LSG Niedersachsen zu Sozialleistungsbetrug: Wer die Voll­macht nicht wider­ruft, haftet

02.04.2024

Wie schnell es im Sozialrecht um Grundsatzfragen des BGB AT gehen kann, zeigt ein Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen. Ein Fall mit Prüfungspotenzial rund um Vertretungsmacht und Anscheinsvollmacht.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat entschieden, dass eine ehemalige Grundsicherungsempfängerin für den Sozialleistungsbetrug ihres Lebensgefährten haftet und den zu viel geleisteten Betrag zurückzahlen muss. Und das obwohl sie von dem Geld selbst nie etwas gesehen hat (Urt. v. 27.02.2024, Az. L 11 AS 330/22). Der Grund dafür liegt in den Tiefen des BGB AT, nämlich in dem unterbliebenen Widerruf der erteilten Vollmacht und den Grundsätzen der Anscheins- und Duldungsvollmacht.

Geklagt hatten eine Frau und deren Tochter aus Hannover. Mit ihrem Lebensgefährten und Vater bezogen sie seit 2005 Grundsicherungsleistungen. Um die Anträge der sogenannten Bedarfsgemeinschaft kümmerte sich der Lebensgefährte. Als die Frau nach der Elternzeit wieder arbeitete, beauftragte sie ihn 2008 mit der Abmeldung der Bedarfsgemeinschaft beim Jobcenter, da sie ihren Lebensunterhalt nun selbst sicherstellen konnte. Er aber leitete stattdessen die Leistungen auf ein anderes Konto um und fing sämtlichen Schriftverkehr ab.

Erst Jahre später erfuhr das Jobcenter von der Beschäftigung. In der Folge machte es eine Erstattungsforderung von circa 11.000 Euro gegenüber der Frau geltend, die sie zunächst in Raten bezahlte. Nach der Verurteilung des Mannes wegen Sozialleistungsbetrugs und dem Ende der Beziehung klagte sie jedoch, da sie von dem Vorgang nichts gewusst habe.

Das LSG hat nun aber die Rechtsauffassung des Jobcenters bestätigt: Die Frau haftet für den Sozialleistungsbetrug ihres Lebensgefährten und muss die 11.000 Euro zurückzahlen, obwohl sie diese nach eigenen Angaben selbst nie erhalten hat. Die Frau könne sich hierbei nicht auf Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 des Zehnten Sozialgesetzbuches (SGB X) berufen, so das Gericht.

Lebensgefährte als Vertreter mit Vertretungsmacht nach § 164 BGB

Auf Vertrauensschutz könne sich ein Begünstigter unter anderem dann nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt (hier den Bewilligungsbescheid) durch arglistige Täuschung erwirkt hat, der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.

Nach eigenen Angaben wusste zwar die klagende Frau nichts von der unterbliebenen Mitteilung an das Jobcenter. Ihr Lebensgefährte aber hat bewusst nicht angegeben, dass sie zwischenzeitlich eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hatte, da er die Weiterbewilligung der Leistungen erreichen wollte.

Dieses Verhalten ihres Lebensgefährten muss sich die Frau als Vertreterhandeln nach § 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurechnen lassen, entschied das Gericht. Ihr Lebensgefährte sei als ihr Vertreter mit Vertretungsmacht nach § 164 Abs. 1 BGB aufgetreten, da sie ihn zunächst damit beauftragt hatte, Angaben gegenüber dem Jobcenter zu machen. Diese Vollmacht habe sie nie widerrufen, was nach § 168 BGB möglich gewesen wäre.

Haftung nach den Grundsätzen der Duldungs- und Anscheinsvollmacht

In den Folgemonaten habe die Klägerin ihren Lebensgefährten zwar nicht mehr aktiv damit beauftragt, Handlungen gegenüber dem Jobcenter auszuführen, dennoch hafte sie auch in dieser Zeit für dessen Verhalten. Das folge aus den Grundsätzen der Anscheins- und Duldungsvollmacht.

Dabei handelt es sich um eine ungeschriebene aber gewohnheitsrechtlich anerkannte Form der Vertretung. Wer den Rechtsschein dazu setzt, dass ein anderer für ihn wie ein Vertreter auftritt, muss sich nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht dessen Verhalten zurechnen lassen, selbst wenn er keinen Bevollmächtigungswillen (mehr) hatte. Das Handeln des Vertreters ist dem Vertretenen dann nach §§ 164 Abs. 1, 166 Abs. 1, 278 BGB zuzurechnen. Liegen die Voraussetzungen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht vor, muss sich der Vertretene so behandeln lassen, als hätte er eine Vollmacht entsprechend dem gesetzten Rechtsschein erteilt.

Es sei der Rechtsfigur einer solchen Vollmacht immanent, zum Schutz des Rechtsverkehres ein im Außenverhältnis wirksames Handeln des Vertreters herzustellen, wenn die Grenzen im Innenverhältnis überschritten seien, argumentierte das Gericht.

Für die Tochter, die ebenfalls geklagt hatte, folge die Zurechnung der Handlungen ihres Vaters gegenüber dem Jobcenter bereits aus §§ 164 Abs. 1, 166 Abs. 1, 278 BGB i.V.m. § 1629 BGB, der eine gesetzliche Vertretungsmacht von Eltern für ihre Kinder statuiert.

cho/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

LSG Niedersachsen zu Sozialleistungsbetrug: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54235 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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