Zwei Monate nach der Bundestagswahl hat sich die Ampel auf ein Arbeitsprogramm für die nächsten vier Jahre verständigt. Auf 177 Seiten finden sich auch zahlreiche rechtspolitische Vorhaben, u.a. die Legalisierung von Cannabis.
Im Rekordtempo haben es SPD, Grüne und FDP geschafft, sich auf einen umfangreichen Koalitionsvertrag zu verständigen. Unter dem Titel "Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit" beschreiben die Ampel-Partner ihr Arbeitsprogramm bis 2025. Rechtspolitisch finden sich im Vertragstext zahlreiche konkrete Projekte. Die Sorge einiger Akteure im Vorfeld, die Koalition behandele die Themen Justiz und Rechtspolitik stiefmütterlich, dürfte sich damit ein stückweit erledigt haben.
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) stellte in einer ersten Reaktion fest, dass im Vertragstext der Begriff "Rechtsstaat“ 29-mal auftauche: "Das lässt Gutes hoffen – zumal ausdrücklich klargestellt wird, dass der Rechtsstaat nicht nur eine Verteidigung der Sicherheit, sondern auch der bürgerlichen Freiheitsrechte bedeutet." Das Justizressort wird künftig von der FDP besetzt, das Innenministerium von der SPD. Neuer Justizminister wird der bisherige Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Marco Buschmann.
Neuer Krisenstab zur Corona-Bekämpfung
Als "vordringlichste Aufgabe" bezeichnen die Parteien in ihrem Koalitionsvertrag, die Corona-Pandemie zu besiegen. Neu geordnet werden soll "das Krisenmanagement der Bundesregierung zu Bekämpfung der Pandemie". Hierzu soll "unverzüglich" ein gemeinsamer Krisenstab der Bundesregierung eingesetzt werden, "um die gesamtstaatliche Bekämpfung der Corona-Pandemie besser zu koordinieren". Außerdem werde zur wissenschaftlichen Beratung ein interdisziplinär besetzter wissenschaftlicher Pandemierat beim Bundesministerium für Gesundheit geschaffen.
Um die fortwirkenden Pandemiefolgen zu bewältigen, soll 2022 wegen einer außergewöhnlichen Notsituation noch eine Ausnahme von der in Art.115 Grundgesetz (GG) geregelten Schuldenbremse gelten. Erst ab 2023 werde man die Verschuldung "auf den verfassungsrechtlich von der Schuldenbremse vorgegebenen Spielraum beschränken und die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten". Das derzeit auch verfassungsrechtlich diskutierte Thema "Impfpflicht" findet im neuen Koalitionsvertrag keine Erwähnung.
"Oberste Priorität" genießt für die neue Koalition außerdem, die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen. "Klimaschutz sichert Freiheit, Gerechtigkeit und nachhaltigen Wohlstand", heißt es. Wie bereits im Sondierungspapier beschrieben, soll das fossile Zeitalter "Schritt für Schritt" beendet werden, "indem wir den Kohleausstieg idealerweise auf 2030 vorziehen und die Technologie des Verbrennungsmotors hinter uns lassen".
Sicherheitsarchitektur wird überprüft
Rechts- und Innenpolitisch hat sich die Ampel ambitionierte Projekte vorgenommen – mehr als nach Lektüre des kursorischen Sondierungspapiers vielleicht zu erwarten waren:
Der Abschnitt "Innere Sicherheit, Bürgerrechte, Justiz, Verbraucherschutz, Sport" startet mit einem Bekenntnis für die Sicherheitsbehörden: Versprochen wird, die Bundespolizeien besser auszustatten, aber auch rechtsstaatlich besser zu kontrollieren: "Wir führen eine unabhängige Polizeibeauftragte bzw. einen unabhängigen Polizeibeauftragten für die Polizeien des Bundes als Anlaufstelle beim Deutschen Bundestag mit Akteneinsichts- und Zutrittsrechten ein. Wir führen die pseudonyme Kennzeichnung von Polizistinnen und Polizisten ein."
Außerdem wolle man gemeinsam mit den Ländern die Sicherheitsarchitektur in Deutschland einer Gesamtbetrachtung unterziehen und die Zusammenarbeit der Institutionen für die Sicherheit der Menschen effektiver und wirksamer gestalten. "Nachhaltig" verbessert werden soll gemeinsam mit den Ländern "die Aussagekraft der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken". Der periodische Sicherheitsbericht werde gesetzlich verankert, zudem werde der Pakt für den Rechtsstaat "verstetigt" und um einen Digitalpakt für die Justiz erweitert. Die Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Barbara Stockinger begrüßte dies in einer Erklärung noch am Mittwoch.
Grundsätzlich verspricht die neue Koalition eine "vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik". Um diese zu begleiten, soll eine unabhängige interdisziplinäre Bundesakademie geschaffen werden. "Die Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Freiheitsrechte müssen stets gut begründet und in ihrer Gesamtwirkung betrachtet werden. Die Sicherheitsgesetze wollen wir auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen sowie auf ihre Effektivität hin evaluieren." Ein unabhängiges Expertengremium, die sog. Freiheitskommission, soll die Politik bei zukünftigen Sicherheitsgesetzgebungsvorhaben beraten und Freiheitseinschränkungen evaluieren. Bei der Kriminalitätsbekämpfung erteilt die Ampel einer flächendeckenden Videoüberwachung und dem Einsatz von biometrischer Erfassung zu Überwachungszwecken eine Absage.
Gesetzliche Grundlage für V-Leute
Beim Thema Geheimdienste beabsichtigt die Ampel, ein heißes Eisen anzufassen: So sollen die Voraussetzungen für den Einsatz von V-Personen, Gewährspersonen und sonstigen Informantinnen und Informanten aller Sicherheitsbehörden gesetzlich geregelt und unter Wahrung der notwendigen Anonymität parlamentarisch überprüfbar gemacht werden. Geprüft werden soll, ob die Nachrichtendienste bei der Nachverfolgung von Transaktionen zur Terrorismusfinanzierung über ausreichende Möglichkeiten verfügen.
Im Bereich Justizpolitik im engeren Sinne wird u.a. angekündigt, auf die "Anforderungen" des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) beim externen ministeriellen Einzelfallweisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften zu reagieren: Der EuGH hatte im Zusammenhang mit dem EU-Haftbefehl kritisiert, dass deutsche Staatsanwaltschaften hier nicht hinreichend unabhängig agierten. Die Ampel stellt jetzt klar: "Für den Vollzug eines Europäischen Haftbefehls bedarf es einer richterlichen Entscheidung."
Offenbar als Reaktion auf das Hick-Hack bei der Benennung des Präsidenten des Bundesfinanzhofes (BFH) will die Ampel nun "die Wahl und die Beförderungsentscheidungen für Richterinnen und Richter an den obersten Bundesgerichten unter den Kriterien Qualitätssicherung, Transparenz und Vielfalt reformieren". Gerichtsverfahren sollen "schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden. Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können".
Ausgebaut werden soll zudem der kollektive Rechtsschutz. Bestehende Instrumente wie z. B. nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz würden modernisiert, die Musterfeststellungsklage werde weiterentwickelt, kleine Unternehmen sollten mehr Klagemöglichkeiten bekommen.
Überarbeitung des strafrechtlichen Sanktionensystems
Im Bereich Strafrecht stellt die Ampel klar, dass dieses "immer nur Ultima Ratio" sei: Angekündigt wird auch hier eine Evaluierung: "Wir überprüfen das Strafrecht systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche und legen einen Fokus auf historisch überholte Straftatbestände, die Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz. Das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen werde mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung überarbeitet.
Ein Bekenntnis gibt das neue Bündnis zugunsten der Beschuldigtenrechte und der Rechte von Strafverteidiger:innen ab: Strafprozesse würden zwar noch effektiver, schneller, moderner und praxistauglicher gemacht, aber "ohne die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung zu beschneiden". Freuen dürften sich Strafrechtler:innen wohl auch über weitere Versprechungen, die das Strafverfahren betreffen und teilweise langjährige Forderungen der Zunft aufgreifen:
"Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Unter anderem regeln wir die Verständigung im Strafverfahren einschließlich möglicher Gespräche über die Verfahrensgestaltung und das grundsätzliche Verbot der Tatprovokation. Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein. Wir stellen die Verteidigung der Beschuldigten mit Beginn der ersten Vernehmung sicher."
Transsexuellengesetz wird abgeschafft
Im Bereich Anti-Diskriminierung erhört die Ampel langjährige Forderungen der LGBTI-Community: So wird das Transsexuellengesetz abgeschafft und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden. Außerdem werden geschlechtsspezifische und homosexuellenfeindliche Beweggründe in den Katalog der Strafzumessung des § 46 Abs. 2 StGB explizit aufgenommen. Die Polizeien von Bund und Ländern sollen künftig Hasskriminalität aufgrund des Geschlechts und gegen queere Menschen separat erfassen.
GG-Änderungen sind mindestens drei geplant: So soll der Gleichbehandlungsartikel (Artikel 3 Absatz 3 GG) um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität ergänzt und der Begriff "Rasse“ im GG ersetzt werden. Zudem will die Ampel einen neuen Versuch starten und die Kinderrechte ausdrücklich im GG verankern. Orientiert werden soll sich dabei "an den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention".
Weitere rechtspolitische Schwerpunkte sieht die Ampel im Unternehmens- und Arbeitsrecht. Angekündigt wird, dass die Vorschriften der Unternehmenssanktionen einschließlich der Sanktionshöhe überarbeitet, "um die Rechtssicherheit von Unternehmen im Hinblick auf Compliance-Pflichten zu verbessern und für interne Untersuchungen einen präzisen Rechtsrahmen zu schaffen".
Rechtsrahmen für Legal Tech, kein "Rütteln" am 8-Stunden-Tag
Die EU-Whistleblower-Richtlinie soll rechtssicher und praktikabel umgesetzt werden, damit Whistleblowerinnen und Whistleblower nicht nur bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht vor rechtlichen Nachteilen, sondern auch von erheblichen Verstößen gegen Vorschriften oder sonstigem erheblichen Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt, geschützt seien.
Auch das Thema Legal Tech findet sich im Koalitionsvertrag: "Wir erweitern den Rechtsrahmen für Legal Tech-Unternehmen, legen für sie klare Qualitäts- und Transparenzanforderungen fest und stärken die Rechtsanwaltschaft, indem wir das Verbot von Erfolgshonoraren modifizieren und das Fremdbesitzverbot prüfen."
Im Arbeitsrecht stellt die Ampel klar, dass sie am Grundsatz des 8-Stunden-Tages im Arbeitszeitgesetz festhaltern will. Formulierungen im Sondierungspapier über mehr Flexibilisierung hatten hier für Spekulationen gesorgt. Jetzt heißt es einschränkend, dass im Rahmen einer im Jahre 2022 zu treffenden, befristeten Regelung mit Evaluationsklausel es nur "im Rahmen von Tarifverträgen" Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglicht werden soll, unter bestimmten Voraussetzungen und in einzuhaltenden Fristen ihre Arbeitszeit flexibler zu gestalten. "Eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit" werde es nur geben, "wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen, auf Grund von Tarifverträgen, dies vorsehen (Experimentierräume)". Im Dialog mit den Sozialpartnern soll allerdings geprüft werden, welcher Anpassungsbedarf "angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht" bestehe. Flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) müssten weiterhin möglich sein.
Cannabis für Erwachsene bald legal erhältlich
Freuen dürften sich schließlich Cannabis-Freunde und Fußball-Fans über die Pläne der Ampel: Letzteren wird versprochen, dass die Datei "Gewalttäter Sport" im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, Löschfristen, Transparenz und Datenschutz reformiert werde. Zur Unterstützung der Fankultur werde zudem die Koordinationsstelle Fanprojekte gestärkt.
Beim Thema Cannabis kommt es nun endlich zu der von vielen erhofften Legalisierung: "Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet", heißt es im Abschnitt "Pflege und Gesundheit". Das entsprechende Gesetz werde nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen evaluiert.
Was die personelle Aufgabenverteilung anbelangt, so werden die Grünen künftig gemäß Artikel 69 GG den Stellvertreter des designierten Bundeskanzlers Olaf Scholz stellen, im Gespräch ist hier der Parteivorsitzende Robert Habeck. Außerdem wird der Ökopartei das Vorschlagsrecht für die Europäische Kommissarin oder den Europäischen Kommissar zugestanden, sofern die Kommissionspräsidentin bzw. der Kommissionspräsident nicht aus Deutschland stammt. Die FDP dürfte sich darüber freuen, dass Christian Lindner das lang ersehnte Finanzressort erhält. Wer für die SPD künftig verantwortlich das Gesundheitsressort leiten wird, war zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels noch offen.
Koalitionsvertrag vorgestellt: . In: Legal Tribune Online, 24.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46746 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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