Der Spiegel darf in seinem Leitartikel nicht den Verdacht erwecken, Rammstein-Sänger Till Lindemann setze Frauen unter Drogen, um mit ihnen Sex haben zu können. Damit hält das LG Hamburg an seiner bisherigen Auffasung fest.
"Wir tendieren dazu, die einstweilige Verfügung zu bestätigen." Mit diesem Satz des Vorsitzenden Richters der Pressekammer am Landgericht (LG) Hamburg, Dr. Florian Schwill, war am Freitag schon kurz nach Verhandlungsbeginn klar, wie es ausgehen würde: Dem Spiegel bleiben zentrale Passagen seines Lindemann-Leitartikels vom 9. Juni (online) bzw. 10. Juni (Print) untersagt (Urt. v. 25.08.2023, Az. 324 O 228/23).
Das LG hatte dem Spiegel am 14. Juli in einem Eilverfahren verboten, den Verdacht zu erwecken oder erwecken zu lassen, Lindemann habe Frauen mit K.O.-Tropfen, Drogen und/oder Alkohol betäubt, um sexuelle Handlungen an ihnen vorzunehmen. Diesen Eilbeschluss (v. 14.07.2023, Az. 324 O 228/23) bestätigte das LG am Freitagnachmittag.
Dass die Pressekammer an ihrer Interpretation des Artikels festhielt, missfiel dem Prozessbevollmächtigten des Spiegel, Dr. Marc-Oliver Srocke (Advant Beiten), der sich im Anschluss an das richterliche Eingangsstatement verzweifelt bemühte, das Verfahren noch in eine andere Richtung zu lenken. "Diese Deutung der Kammer halte ich für fernliegend", so Srocke. Der Spiegel-Vertreter störte sich vor allem daran, dass aus "zusammengewürfelten Passagen" ein Verdacht konstruiert werde, den weder der Autor des Artikels noch die hier wiedergegebenen interviewten Frauen gemacht hätten.
LG: In Zusammenschau ergeben die Passagen einen "Spiking"-Verdacht
Das Nachrichtenmagazin präsentierte in der mündlichen Verhandlung über den Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung (§§ 924 f. Zivilprozessordnung (ZPO)) keine neuen Beweismittel, sondern erhoffte sich, die Hamburger Richter umzustimmen, d.h. sie von ihrer ursprünglichen Lesart des Artikels abzubringen.
Tatsächlich nennt der Beschluss beispielhaft verschiedene Textpassagen, die für die Leserschaft in Zusammenschau den Verdacht ergäben, Lindemann habe Frauen durch Rauschmittel zum Sex gefügig gemacht (ein Fall des sogenannten Spikings). Laut Lindemanns Prozessbevollmächtigtem Simon Bergmann (Schertz Bergmann Rechtsanwälte) sind die Zitate dabei keineswegs beliebig ausgewählt worden. Vielmehr diene die Nennung einzelner Textpassage im Unterlassungsantrag dazu, dem Spiegel nachvollziehbar zu machen, warum Leser des Artikels den Eindruck gewönnen, der Artikel verdächtige Lindemann, Frauen mit Drogen gefügig gemacht zu haben. Tenor des angegriffenen LG-Beschlusses war auch nicht, dass alle Einzelpassagen verboten werden, sondern das LG untersagte dem Spiegel, durch alle Passagen zusammen den o.g. Verdacht insgesamt "zu erwecken und/oder erwecken zu lassen".
Die medienrechtliche Frage, über die die Parteien am Freitag vehement stritten, lautet also: Ergibt die Zusammenschau der Einzelpassagen wirklich jenen Verdacht, der im Kern nichts Geringeres als ein Vergewaltigungsverdacht ist? Maßgeblich sei dabei die "Sicht eines unbefangenen Durchschnittslesers", betonte Richter Schwill. Um das zu beantworten, muss man den Artikel natürlich kennen.
Was in dem Artikel steht
In dem Text heißt es etwa, "einige Frauen" – wenn auch nicht die vom Spiegel interviewten – "vermuten, ihnen seien Drogen ins Getränk gemischt worden". "All das erinnert an den Fall Weinstein. Da war es Roses McGowan, die den […] Filmproduzenten […] der Vergewaltigung beschuldigte." Weiterhin werden die interviewten sowie andere Frauen mit bestimmten Vorwürfen (direkt und indirekt) zitiert.
Unter den im Beschluss des LG reproduzierten Äußerungen findet sich auch eine über Twitter und Instagram verbreitete Aussage der Irin Shelby Lynn mit dem Inhalt: "I was spiked." Die Verbreitung genau dieses Verdachts, der sich aufgrund der Passivkonstruktion grammatisch an niemanden Konkretes richtet, somit auch nicht an Lindemann, war Lynn vergangene Woche – ebenfalls durch die Pressekammer des LG – als Meinungsäußerung erlaubt worden.
Eine Frau – in dem Artikel "Zoe" genannt – berichtet zudem davon, mitten während des Geschlechtsverkehrs mit Lindemann in einem Hotelzimmer zu sich gekommen zu sein, ohne zu wissen, wie sie in diese Situation gekommen war. Ihre Erinnerungen seien verschwommen gewesen. Nach dem Sex, der mit einvernehmlichem Oralverkehr begonnen hatte, habe sie einen großen Blutfleck auf dem Laken entdeckt, der auf eine Verletzung bei ihr zurückzuführen sei. Darüber, ob der Sex einvernehmlich war, trifft der Spiegel-Autor keine eigene Aussage. Stattdessen wird Zoe zitiert mit: "Ich weiß es nicht." Weiter heißt es in der dritten Person über die Zeugin: "Sie will nicht behaupten, dass es nicht einvernehmlich gewesen sei."
Die Pressekammer des LG stimmte mit Lindemanns Auffassung darin überein, dass der Durchschnittsleser durch "diese Einbettung klar zum Verständnis gelangt", Frauen würden zur Ermöglichung sexueller Handlungen in einen Rausch versetzt.
Spiegel: Text beschreibt lediglich das System zur Rekrutierung von Frauen
Der Spiegel hingegen sieht die Kernaussage des Textes woanders: Es gehe in dem Artikel vor allem darum, "das perverse Groupie-System eines Weltstars" aufzudecken, wie es auch auf dem Cover der Print-Ausgabe vom 10. Juni hieß. Gemeint sind damit die von einer Zeugin im Artikel geschilderten Prozesse zur Rekrutierung weiblicher Fans zum Geschlechtsverkehr im Rahmen von Konzerten der Band. Dieses System ist laut den Vertretern des Nachrichtenmagazins mittlerweile sogar unstreitig. Lindemann-Vertreter Bergmann widersprach dem nicht.
Die Frage ist eben nur: Gehört zu diesem System – so, wie es (je nach Auffassung) im Spiegel-Artikel dargestellt wird – notwendig auch das Unterdrogensetzen der Frauen?
Nein, meint der Spiegel. Den direkten und indirekten Zitaten der drei interviewten Frauen, den eigenen Wertungen und Tatsacheninformationen des Autors sowie den wiedergegebenen Rammstein-Songtexten und Gedichtpassagen lasse sich das nicht entnehmen. "Zeigen Sie mir doch die Stelle, aus der sich das ergeben soll!", forderte Srocke Gericht und Gegner auf.
Landet der Fall in Karlsruhe?
Rechtsanwalt Bergmann verwies ebenso wie Richter Schwill mehrfach darauf, dass es unstreitig keine einzelne Textpassage gäbe, aus der sich der "Spiking"-Verdacht ergäbe, aber die Gesamtschau sei dagegen eindeutig. Auch Srockes Abstellen auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu dieser sogenannten Verdachtsberichterstattung stimmte das LG Hamburg nicht um. Srocke bat die Richter, sich noch mal eingehend mit diesen Urteilen auseinanderzusetzen – und damit, was für krasse Aussagen dort noch als zulässige Meinungsäußerungen eingestuft worden seien. "Gehen Sie davon aus, dass die Kammer das sorgfältig macht, gemacht hat, noch mal gemacht hat und noch mal machen wird", erwiderte der Vorsitzende Richter.
Das klang, wie schon das Eingangsstatement, nach einer Bestätigung des Beschlusses vom 14. Juli – und so kam es dann auch. Auf die zwischenzeitliche Frage, ob sich die Parteien vielleicht doch noch durch Vergleich einigen wollen, schüttelten Srocke und Bergmann den Kopf. "Zu wichtig", sagte Srocke. Das hört sich so an, als plane der Spiegel, sein Interesse durch alle Instanzen weiterzuverfolgen. Nächste Station wäre das Hanseatische Oberlandesgericht, schräg gegenüber vom LG Hamburg.
LG Hamburg bestätigt Unterlassungsverfügung gegen Spiegel: . In: Legal Tribune Online, 25.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52571 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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