BVerfG zur Forschungsfreiheit: Ver­fas­sungs­be­schwerde erfolglos, Grund­recht gestärkt

20.10.2023

Für ein Forschungsprojekt zur Radikalisierung im Strafvollzug interviewte ein Professor Strafgefangene. Ermittler beschlagnahmten das Material. Die Verfassungsbeschwerde des Professors ist unzulässig, das BVerfG stärkte aber seine Position.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Verfassungsbeschwerde eines Universitätsprofessors mangels Einhaltung der Beschwerdefrist nicht zur Entscheidung angenommen. Dennoch äußerte es erhebliche Zweifel, dass die Beschlagnahme von Mitschnitten von Gesprächen des Professors mit einem IS-Verdächtigen verfassungsgemäß war (Beschl. v. 25.09.2023, Az. 1 BvR 2219/20).

Für ein Forschungsprojekt zum Thema "Islamistische Radikalisierung im Justizvollzug" hatte dieser mehrere Strafgefangene interviewt und ihnen im Vorfeld der Interviews Vertraulichkeit zugesichert.

Wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gegen einen der Interviewten ordnete eine Ermittlungsrichterin des Oberlandesgerichts (OLG) München jedoch die Durchsuchung der Lehrstuhlräumlichkeiten des Beschwerdeführers sowie die Beschlagnahme der Interview-Aufnahmen an. Hiergegen wandte sich der Beschwerdeführer zunächst an das OLG München – jedoch erfolglos. Auch vor dem BVerfG hatte er jetzt keinen Erfolg – aus anderen Gründen.

OLG München: Kein Zeugnisverweigerungsrecht für die Wissenschaft

Der Professor ist Inhaber eines Lehrstuhls an einem Institut für Psychologie an der Universität Erlangen. In einem vorab an die inhaftierten Interviewpartner verschickten Informationsschreiben heißt es unter anderem: "Wir haben Schweigepflicht und dürfen der Gefängnisleitung oder anderen Bediensteten nichts von dem erzählen, was sie uns sagen. Nur wenn Sie uns von einer geplanten Straftat erzählen, müssen wir das melden.“

Zu den mit den Inhaftierten durchgeführten Interviews existierten – jeweils (noch) nicht anonymisiert beziehungsweise reanonymisierbar – ein schriftliches Protokoll und ein elektronisch gesicherter Audiofile. Beides wurde bei der Durchsuchung beschlagnahmt.

Das OLG München verneinte ein Zeugnisverweigerungsrecht des Professors. Grundsätzlich seien strafprozessuale Vorschriften zum Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverbot nicht durch erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung auf den streitigen Fall übertragbar. Konkret grenzte das OLG das Zeugnisverweigerungsrecht der Medien aus § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) von der Interessenlage der Wissenschaft ab. Aufgrund des wissenschaftlichen Transparenzgebots sei der Quellenschutz, auf den die Medien angewiesen seien, für die Wissenschaft nicht gleichermaßen bedeutsam. Außerdem sei der staatliche Strafverfolgungsauftrag als rechtfertigendes kollidierendes Verfassungsrecht hier höher zu gewichten als die Forschungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 Grundgesetz (GG). Das OLG stellte auf Seiten der Strafverfolgung maßgeblich auf den schweren Tatvorwurf eines Verbrechenstatbestands ab.

BVerfG: OLG verkennt Gewicht und Reichweite der Forschungsfreiheit

Mangels Einhaltung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 S. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Das BVerfG äußert jedoch erhebliche Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit dieser Entscheidung. Das OLG München als Beschwerdegericht habe "Gewicht und Reichweite der Forschungsfreiheit nicht angemessen berücksichtigt", bemängelten die Karlsruher Richter.

Das BVerfG betonte, dass die Forschungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG neben der Erhebung auch die Vertraulichkeit von Daten umfasse, die oftmals Bedingung für die Aussagefähigkeit der erhobenen Daten sei. "Die vertrauliche Datenerhebung gehört zur geschützten wissenschaftlichen Methode. Die staatlich erzwungene Preisgabe von Forschungsdaten hebt die Vertraulichkeit auf und erschwert oder verunmöglicht insbesondere Forschungen, die, wie das hier betroffene Forschungsprojekt, auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen sind", heißt es in dem Beschluss. 

Wissenschaft selbst dient Kriminalprävention

Das OLG habe außerdem die Schwere des Eingriffs in die Forschungsfreiheit nicht angemessen berücksichtigt. Es habe verkannt, dass die erhobenen Daten bei dem konkreten Forschungsprojekt nicht auf Veröffentlichung angelegt waren. Außerdem hätte die angenommene Eingriffswirkung nicht auf das konkrete Interview beschränkt werden dürfen. "Vielmehr kommt der Wissenschaftsfreiheit bei der Abwägung ein umso höheres Gewicht zu, je stärker das konkrete Forschungsvorhaben und bestimmte Forschungsbereiche auf die Vertraulichkeit bei Datenerhebungen und -verarbeitungen angewiesen sind", so die Richter.

Schließlich hielt das BVerfG fest, dass die effektive und funktionstüchtige Strafrechtspflege, auf die sich das OLG München maßgeblich zur Rechtfertigung der Beschlagnahme gestützt hatte, in der Tat ein Zweck von Verfassungsrang sei. Gleichzeitig sei aber gerade die Forschung des Beschwerdeführers selbst zur Beförderung dieses Zwecks von besonderer Bedeutung: "Eine rationale Kriminalprävention ist in hohem Maße auf Erkenntnisse über Dunkelfelder und kriminalitätsfördernde Dynamiken angewiesen. Eine effektive Verhinderung von Straftaten setzt deshalb genau jene Forschung voraus, die durch den Zugriff auf ihre Daten zum Zwecke der konkreten Strafverfolgung erheblich erschwert oder verunmöglicht wird."

Die Entscheidung des BVerfG ist nicht anfechtbar.

lst/LTO-Redaktion

Mit Materialien der dpa

Zitiervorschlag

BVerfG zur Forschungsfreiheit: . In: Legal Tribune Online, 20.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52966 (abgerufen am: 19.11.2024 )

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