Die juristische Presseschau vom 22. Oktober 2021: Cyber­kri­mi­na­lität nimmt zu / BVerwG zu 5G-Netz-Ver­gabe / "Dra­chen­lord" ver­ur­teilt

22.10.2021

Laut BSI steigt die Zahl und Stärke von Cyberangriffen in Deutschland an. BVerwG bemängelt die Vergabe der 5G-Netze und lässt Einflussnahme des Verkehrsministeriums prüfen. Amtsgericht Neustadt an der Aisch verurteilt provokanten Youtuber.

Thema des Tages

Cyberkriminalität: Die Zahl der Cyberangriffe in Deutschland steigt weiter, Grund dafür sind immer professionellere Cyberkriminelle, deren zunehmende Vernetzung sowie der mangelhafte Schutz gegen Schwachstellen in IT-Produkten. Das geht aus dem aktuellen Bericht zur Lage der IT-Sicherheit des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hervor, den Noch-Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und BSI-Präsident Arne Schönbohm vorstellten. Cyberangriffe legen immer häufiger sensible Infrastruktur wie Krankenhäuser oder Stromnetze lahm, Angreifer:innen erpressen Lösegeldsummen in Millionenhöhe. Es berichten SZ (Carina Seeburg), FAZ (Helene Bubrowski) und taz (Marilena Piesker).

Bastian Benrath (FAZ) kritisiert, das Problem sei lange bekannt und immer wieder habe das BSI auf die mangelnde Sicherheit hingewiesen. Dabei müsse das Verständnis für IT-Sicherheitsmaßnahmen wachsen und das eigene Verhalten geändert werden, bevor etwas passiert. Es dauere sonst nicht mehr lang, bis Hackerangriffe die deutsche Konjunktur beeinträchtigen. Anna Biselli (netzpolitik.org) fordert das vollkommene Überdenken und Erneuern der bisherigen IT-Sicherheitsstrategie. Zwar rühme sich Seehofer mit dem IT-Sicherheitsgesetz 2.0, dieses sei aber lückenhaft und lasse für den Staat zu viele Hintertüren, die dann von Angreifern ausgenutzt werden. Es gebe genug gute Vorschläge von IT-Sicherheitsforscher:innen zum effektiveren Schutz gegen Cyberangriffe, diese müssten von der kommenden Regierung nur "aufgesammelt" werden.

Rechtspolitik

Corona – Epidemische Lage: Am heutigen Freitag wollen die Ministerpräsident:innen der Länder bei ihrer Jahrestagung über eine Beschlussvorlage zur epidemischen Lage beschließen. Aus dem Entwurf des Beschlusses geht laut LTO und SZ hervor, dass die Bundesländer im Falle eines etwaigen Endes der "epidemischen Lage nationaler Tragweite" auf einen rechtssicheren Rahmen und einheitliches Vorgehen drängen, sodass Corona-Schutzmaßnahmen noch über den Herbst und Winter aufrechterhalten werden können. Laut Infektionsschutzgesetz können die Landesparlamente auch nach Auslaufen der epidemischen Lage im Bund die Notwendigkeit weiterer Corona-Maßnahmen feststellen und diese damit verlängern.

Regierungsbildung: Das Grundgesetz erwähnt zwar die Bundestags- und Kanzlerwahl, Sondierungen und Koalitionsverhandlungen hingegen bleiben ungeregelt. LTO (Benedikt Bögle) befasst sich mit dieser Lücke und zeigt, dass sie genau so vorgesehen war. Schließlich habe die Verfassung auch nur "Rahmencharakter" und rechne mit der "Selbstorganisation seiner Organe", erläutert Rechtsprofessor Oliver Lepsius gegenüber LTO.

Justiz

BVerwG zu 5G-Frequenzen-Vergabe: Das Verwaltungsgericht Köln muss die Klage gegen die Ausgestaltung der Vergabe- und Auktionsregeln der 5G-Frequenzen noch einmal prüfen. Das entschied das Bundesverwaltungsgericht am vergangenen Mittwoch und gab der klagenden Mobilfunknetzbetreiberin EWE TEL Recht. Das VG müsse nun zum einen klären, ob die Bundesnetzagentur (BNetzA) frei von Verfahrens- und Abwägungsfehlern über die Vergabe- und Auktionsregeln für die 5G-Frequenzen-Versteigerung entschieden hat und zum anderen, ob das Bundesverkehrsministerium in unionsrechtswidriger Weise versuchte, Einfluss auf die Entscheidung der BNetzA bei der Festlegung der Versorgungspflichten zu nehmen. Es berichten FAZ (Helmut Bünder), LTO und beck-community (Axel Spies).

AG Neustadt a.d. Aisch zum "Drachenlord": Das Amtsgericht Neustadt an der Aisch hat den YouTuber "Drachenlord" wegen gefährlicher Körperverletzung und anderer Straftaten zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Der "Drachenlord", mit bürgerlichem Namen Rainer W., hatte sich vor seinem Haus einen jahrelangen Kleinkrieg mit Anti-Fans ("Hatern") geleistet, die teils von weit her anreisten, um gegen seine teilweise frauenfeindlichen und antisemitischen Internet-Provokationen zu protestieren. Der "Drachenlord" war bereits 2019 wegen ähnlicher Vorfälle zu einer Bewährungsstrafe von sieben Monaten verurteilt worden und stand noch unter Bewährung. SZ (Clara Lipkowski) und spiegel.de berichten.

EuG zu Air Berlin-Insolvenz: Nun berichtet auch LTO über die Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union zur Übernahme von Teilen von Air-Berlin und der Air-Berlin-Tocher LGW durch EasyJet und Lufthansa. Die polnische Fluggesellschaft LOT hatte gegen die entsprechende Genehmigung der EU-Kommission geklagt, das EuG wies die Klage aber ab, da es keine Entscheidungsfehler der EU-Kommission feststellen konnte. 

OLG München – IS-Rückkehrerin Jennifer W.: Die ausführliche Seite-Drei-Reportage über den Prozess gegen Jennifer W. aus der SZ vom 21. Oktober ist jetzt online erschienen: sz.de (Annette Ramelsberger). Kommenden Montag soll das Urteil gesprochen werden.

LG München I zu Syntellix AG/Maschmeyer: Einzelne Aktionäre können keinen Schadensersatz an sich selbst für eine Wertminderung ihrer Aktien verlangen, wenn diese durch ein die Gesellschaft schädigendes Ereignis entstanden ist. Damit wies das Landgericht München I die Klage des Vorstandsvorsitzenden der Syntellix AG, Utz Claasen, gegen den Unternehmer Carsten Maschmeyer ab. Maschmeyer war an Claasens Syntellix AG beteiligt, trennte sich aber 2016 von seinem Investment und soll laut Claasen dann durch seine öffentlichen Äußerungen Syntellix geschadet haben, wofür Claasen Schadensersatz verlangte. Nach Entscheidung der Münchner Richter:innen schließen der Grundsatz der Kapitalerhaltung, die Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens sowie das Gebot der Gleichbehandlung aller Aktionäre einen solchen Anspruch des Gesellschafters aus, so LTO.  

LG Erfurt – Rassistischer Angriff in der Tram: Vor dem Landgericht Erfurt hat der Prozess gegen den 41-Jährigen begonnen, der im vergangenen April einen Jugendlichen in der Erfurter Straßenbahn rassistisch beleidigte, anspuckte, mehrfach ins Gesicht schlug und gegen den Kopf trat. Die Tat, wie die SZ und spiegel.de berichten, war gefilmt worden und hatte sich über die sozialen Medien schnell verbreitet und dort Entsetzen ausgelöst. Der Angeklagte hat sich unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zu verantworten, die Nebenklage schlug zudem vor, die Anklage um den Vorwurf des versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen zu erweitern. 

LG Berlin – Kannibalismus: Im Prozess gegen den 42-jährigen Stefan R., dem vorgeworfen wird seinen 44-jährigen Sexpartner Stefan T. getötet zu haben, um sich sexuell zu erregen und Teile der Leiche zu essen, sagten nun die beste Freundin des Opfers und seine Mutter aus. Sie hatten keine Todessehnsucht des Mannes wahrgenommen. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet.

LG Verden zu Weser-Leiche: Unter anderem wegen schwerer Zwangsprostitution, Vergewaltigung sowie gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen verurteilte das Landgericht Verden einen 41-Jährigen zu acht Jahren Freiheitsstrafe. Er soll als Anführer eines Trios eine 19-Jährige zur Prostitution gezwungen und sie später an einen Betonblock gefesselt in die Weser geworfen haben. Die beiden anderen Angeklagten, ein 54-jähriger Mann und eine 40-jährige Frau, wurden wegen Beihilfe jeweils zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Wie genau das psychisch kranke Opfer starb, konnte auch im Prozess nicht einwandfrei aufgeklärt werden. SZ (Peter Burghardt) und spiegel.de berichten.

LAG Berlin-BB zu Kündigungsschutz und Strafverfahren: Ein Strafverfahren gegen eine Mitarbeiterin ist kein Grund, ein Kündigungsschutzverfahren gegen diese auszusetzen. Das beschloss das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg in einem nun veröffentlichten Urteil von Anfang Oktober, hob damit den Beschluss des Arbeitsgerichts Potsdam auf und gab der sofortigen Beschwerde der Arbeitgeberin statt. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Mitarbeiterin, die in Verdacht steht, vier Menschen bei ihrer Arbeit in der Behinderteneinrichtung getötet zu haben, sei als Aussetzungsgrund nur statthaft, wenn die Ermittlungen maßgeblich für die Entscheidungen des Arbeitsgerichts seien, so laut LTO die Begründung des LAG. Auf die noch offene Schuldfähigkeit der Frau komme es für die Kündigungsfrage aber nicht an.

Recht in der Welt

Polen – Verfassungsgericht zu EU-Recht: Der Streit über das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts und die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in Polen setzt sich im Europäischen Rat fort. Vier Mitgliedstaaten, darunter die Niederlande und Österreich, sprachen sich dafür aus, die vorgesehen Milliardenhilfen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds für Polen zu sperren, bis das Land die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet. Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nahm eine vermittelnde Position ein und sagte, eine "Kaskade von Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof ist noch keine Lösung des Problems", wie die FAZ, LTO und der Tsp berichten.

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte in seiner Rede am vergangenen Dienstag vor dem EU-Parlament das Vorgehen Polens immer wieder mit den Urteilen anderer Gerichte in anderen Mitgliedstaaten gerechtfertigt, allen voran mit der EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von Mai 2020. In seiner Kolumne auf beck.aktuell diskutiert Rechtsprofessor Christoph Degenhart dieses Argument Polens. So sei die BVerfG-Entscheidung keinesfalls "eine Blaupause für das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts", da das BVerfG – anders als das polnische Verfassungsgericht – nicht den Vorrang von Unionsrecht in Frage gestellt habe. Im Gegenteil forderte das BVerfG sogar mehr Kontrolle durch den EuGH, schreibt die SZ (Wolfgang Janisch). Und auch das Argument Polens, in Deutschland würden die Mitglieder des Verfassungsgerichts ebenfalls von der Politik bestimmt, verfange laut SZ nicht. Diese Wahlen, die hälftig im Bundestag und im Bundesrat erfolgen, dienten der demokratischen Legitimation der Verfassungsrichter:innen, aber nicht den Machtbestrebungen einer einzelnen Partei wie der polnischen PiS.

Juristische Ausbildung

Verwaltungsstation: In LTO-Karriere (Sabine Olschner) geht es um die Auswahl der Verwaltungsstation im Referendariat. Dabei lässt sich auch in ganz untypischen Bereichen die Verwaltungsstation absolvieren wie etwa in der Oper. Außerdem wird empfohlen, sich für einige begehrte Plätze schon frühzeitig zu bewerben.

Sonstiges

Cum-Ex/Cum-Cum: Nach neuen Berechnungen des Mannheimer Ökonomen Christoph Spengel belaufen sich die Steuerausfälle in Deutschland wegen der Cum-Ex- und der Cum-Cum-Steuerhinterziehungssysteme auf 36 Mrd. Euro statt der zuvor angenommenen 31 Mrd. Euro und weltweit sogar auf 150 Mrd. Euro. Die FAZ (Corinna Budras) und der Tsp (Albert Funk) berichten zudem über neuere Enthüllungen, wonach solche Steuerbetrugssysteme in Deutschland bis heute nicht effektiv bekämpft werden, Bund und Länder die Aufklärung jahrelang blockierten und Rückzahlungen nur schleppend geltend gemacht werden.

In einem separaten Kommentar kritisiert Corinna Budras (FAZ), dass der Staat sich "nur halbherzig um die strafrechtliche und finanzielle Aufarbeitung kümmert", nachdem er mit einer "Nonchalance […] die systematische Steuerhinterziehung im großen Stil jahrelang gewähren ließ". Es gebe weder einen Überblick über die Höhe des Schadens für den Fiskus noch ein einheitliches Vorgehen der Bundesländer. Dabei sollte es doch gerade in Zeiten "knapper Kassen" eine Selbstverständlichkeit sein, dass sich der Staat einen umfassenden Überblick verschaffe.

Kindesmissbrauch: Am kommenden Dienstag will der Münchner Stadtrat eine Expertenkommission berufen, die umfangreich die sexualisierte Gewalt gegen Kinder aufklären soll, die in der Zeit von 1945 bis 1999 in der Obhut der Stadt München standen. Zentraler Fokus sollen die "Belange der Betroffenen" sein und die möglichst schnelle Klärung von Entschädigungszahlungen, so die SZ (Rainer Stadler). Anlass sind Medien-Berichte über Missbrauchsfälle in den 1960er und 1970er-Jahren in Heimen in und um München.  


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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ali

(Hinweis für Journalisten

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 22. Oktober 2021: . In: Legal Tribune Online, 22.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46429 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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