Auch wenn das polnische Justizsystem systematische Mängel aufweise, rechtfertigt das nicht die automatische Ablehnung von europäischen Haftbefehlen aus Polen, so der EuGH. Diese müssten sich im konkreten Einzelfall auswirken.
Europäische Haftbefehle (EuHB), mit denen mutmaßliche Straftäter aus anderen europäischen Ländern nach Polen zurückgeholt werden sollen, dürfen nicht pauschal abgelehnt werden, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag. Auch wenn das Justizsystem systematische Mängel aufweist, bleibt es damit bei der Prüfung des Einzelfalls (Urt. v. 22.02.2022, Rechtssache C-562/21 PPU und C-563/21 PPU).
Die Vorlagefragen eines niederländischen Gerichts, angestoßen von der dortigen Staatsanwaltschaft, zielten auf Sorgen um wachsende "systemische und allgemeine Mängel" im Justizsystem Polens ab. Die Staatsanwaltschaft fragte sich, ob sie zwei polnische Staatsbürger auf einen EuHB aus Polen hin auch in die Hände der polnischen Justiz übergeben sollte – oder ob ihnen dort wegen struktureller Missstände im Justizsystem ein unfaires Verfahren drohen könnte.
Die nationalkonservative PiS-Regierung in Warschau baut das Justizwesen des Landes seit Jahren trotz internationaler Kritik um und setzt Richter damit unter Druck. Die EU-Kommission klagte schon mehrfach gegen die Reformen; zum Teil wurden sie vom EuGH gekippt.
Die Justizbehörden in anderen EU-Ländern müssen den Einzelfall prüfen
Bereits 2018 hatte der EuGH entschieden, dass Europäische Haftbefehle aus Polen zwar grundsätzlich vollstreckt werden müssen - allerdings gibt es davon Ausnahmen. Dafür entwickelte der EuGH eine zweistufige Prüfung: Zunächst müsse geklärt werden, ob wegen systematischer oder allgemeiner Mängel im Justizsystem Gefahr für das Grundrecht auf ein faires Verfahren bestehe. Anschließend müsse im Einzelnen geprüft werden, ob es im konkreten Fall Auswirkungen auf das Verfahren des Betroffenen geben könnte.
Hieran hält der EuGH auch weiter fest und präzisiert die Prüfung. In dem ersten Schritt habe die vollstreckende Justizbehörde anhand einer Gesamtwürdigung zu prüfen, ob das Justizsystem im Ausstellungsmitgliedstaat funktioniert. Die Luxemburger Richterinnen und Richter betonen dabei aber in Bezug auf Polen und den umstrittenen Landesjustizrat, dass ein Haftbefehl nicht alleine schon deshalb abgelehnt werden dürfe, "weil sich ein Gremium, das in das Verfahren zur Ernennung von Richtern eingebunden ist, überwiegend aus Mitgliedern zusammensetzt, die die Legislative oder die Exekutive vertreten oder von diesen ausgewählt werden".
Im Hinblick auf den zweiten Prüfungsschritt liege es an der betroffenen Person, gegen die ein europäischer Haftbefehl ergangen ist, konkrete Anhaltspunkte dafür vorzubringen, ein konkreter Mangel im Justizsystem habe sich auf die Strafsache ausgewirkt, schreibt der EuGH. Betroffene müssen also konkret darlegen, warum etwa durch die Zusammensetzung des Spruchkörpers das Grundrecht auf ein faires Verfahren beeinträchtigt sein soll. Außerdem sei zu berücksichtigen, ob in dem Ausstellungsland des Haftbefehls Richter abgehlehnt werden können, hiervon Gebrauch gemacht und wie hierüber entschieden wurde.
mgö/LTO-Redaktion
Mit Materialien der dpa
EuGH zu Mängeln im polnischen Justizsystem: . In: Legal Tribune Online, 22.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47613 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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