Russland hat zu Unrecht die Bücher eines berühmten muslimischen Theologen verboten. Das sei weder angemessen noch in einer demokratischen Gesellschaft nötig, meint der EGMR.
Die Bücher des populären islamischen Theologen Said Nursi sind in Russland gerichtlich verboten, weil sie extremistisches Gedankengut enthalten sollen. Zu Unrecht, wie nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befand. Die Gerichte hätten sich nicht eingehend genug mit den Texten Nursis befasst und diese vorschnell als gefährlich eingestuft (Urt. v. 28.08.2018, Az. 1413/08 und 28621/11).
Kläger in dem Fall war aber nicht Nursi selbst, sondern das Moskauer Verleger-Unternehmen Nuru Badi, das die Bücher vertrieb sowie dessen Vorstandsvorsitzender und ein russischer Muslimen-Verband. Sie wehrten sich gegen die Urteile russischer Gerichte aus 2007 und 2010, die aufgrund der dortigen Extremismus-Gesetze die Veröffentlichung und den Verkauf der Bücher verboten hatten.
Konkret ging es um den 14-bändigen Koran-Kommentar Risale-i Nur ("Botschaft des Lichts") des kurdisch-islamischen Gelehrten, den Nuru Badi vertrieb. Zu der Reihe gehört auch das Buch "Das zehnte Wort: Auferstehung und das Jenseits". Für dessen Veröffentlichung hatte die klagende Religionsgemeinschaft kurz vor dem zweiten Urteil 2010 einen Verleger beauftragt.
Russische Gerichte lehnten Gutachten der Gegenseite einfach ab
Die Kläger waren in den Verfahren vor den russischen Gerichten jeweils beigeladen und argumentierten dort, es handele sich keineswegs um extremistische Texte, sondern vielmehr um moderaten Mainstream-Islam. Die Gerichten stuften die Texte dennoch als extremistisch ein, verboten ihre Veröffentlichung und ordneten an, Ausfertigungen zu konfiszieren. Nursi predige die Überlegenheit des muslimischen Glaubens und sähe damit Zwietracht zwischen den Religionen. Dabei stützte man sich vornehmlich auf von den Behörden eingereichte Experten-Berichte.
Auch die Beigeladenen reichten Gutachten von Islamwissenschaftlern und ranghohen muslimischen Gelehrten ein, die jedoch vom Gericht abgelehnt wurden. Da es sich nicht wie bei den behördlich beauftragten Gutachtern um Linguisten, Psychologen oder Philosophen handelte, wiesen die von ihnen Ausgewählten nicht die nötige Kompetenz auf, um die Texte zu interpretieren, so das Gericht.
Vor dem EGMR beriefen sich die Kläger darauf, durch die Urteile in ihren Rechten auf Religions- und Meinungsfreiheit aus Art. 9 und 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt zu sein. Dem schlossen sich die Luxemburger Richter in ihrem Urteil nun an.
Aussagen nicht in den Kontext gesetzt
Zwar hätten sich die russischen Gerichte bei ihren Entscheidungen auf das bestehende dortige Anti-Extremismus-Gesetz von 2002 gestützt. Dabei hätten sie aber aber die Anforderungen an eine ausreichende Urteilsbegründung außer Acht gelassen. So habe man nicht in hinreichender Weise dargelegt, warum es notwendig gewesen sei, die Bücher zu verbieten, die, schon 2000 in Russland veröffentlicht, noch nie dadurch aufgefallen seien, interreligiöse Spannungen zu verursachen, geschweige denn Gewalt. Sie seien zudem in 50 Sprachen übersetzt worden und weltweit erschienen, ohne dass irgendwo Probleme bekannt geworden seien.
Problematisch war in den Augen der Europarichter vor allem, dass das russische Gericht sich bei seinen Entscheidungen praktisch nur auf die von den Behörden eingeholten Expertenmeinungen gestützt habe. Dabei wäre es wichtig gewesen, auch die andere Seite anzuhören: Die Gutachten der islamischen Gelehrten und Forscher, welche die damals Beigeladenen eingeholt hatten, setzten die von den Gerichten als problematisch empfundenen Äußerungen in einen historischen Kontext und erklärten, warum es sich um eine gemäßigte Islamauslegung handele, die Gewalt ablehne und sich Toleranz und religiösem Miteinander verschrieben habe.
Diese Wissenslücke konnten die Richter selbst nicht schließen, befand der EGMR. Man habe es vesäumt, die Ausführungen Nursis in einen historischen und religiösen Kontext zu setzen. So sei es bei religiösen Texten durchaus normal, dass die eigene Glaubensrichtung über andere erhoben werde. Außerdem seien andere Religionen in den Texten niemals beleidigt oder herabgesetzt worden. Auch gebe es keine Anzeichen für Gewaltverherrlichung. Die dafür angeführten "militärischen Metaphern" seien ohne nähere Ausführung nicht ausreichend, um das zu begründen.
Somit, stellten die Richter fest, sei es "in einer demokratischen Gesellschaft" nicht nötig, derartige Bücher zu verbieten. Dem Geschäftsführer der klagenden Verlagsgesellschaft wurde deshalb eine Entschädigung für nicht-materielle Schäden in Höhe von 7.500 Euro zugesprochen.
mam/LTO-Redaktion
Verstoß gegen Religions- und Meinungsfreiheit: . In: Legal Tribune Online, 28.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30605 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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