Das OLG Frankfurt hat die Entlassung von sechs mutmaßlichen Gewaltverbrechern aus der Untersuchungshaft angeordnet. Grund dafür war nicht etwa ein Wegfall der Flucht- oder Verdunklungsgefahr, sondern die überlange Dauer des Verfahrens.
Versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, schwerer Raub – so lauten u.a. die Vorwürfe gegen mutmaßliche Täter, die nach Beschlüssen des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt nun aus der U-Haft freigelassen werden mussten (Beschl. v. 30.06.2022, Az. 2 HEs 224-227/22; Beschl. v. 24.05.2022, Az. 1 HEs 80/22; Beschl. v. 28.06.2022, Az. 1 HEs 223/22.) Die mutmaßlichen Gewaltverbrecher befanden sich zum Teil seit knapp zwölf Monaten in Haft.
Zwei Strafsenate des OLG Frankfurt haben mit ihren Beschlüssen Haftbefehle aufgehoben, weil der weitere Vollzug der Untersuchungshaft bei Angeschuldigten mit dem in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot nicht mehr zu vereinbaren sei. Das staatlich garantierte Beschleunigungsgebot fordert den zügigen Abschluss eines gegen den Beschuldigten geführten Strafverfahrens. Dieser Grundsatz findet sich in § 121 Strafprozessordnung (StPO) wieder. Danach muss der Haftbefehl grundsätzlich nach sechs Monaten aufgehoben werden, es sei denn, etwa die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen rechtfertigen die Fortdauer der Haft.
Dass die Verfahren nicht eröffnet werden konnten, liegt nach der Pressemitteilung des OLG nicht an den konkreten Ermittlungen selbst, sondern in der erheblichen strukturellen Überlastung des Gerichts mit zahlreichen Haftsachen, die auch bei nahezu täglicher Verhandlung nicht mehr zu bewältigen sei. Derartige, nicht nur kurzfristige Überlastungen seien kein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO, der eine Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könne.
Zahl der Entlassungen wegen Personalnot sprunghaft angestiegen
Die Entlassungen sind kein Einzelfall. Im letzten Jahr sind bundesweit mindestens 66 Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen worden, weil ihre Verfahren zu lange dauerten. Das geht aus Zahlen der Deutschen Richterzeitung hervor, die am Montag vom Deutschen Richterbund (DRB) veröffentlicht worden sind. Im Jahr 2020 seien es lediglich 40 Entlassungen gewesen.
Für die Umfrage der Deutschen Richterzeitung waren die Justizministerien und Oberlandesgerichte der 16 Länder befragt worden. Von den 66 bekannten Fällen im Jahr 2021 hatten Sachsen und Schleswig-Holstein mit jeweils elf Haftentlassungen die höchsten Zahlen gemeldet. Bayern habe von zehn Fällen berichtet, hieß es. In Hessen waren es zwei Entlassungen. Lediglich vier Länder (Brandenburg, Bremen, Hamburg und Saarland) meldeten keine Haftentlassungen wegen zu langer Verfahren.
"Die aktuellen Fälle von U-Haftentlassungen werfen erneut ein Schlaglicht auf die hohe Arbeitsbelastung vieler Gerichte und Staatsanwaltschaften", erklärte auch DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn. Darüber hinaus fehle es der Strafjustiz nach wie vor deutlich an Staatsanwälten und Strafrichtern, so dass sie selbst vorrangige Haftsachen nicht immer mit der rechtsstaatlich gebotenen Beschleunigung erledigen könnten.
OLG Frankfurt kritisiert die Politik
Auch das OLG Frankfurt kritisiert offen und mit klaren Worten die politisch Verantwortlichen: "Beschuldigte in Untersuchungshaft müssten eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung eines Haftbefehls nicht in Kauf nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen."
Derweil hat die SPD-Fraktion im hessischen Landtag eine Sondersitzung des Rechtsausschusses gefordert. "Der Justizminister ist in der Pflicht, das Parlament umgehend über die Einzelheiten dieses unfassbaren Vorgangs zu informieren", sagte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Gerald Kummer. Hessens neuer Justizminister Roman Poseck (CDU), zuvor selbst Präsident des OLG Frankfurt, hatte am Wochenende Abhilfe versprochen: "Es muss alles unternommen werden, Aufhebungen von Haftbefehlen zu verhindern."
Die zuständige Schwurgerichtskammer hatte die strukturelle Überlastung aufgrund zahlreicher Haftsachen bereits im Vorfeld angezeigt. Abhilfe wurde dennoch nicht geschaffen.
Neuer Pakt für den Rechtsstaat soll zu mehr Personal führen
Bund und Länder hatten Anfang 2019 in einem "Pakt für den Rechtsstaat" vereinbart, dass zwischen 2017 und Ende 2021 bundesweit 2.000 neue Stellen in der überlasteten Justiz geschaffen werden müssen. Letztlich hätten Bund und Länder laut einem 2021 veröffentlichten Bericht der Bundesregierung sogar mehr Richter und Staatsanwälte einstellen können als ursprünglich vorgesehen. 2.700 neue Stellen kamen hinzu und 2.500 wurden neu besetzt. SPD, Grüne und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt: "Wir verstetigen mit den Ländern den Pakt für den Rechtsstaat und erweitern ihn um einen Digitalpakt für die Justiz."
Laut Pressemitteilung des OLG ist "eine Terminierung der Verfahren (…) auch weiterhin auf absehbare Zeit nicht möglich". Von daher dürfte zu erwarten sein, dass es auch zukünftig zu weiteren Freilassungen wegen überlanger Verfahren kommt.
ku/fz/LTO-Redaktion
OLG Frankfurt hebt Haftbefehle auf: . In: Legal Tribune Online, 04.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48931 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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