eine Krise andauere, desto mehr werde sie zur strukturellen Herausforderung. Dann handele es sich weniger um eine Notsituation, als um eine Situation, in der die allgemeine Politik gefragt sei. Rechtsprofessor Joachim Wieland könnte sich hingegen vorstellen, dass das BVerfG schon mit der Klimakrise eine Notsituation begründet sieht.
Recht auf Abtreibung: In der FAZ kritisiert Lucia Puttrich (CDU), Europaministerin in Hessen, eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juli 2022, in der angesichts der Abtreibungsentscheidung des US-Supreme Courts vorgeschlagen wird, ein Recht auf Abtreibung in der EU-Grundrechtecharta festzuschreiben. Es sei falsch, auf ein "(gefühlt) amerikanisches Extrem" mit einem gegenteiligen Extrem zu reagieren. Zudem warnt Puttrich davor, dass eine im EU-Parlament gefundene Mehrheit versuchen könnte, eine europäische Werte-Hegemonie zu errichten. Die EU sei ein Bund souveräner Staaten und das EU-Parlament solle sich besser nicht als Konkurrenz zu innerstaatlichen Akteuren inszenieren.
Digitale Dienste/Pressefreiheit: Die EU-Verordnung über Digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) gilt als beschlossen – es fehlt nur noch die Zustimmung des Ministerrats, die wohl im Herbst erfolgen wird. In der FAZ kritisiert der Rechtsanwalt Christoph Fiedler, dass der DSA die sozialen Plattformen mit der "Moderation von Inhalten" zur Sperrung von Pressebeiträgen ermächtige, sofern gegen ihre allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) verstoßen wird. Damit würden die Grenzen der Berichterstattung nicht mehr durch allgemeine Gesetze bestimmt, sondern durch Plattformen, die de facto das Recht bekämen, legale Presse zu unterdrücken.
Cannabis: Auf dem Verfassungsblog reagiert Rechtsprofessor Kai Ambos auf die Kritik an seiner in einem vorherigen Beitrag vertretenen These, dass die Entkriminalisierung des Cannabiskonsums die "völkerrechtlichen Vorgaben im Wesentlichen" nachvollziehe. Dem war unter Hinweis auf eine Regelung zur unerlaubten Ausfuhr von Betäubungsmitteln (Art. 71 Abs. 2 SDÜ) und auf den Beitritt der EU zur Wiener Drogenkonvention von 1988 widersprochen worden. Eine erlaubte Produktion und Abgabe falle aber überhaupt nicht unter die SDÜ-Vorschrift und ein Ausstieg aus der Wiener Drogenkonvention sei nicht notwendig, weil sie über die Verfassungsvorbehalte einen Spielraum für eine gesundheitspolitisch motivierte Entkriminalisierung lasse.
Anwaltliches Berufsrecht: Am 1. August 2022 tritt im Zuge der Reform der Bundesrechtsanwaltsordnung ein neuer § 43 f BRAO in Kraft, der erstmals die Pflicht für deutsche Anwält:innen statuiert, sich über das eigene Berufsrecht kundig zu machen. Auf beck-community stellt Rechtsanwalt Volker Römermann die Änderung vor und sieht in ihr eine Chance für die deutsche Anwaltschaft, sich ihrer selbst bewusster zu werden.
Justiz
Personalmangel im Strafvollzug: Wie die Welt (Kevin Culina) berichtet, besteht in den Haftanstalten vieler Bundesländer drastischer Personalmangel. Der Vorsitzende des Bundesverbands der Strafvollzugsbediensteten (BSBD), René Müller, spricht von bundesweit 2.000 offenen Stellen. Obwohl vielerorts das Gehalt erhöht wurde und teilweise sogar die Einstellungskriterien abgesenkt wurden, gebe es immer weniger Bewerbungen. In Berlin konnten wegen des Mangels an Bewerber:innen dieses Jahr schon zwei Ausbildungslehrgänge nicht starten.
EuGH – International Skating Union: Rechtsanwalt Mirko Gleitsmann weist im FAZ-Einspruch auf das EuGH-Verfahren zur International Skating Union (ISU) hin, das interessante Bezüge zum Super League-Verfahren aufweise. So hatte die EU-Kommission, bestätigt durch das EuG, der ISU untersagt, Teilnehmer einer Konkurrenzveranstaltung in Dubai zu sanktionieren und Konkurrenzveranstaltungen nicht zuzulassen. Es gebe aber einen wesentlichen Unterschied: Im ISU-Fall sei es um einzelne Wettkämpfe in der Off-Season gegangen, während es sich bei der Super League um eine zeitgleiche Konkurrenzliga zu den UEFA-Ligen handele. Die mündliche Verhandlung hatte am 11. Juli stattgefunden. Am 15. Dezember werde Generalanwalt Athanasios Rantos seine Schlussanträge vorlegen, ein Urteil des EuGH sei für Anfang 2023 zu erwarten.
BGH – Mord an Walter Lübcke: Im Interview mit spiegel.de (Ansgar Siemens) wertet der Strafverteidiger von Stephan Ernst, Mustafa Kaplan, die Erfolgsaussichten für eine Aufhebung der Verurteilung von Ernst wegen Mordes am CDU-Politiker Walter Lübcke als "nicht sehr hoch". Kaplan kann aber weder Heimtücke noch niedere Beweggründe erkennen, weil sein Mandant ausgesagt habe, dass Lübcke ihn vor der Tötung gesehen und mit ihm gesprochen hat. Daneben spricht Kaplan über seine eigene Karriere, in der er unter anderem den türkischen Präsidenten Erdoğan gegen Jan Böhmermann erfolgreich vertreten hat, und erklärt, warum er sich als "Anwalt der Bösen" sieht – wie seine diese Woche erscheinende Biografie heißt.
OLG München – Islamistische Attacke im ICE: Gut acht Monate nach der Messerattacke eines Islamisten auf Reisende in einem ICE in Bayern hat die Bundesanwaltschaft am Oberlandesgericht München Anklage erhoben. Dem Mann werden unter anderem versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Er soll spätestens im September 2021 den Entschluss gefasst haben, durch die Tötung "ungläubiger" Nichtmuslime in Deutschland einen Beitrag zum Dschihad zu leisten. Der damals 27-Jährige hatte vier Männer angegriffen und zum Teil schwer verletzt. Von einer psychischen Erkrankung wird nicht mehr ausgegangen. Es berichten FAZ und zeit.de.
OLG Düsseldorf – Spionage/Reserveoffizier: Am Oberlandesgericht Düsseldorf beginnt im Fall eines Reserveoffiziers der Bundeswehr, der wegen Spionage für Russland angeklagt ist, am 11. August die Hauptverhandlung. Die Bundesanwaltschaft wirft dem 65-jährigen Ralph G. vor, dem russischen Geheimdienst zwischen 2014 und 2020 Dokumente zugespielt zu haben, unter anderem zur Gaspipeline Nord Stream 2. Er war stellvertretender Leiter eines Kreisverbindungskommandos und gehörte mehreren Ausschüssen der deutschen Wirtschaft an. Die Welt berichtet.
OLG Frankfurt/M. zu Shisha-Konsum von Minderjähriger: Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt/M bekommt eine Minderjährige aus Hessen von einem Shisha-Bar-Betreiber 6.400 Euro Schmerzensgeld. Das Mädchen hatte mit einer Freundin die Shisha-Bar besucht und bekam ohne Altersüberprüfung eine Wasserpfeife ausgehändigt. Durch den Konsum zog sie sich eine Kohlenmonoxid-Vergiftung zu und musste ins Krankenhaus. Auch ein Jahr später konnte sie noch keinen Sport machen. LTO berichtet.
LG Würzburg - Messerstecher von Würzburg: Die Generalstaatsanwaltschaft München will den Messerstecher von Würzburg zeitlich unbefristet in einer Psychiatrie unterbringen lassen. Der Mann leidet ausweislich zweier Gutachten unter einer paranoiden Schizophrenie und war zur Tatzeit schuldunfähig. Er sei daher nicht zu einer Haftstrafe zu verurteilen, sondern in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen, hieß es im Prozess. Der Mann hat im Juni 2021 drei Menschen getötet und sechs weitere verletzt. spiegel.de berichtet.
VG Berlin zu Tempolimit für Fahrräder: Das Verwaltungsgericht Berlin hat eine Geschwindigkeitsbegrenzung von zehn km/h für Fahrräder in der Bergmannstraße in Berlin-Kreuzberg im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes für zulässig erklärt. Das Gericht verwies auf eine erhöhte Gefährdungslage. So habe es zwischen 2018 und 2020 insgesamt 14 Fahrradunfälle mit zwölf Leicht- und zwei Schwerverletzten gegeben. LTO berichtet.
AG Freiburg zu Brandstiftung durch Azubi: Nachdem ein Azubi im März 2021 ein Feuer in einer Werkstatthalle seines Arbeitsgebers legte und einen Schaden von rund drei Millionen Euro verursachte, hat das Amtsgericht Freiburg den heute 24-Jährigen zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Azubi soll frustriert von seinem Job gewesen sein. LTO berichtet.
Mehrbelastung der OLGs durch Energiewende: Der Präsident des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, Joachim Buchheister, erwartet eine steigende Anzahl an Verfahren zum Immissionsschutzrecht. Um die Umsetzung einiger Projekte zu beschleunigen, wurde mit dem Gesetz für einen schnelleren Ausbau des Ökostroms die erstinstanzliche Zuständigkeit für Großvorhaben wie etwa Flughäfen oder größeren Kraftwerken von den Verwaltungsgerichten auf das OVG übertragen. LTO berichtet.
Recht in der Welt
Österreich – Ischgl/Corona-Amtshaftung: Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts in Wien können die in Ischgl coronainfizierten Skiurlauber:innen wieder auf Schmerzensgeld, den Ersatz von Heilungs- und Pflegekosten und auf Lohnausfallzahlungen hoffen. In mehreren Amtshaftungsklagen stand die Frage im Zentrum, ob die vom Staat mitgeteilten Informationen über die Lage in Ischgl richtig und vollständig waren - was nun das OLG verneinte (anders als noch die erste Instanz). Die Behörden hatten am 5. März 2020 verbreitet, dass sich erkrankte Urlauber:innen erst im Flugzeug auf der Rückreise angesteckt hätten, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass bei ihnen schon in Ischgl Symptome aufgetreten waren. Das OLG verwies an die erste Instanz zurück, ließ aber auch eine Anfechtung vor dem Obersten Gerichtshof zu. Es berichten FAZ (Marcus Jung), SZ, taz, spiegel.de , LTO (Antonetta Stephany) und zeit.de.
Frankreich – Abschaffung von Rundfunkgebühren: Die französische Nationalversammlung hat für eine Abschaffung der Rundfunkgebühren gestimmt. Der Rundfunk soll zukünftig aus einem Teil der Mehrwertsteuer finanziert werden, wodurch die Französinnen und Franzosen jährlich 138 Euro pro Haushalt sparen würden. Der Senat muss dem Vorhaben aber noch zustimmen. LTO berichtet.
England/Wales – Rugby-Spätfolgen: Mehr als 185 frühere Spieler klagen gegen den Rugby-Weltverband sowie den englischen und walisischen Verband. Sie werfen den Verbänden vor, sie nicht genügend vor bleibenden Schäden durch Gehirnerschütterungen geschützt zu haben. Einige von ihnen sind an Demenz und der Gehirnerkrankung CTE erkrankt. Es berichten zeit.de und spiegel.de.
Juristische Ausbildung
Promotion während Referendariat: Von einer Promotion während des Rechtsreferendariats raten viele Expert:innen ab. LTO (Sabine Olschner) hatte bei der Ausbildungsleiterin für Referendare am Landgericht Köln, Friederike Preu, bei den Rechtsprofessoren Hinnerk Wißmann und Michael Grünberger und beim Rechtsanwalt Michael Hördt nachgefragt. Alle vier warnen vor einer erheblichen Doppelbelastung. Hördt spricht dabei aus eigener Erfahrung: Zu Beginn des Referendariats hatte er bereits einen Großteil seiner Promotion fertiggestellt, aber die "Restarbeit" (insbesondere die Fußnoten und das Up-To-Date-Halten) unterschätzt. Darunter litt seine Vorbereitung für das zweite Examen.
Sonstiges
Rechtsgeschichte – Max Hachenburg: Auf LTO rezensiert der Jurist Sebastian Felz ein neu erschienenes Buch mit ausgewählten Kolumnen, die der Rechtsanwalt Max Hachenburg von 1912 bis 1933 unter dem Titel "Juristische Rundschau" in der Deutschen Juristenzeitung veröffentlichte. 1930 schrieb Hachenburg beispielsweise über die Überlegung des Versicherungskonzerns Lloyd, eine "Examensversicherung" anzubieten, die das Risiko des Nichtbestehens des Examens absichert. Felz hält die gesammelten Beiträge für das rechtshistorische Buch des Jahres.
Das Letzte zum Schluss
Mit Ferrari auf Streife: Die tschechische Polizei wird auf der Jagd nach Verkehrssünder:innen künftig einen Ferrari 458 Italia auf der Autobahn einsetzen. Der bis zu 325 km/h schnelle Sportwagen wurde von Kriminellen beschlagnahmt und nun für den Polizeidienst umgerüstet. Etwas atypisch für einen Ferrari, trägt der Wagen nun die blau-gelben Streifen tschechischer Polizeiautos. spiegel.de berichtet.
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LTO/tr
(Hinweis für Journalist:innen)
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Die juristische Presseschau vom 26. Juli 2022: . In: Legal Tribune Online, 26.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49151 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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