Seit Jahren streitet die EU über die Begrenzung irregulärer Migration und eine gerechtere Verteilung anerkannter Flüchtlinge. Nun hat man sich geeinigt. Die Bundesregierung ist zufrieden, Menschenrechtler sind entsetzt.
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) wird grundlegend reformiert. Nach jahrelangen Diskussionen verständigten sich Vertreter der EU-Staaten und des Europaparlaments final auf entsprechende Gesetzestexte, wie ein Vertreter der spanischen Ratspräsidentschaft und die EU-Kommission am Mittwochmorgen mitteilten.
Vorgesehen sind zahlreiche Verschärfungen der bisherigen Regeln. Ziel ist es, irreguläre Migration einzudämmen und anerkannte Flüchtlinge innerhalb der EU gerechter zu verteilen. Die Einigung muss noch vom Plenum des Europaparlaments und den EU-Staaten bestätigt werden. Das ist normalerweise eine Formalität.
Künftig soll es einheitliche Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen geben. Geplant ist insbesondere ein deutlich härterer Umgang mit Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten. Bis zur Entscheidung über den Asylantrag sollen diese Antragsteller unter haftähnlichen Bedingungen in Auffanglagern untergebracht werden können.
"Solidaritätsmechanismus": Wer keine Flüchtlinge aufnehmen will, soll zahlen
Die Verteilung der Schutzsuchenden unter den EU-Staaten wird den Plänen zufolge mit einem "Solidaritätsmechanismus" neu geregelt: Wenn die Länder keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, müssen sie Unterstützung leisten, etwa in Form von Geldzahlungen. Abgelehnte Asylbewerber sollen künftig leichter in sichere Drittstaaten abgeschoben werden können.
An der Reform wird bereits seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 intensiv gearbeitet. Damals waren Länder wie Griechenland mit der immensen Zahl an Menschen aus Ländern wie Syrien überfordert und Hunderttausende konnten unregistriert in andere EU-Staaten weiterziehen. Dies hätte eigentlich nicht passieren dürfen, denn nach der sogenannten Dublin-Verordnung sollen Asylbewerber da registriert werden, wo sie die Europäische Union zuerst betreten haben. Daraufhin schlug die EU-Kommission bereits 2016 neue Regeln vor.
Die Verhandlungen gestalteten sich allerdings bis zuletzt als sehr zäh. Während Ländern wie Ungarn die Vorschläge nicht scharf genug waren, äußerten Hilfsorganisationen und Teile von Linken und Grünen Bedenken, dass die Menschenrechte bei den Asylverfahren nicht genügend geachtet würden.
Bundeskanzler Scholz: "Ein ganz wichtiger Beschluss"
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigte sich am Mittwoch von den Asylrechtsverschärfungen erfreut und erwartet von der Reform der EU-Asylpolitik eine Erleichterung für Deutschland. "Damit begrenzen wir die irreguläre Migration und entlasten die Staaten, die besonders stark betroffen sind - auch Deutschland", schrieb der SPD-Politiker auf der Online-Plattform X nach dem am Morgen erzielten Durchbruch in den Verhandlungen zur Asylreform. Die Einigung sei ein "ganz wichtiger Beschluss".
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock begrüßte am Mittwoch in einem Statement ebenfalls die Einigung. Die Reform sei "dringend notwendig und längst überfällig". Angesichts der Freizügigkeit in Europa brauche es für alle verlässliche Regeln in diesem Bereich, teilte die Grünen-Politikerin in Berlin mit. Zugleich räumte sie ein, dass sich Deutschland nicht mit allen Anliegen habe durchsetzen können. Bei der Verteilung von Migtranten würden die EU-Staaten jedoch erstmals zur Solidarität verpflichtet, lobte Baerbock.
Auch Familien mit Kleinkindern in die Lager
Insbesondere bei Grünen und Linken in Deutschland hatte es während der Verhandlungen Sorgen um Menschenrechts-Standards gegeben. Aus Baerbocks Sicht wurden hier Verbesserungen erzielt, so sollten auch in Krisenfällen humanitäre Standards erhalten bleiben. Sie räumte aber ein, dass jede EU-Einigung immer auch ein Kompromiss sei. "Bei der pauschalen Ausnahme von Kindern und Familien aus den Grenzverfahren konnten wir uns als Deutschland nicht durchsetzen. Umso mehr werden wir jetzt in der Umsetzung des neuen Asylsystems darauf achten, dass es fair, geordnet und solidarisch zugeht."
Für die Herausnahme von Familien mit Minderjährigen aus den Verfahren hatte sich (vergeblich) auch die SPD eingesetzt: EP-Vize Katarina Barley (SPD) sagte kürzlich noch im LTO-Interview: "Im Europaparlament haben wir zum GEAS Ende April eine Position eingenommen, die an einigen Stellen deutlich humanitärere Züge trägt als der Ratsbeschluss. Zum Beispiel, dass Familien mit Kindern bis zwölf Jahren nicht in die Aufnahmelager kommen sollen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hatten uns sogar für die Altersgrenze 18 ausgesprochen. Für mich jedenfalls hat dieses Thema höchste Priorität und ich hoffe, dass wir uns durchsetzen werden." Gelungen ist das nicht.
Die Linke im Bundestag reagierte mit massiver Kritik auf die GEAS-Einigung: "Grenzverfahren unter Haftbedingungen, Deals mit Autokraten, Investitionen in Abschottung statt echter Verantwortungsteilung: Die in Brüssel beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist der massivste Angriff auf das individuelle Recht auf Asyl, den es in der EU je gegeben hat. Diese Beschlüsse werden kein einziges Problem lösen, aber das Leid, die Entrechtung und das massenhafte Sterben von Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen verschärfen. Keine Reform wäre besser gewesen als diese Reform", erklärte die Linken-Abgeordnete Clara Bünger zum Abschluss der Verhandlungen über die GEAS-Reform in Brüssel.
PRO Asyl "entsetzt"
Auch Flüchtlingsorganisationen und Menschnrechtsanwälte reagierten am Mittwoch mit heftiger Kritik auf die Einigung. Die Organisation Pro Asyl zeigte sich entsetzt: "Dieser von den europäischen Gesetzgebern beschlossene Abbau von Menschenrechten im Flüchtlingsschutz versperrt für viele den Zugang zu Schutz und errichtet ein System der Haftlager für Menschen, die fliehen und nichts verbrochen haben – selbst für Kinder und ihre Familien. Durch die Ausweitung des Konzepts der 'sicheren Drittstaaten' befürchten wir neue menschenrechtswidrige Deals mit autokratischen Regierungen, durch die EU-Länder sich vom Flüchtlingsschutz freikaufen wollen", kritisierte Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin der Flüchtlingsorganisation.
Judith hielt den Entscheidungsträgern vor, dass diese aus den Fehlern der Vergangenheit sowie der Gegenwart – wie dem Elendslager Moria, den illegalen und brutalen Pushbacks und der fehlenden Solidarität unter den Mitgliedstaaten – offensichtlich nichts gelernt hätten. "Stattdessen wird die neue europäische Asylgesetzgebung diese Missstände weiter verschärfen." Pro Asyl sieht die Asylrechts-Einigung als Beleg für den aktuellen Rechtsruck in Europa: "Die ersten, die nun unter die Räder des Rechtsrucks kommen, sind fliehende Menschen. Doch diese fatale Einigung dürfte nur ein erster Schritt sein, der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der EU untergräbt."
Anwaltverein RAV: "Bundesregierung vor der politischen Rechten eingeknickt"
Der republikanische Anwältinnen- und Anwaltverein RAV reagierte ebenfalls mit harscher Kritik auf die Asylrechtsverschärfung und sprach von einem der bittersten Tage in der Geschichte der Menschenrechte: "Mit der Reform des GEAS ist es erlaubt, massenhaft Menschen, die Schutz suchen, an den Außengrenzen zu inhaftieren; auch Kinder sollen nach der neuesten Einigung davon nicht ausgenommen werden. Es soll Abschiebungen in Drittstaaten geben, die tatsächlich nicht sicher sind. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin keinen wirklich effektiven Mechanismus zur Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb Europas", erklärte Menschenrechtsanwalt Matthias Lehnert gegenüber LTO.
"Der hegemoniale Rassismus, die Forderungen der Orbans und Melonis, werden damit ins Gesetz gegossen. Die Bundesregierung konnte und wollte keinerlei auch nur leichte Einschränkungen dieses Unrechts durchsetzen. Sie hat damit versagt, sie ist vor der politischen Rechten eingeknickt – es ist dies ein verheerendes Zeichen, zumal im Jahr vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen", so Lehnert.
CSU und EVP: "Meilenstein zur strikten Sicherung der EU-Außengrenzen"
Der deutsche CSU-Politiker und EVP-Fraktionschef Manfred Weber sprach von einem "Meilenstein zur strikten Sicherung der EU-Außengrenzen". Die EVP habe sich nach einer jahrelangen Verweigerungspolitik durch die liberalen und linken Parteien durchgesetzt. Die EU müsse jetzt einen Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit mit Drittstaaten, insbesondere in Afrika, legen.
Der Sprecher der unionsgeführten Innenministerien, Hessens Ressortchef Peter Beuth (CDU), sagte, die Einigung sei für die Kommunen mit der Hoffnung verbunden, dass sie weniger Menschen unterbringen und versorgen müssten. In diesem Jahr haben in Deutschland mehr als 304.000 Menschen erstmals einen Asylantrag gestellt. Dass es zu Engpässen in einigen Kommunen kommt, hat auch mit der Unterbringung und Versorgung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine zu tun.
Mit Material von dpa
Nach zähen Verhandlungen zu GEAS: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53463 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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