Das LG München verurteilte den Fußballspieler wegen gewalttätiger Attacken auf seine Ex-Freundin zu einer Geldstrafe. Nun kassierte das BayObLG die Entscheidung in vollem Umfang, das LG habe es sich in einigen Punkten zu leicht gemacht.
Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) hat die Verurteilung von Jérôme Boateng wegen Körperverletzung und Beleidigung aufgehoben (Urt. v. 21.09.2023, Az. 206 StRR 112/23). Es gab der Revision des Ex-Fußballnationalspielers und auch der von Staatsanwaltschaft und Nebenklage am Donnerstag statt und verwies das Verfahren an das Landgericht (LG) München I zurück. Dort muss der Prozess nun neu aufgerollt werden.
Boatengs Anwalt Dr. Leonard Walischewski hatte zuvor die Aufhebung des Urteils von Anfang November gefordert. "Das Verfahren war erschütternd unfair", sagte er gegenüber der dpa. "Der Angeklagte Boateng war schon endgültig verurteilt, bevor das Berufungsverfahren überhaupt begonnen hatte."
Damals war der heute 35 Jahre alte Boateng wegen Angriffen auf seine Ex-Freundin in einem Karibik-Urlaub in zweiter Instanz wegen Körperverletzung und Beleidigung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10.000 Euro verurteilt worden – insgesamt 1,2 Millionen Euro.
BayObLG: Befangenheitsantrag zu Unrecht abgelehnt
Boateng sei damals in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden, kritisierte Walischewski. "Der Vorsitzende Richter war nicht neutral, er war nicht distanziert", so der Rechtsanwalt gegenüber der dpa. Auf LTO-Anfrage präzisierte er den Hauptgrund für die Revision: Der Vorsitzende Richter habe sich hier zum Richter in eigener Sache gemacht. Damit bemängelte Walischewski, dass der Richter daran beteiligt gewesen sei, einen Befangenheitsantrag gegen sich selbst abzulehnen. § 26a Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) ermöglicht zwar die Ablehnung eines Befangenheitsantrags als unzulässig unter Mitwirkung des betroffenen Richters. Dies gilt aber nur, wenn einer der in Abs. 1 der Norm genannten Unzulässigkeitsgründe vorliegt.
Das LG München I hatte Nr. 3 angewendet, wonach ein Befangenheitsantrag als unzulässig abzuweisen ist, "wenn durch die Ablehnung offensichtlich das Verfahren nur verschleppt oder nur verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden sollen". Die Vorschrift ist eng auszulegen; sie dient dazu, offensichtlich querulantische Befangenheitsanträge schnell und verfahrenseffizient abzulehnen. Nach Ansicht des BayObLG war hier jedoch kein solcher Fall ersichtlich, wie Pressesprecher Dr. Laurent Lafleur auf LTO-Anfrage bestätigte.
Hintergrund des Befangenheitsantrags war laut Boatengs Verteidiger, dass das Gericht für den Fall, dass Boateng weitere Beweisanträge stellt, eine höhere Strafe in Aussicht gestellt habe. Walischewski sieht darin richterliche Willkür. "Der Vorsitzende wollte einfach fertig werden." Laut einem Live-Ticker von Focus Online endete der Prozesstag im November erst um 19:20 Uhr. Der Verlauf der Hauptverhandlung wird dort für 16:16 Uhr so beschrieben: "Nachdem der Boateng-Anwalt dem Richter drei weitere Beweisanträge vorgelesen und ihm diese anschließend auf den Tisch gelegt hat, zieht sich die Kammer zur Beratung zurück. 'Ich habe Sie darauf hingewiesen, wir wollten heute eigentlich fertig werden', ermahnt Richter Forstner die Boateng-Verteidigung und spricht davon, dass der Prozess nun 'entscheidungsreif' sei."
Die Staatsanwaltschaft widersprach der Verfahrensrüge der Verteidigung laut BayObLG-Sprecher Lafleur nicht.
Ist eine Kühltasche ein gefährliches Werkzeug?
In seiner Entscheidung vom Donnerstag ging das BayObLG auf die Prozessleitung von Richter Forstner nicht im Detail ein. Ihm genügte laut Lafleur, dass das LG den Befangenheitsantrag ohne tragfähige Begründung nach § 26a StPO abgelehnt hatte. Das Berufungsurteil des LG aufzuheben, ist sodann zwingende Konsequenz: Gemäß § 338 Nr. 3 StPO stellt es einen absoluten Revisionsgrund dar, "wenn bei dem Urteil ein Richter [...] mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch [...] mit Unrecht verworfen worden ist".
Auch die Staatsanwaltschaft und die Nebenklage hatten Revision gegen das Urteil eingelegt, weil sie eine Verurteilung wegen gefährlicher (§ 224 Strafgesetzbuch, StGB) statt wegen einfacher Körperverletzung (§ 223 StGB) und damit eine härtere Strafe gefordert hatten. Auch ihrer Revision gab das BayObLG statt. Das LG München I hatte nicht geprüft, ob Boateng ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB verwendet haben könnte, indem er seine Lebensgefährtin vemeintlich mit einer Getränkekühltasche beworfen hatte.
Ob sich dies so zugetragen hat und wie der Wurf mit der Kühltasche gegebenenfalls rechtlich zu qualifizieren ist, muss nun das LG München I erneut klären. Das gilt auch für alle anderen Sachverhaltselemente, denn das BayObLG hob das Urteil mit sämtlichen Tatsachenfeststellungen in vollem Umfang auf. Verhandeln wird darüber nun eine andere Strafkammer des LG. Damit wird ein ohnehin schon äußerst langwieriger Rechtsstreit noch länger. Das Amtsgericht München hatte bereits im Jahr 2021 eine höhere Geldstrafe gegen Boateng verhängt, jedoch war die Zahl der Tagessätze nur halb so hoch – 60 Tagessätze zu je 30.000 Euro, also insgesamt 1,8 Millionen Euro. Ab mehr als 90 Tagessätzen wird die Vorstrafe ins Führungszeugnis aufgenommen (§ 32 Abs. 2 Nr. 5 Bundeszentralregistergesetz).*
mk/LTO-Redaktion mit Material der dpa
* Ursprünglich hieß es hier, dass Veurteilte ab mehr als 90 Tagessätzen "als vorbestraft gelten". Diese häufig anzutreffende Formulierung ist jedoch nicht richtig. (22.09.2023, 9:44 Uhr, Red.)
BayObLG verweist zurück ans LG München: . In: Legal Tribune Online, 21.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52759 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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