Der EuGH entschied darüber, wann Deutschland einen Geflüchteten an die Türkei ausliefern darf. Dabei gilt: Der Flüchtlingsstatus ist zunächst bindend und die Mitgliedstaaten müssen miteinander kooperieren.
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Herkunft. Seit Juli 2019 lebt er legal in Deutschland: Er wurde 2010 in Italien als Flüchtling anerkannt, da ihm wegen seiner Unterstützung der Kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei politische Verfolgung drohte. 2020 ersuchte die Türkei Deutschland um die Auslieferung des Mannes, denn er wird dort wegen Totschlags verdächtigt.
Der Geflüchtete soll 2009 im Rahmen eines Familienstreits einen Gewehrschuss abgegeben haben, der seine Mutter traf. Sie verstarb an den Folgen ihrer Verletzungen. Deswegen stellte ein türkisches Gericht am 3. Juni 2020 einen Haftbefehl aus. Über die Internationale kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) ist der Mann zur Festnahme zwecks Auslieferung zur Strafverfolgung ausgeschrieben. Über dieses Auslieferungsersuchen hat das Oberlandesgericht (OLG) Hamm zu entscheiden. Der Mann meint, die Strafverfolgung in der Türkei sei nur vorgeschoben: In Wahrheit drohe ihm als Kurde politische Verfolgung.
Das OLG Hamm steht vor der Frage: Ignoriert es einen internationalen Haftbefehl, was grundsätzlich nur erlaubt ist, wenn der Betroffene wegen einer politischen Tat verfolgt wird? Oder ermöglicht es die Auslieferung? Dann konterkariert es womöglich den Grund für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft: indem es an den Staat ausliefert, der den Fluchtgrund der politischen Verfolgung erst begründet hat.
Nun gibt der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Antwort (Urt. v. 18.06.2024, Az. C-352/22): Ein Drittstaatsangehöriger darf nicht ausgeliefert werden, solange seine Anerkennung als Flüchtling noch Bestand hat. Die Auslieferung wäre ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK).
Keine Auslieferung bei bestehendem Flüchtlingsstatus
Wenn die Anerkennung als Flüchtling von einem anderen Staat als dem zur Auslieferung ersuchten vorgenommen wurde, dann muss der Staat, in dem der Betroffene als Flüchtling anerkannt wurde, zunächst kontaktiert werden. So verlange es der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.
In diesem Fall heißt das: Solange Italien die Anerkennung als Flüchtling nicht aufhebt, darf Deutschland nicht ausliefern. "Denn eine solche Auslieferung würde faktisch bedeuten, dass die Flüchtlingseigenschaft beendet wird", teilte der EuGH am Dienstag mit.
Und selbst wenn Italien die Flüchtlingseigenschaft noch aberkennen würde, hätte Deutschland seine Pflichten noch nicht vollständig erfüllt. Die zuständige deutsche Behörde müsste selbst prüfen, ob der Betroffene die Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr besitzt. "Darüber hinaus muss sie sich vergewissern, dass im Fall der Auslieferung des Betroffenen an die Türkei für ihn dort kein ernsthaftes Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht", heißt es weiter in der Mitteilung des Gerichts.
Zweiter Anlauf für das OLG Hamm
Dass das OLG Hamm hierzu den EuGH befragte, war nicht ganz freiwillig: Im November 2021 hatte es den Fall bereits einmal entschieden und die Auslieferung für zulässig gehalten (Beschl. v. 02.11.2021, Az. III-2 Ausl. 180/20).
Es hatte geprüft, ob ein Auslieferungshindernis gem. § 6 Abs. 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) und Art. 3 Abs. 1 und 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vorliege. Danach darf nicht ausgeliefert werden, wenn es sich um eine politische Tat handelt oder um eine Tat, die mit einer solchen zusammenhängt. Ein weiteres Auslieferungshindernis liegt vor, wenn der ersuchte Staat "ernstliche Gründe hat anzunehmen", dass der Herkunftsstaat sein Auslieferungsersuchen mit einem vorgeschobenen Motiv begründen will. Insbesondere, wenn der Staat die Strafverfolgung als Auslieferungsgrund angibt, für ihn aber das Motiv im Vordergrund steht, die betroffene Person aus "rassischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen".
Hierfür hatte das OLG 2021 keine Hinweise gesehen. Im Gegensatz zum EuGH ging das OLG Hamm davon aus, dass die Anerkennung als Flüchtling der Auslieferung nicht per se entgegenstehe. Nur in der eigenen Entscheidung darüber, ob dem Betroffenen politische Verfolgung im Herkunftsland drohe, berücksichtigte des OLG die Flüchtlingseigenschaft als Indiz für eine Gefährdung des Betroffenen im Herkunftsland. Es kam aber trotzdem zu dem Ergebnis, dass keine konkrete Verfolgungsgefahr bestehe. Schließlich habe die Türkei zugesichert, dass dem Geflüchteten nur ein faires Verfahren in seinem Herkunftsland drohe.
Der EuGH war gesetzlicher Richter
Gegen diese Entscheidung des OLG Hamm wehrte sich der Kläger und zog nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Der Zweite Senat hob daraufhin den Beschluss des OLG Hamm auf (Beschl. v. 30.3.2022, Az. 2 BvR 2069/21). Der Geflüchtete sei in seinem Recht auf einen gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) verletzt worden. Das OLG hätte zwingend den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens anrufen müssen. Bei der zentralen Frage handele es sich nämlich um eine Zweifelsfrage über die Auslegung und Anwendung von Unionsrecht. Der EuGH habe die Frage auch noch nicht entschieden und die richtige Anwendung des Unionsrechts sei nicht "derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum" mehr bleibt (acte claire).
Das BVerfG rügte die unterlassene Vorlage hier, weil das OLG trotz Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage eine Vorlage trotz eigener Zweifel an der richtigen Auslegung "überhaupt nicht in Erwägung" gezogen habe.
Stärkung des Flüchtlingsstatus
Der EuGH kam seiner Aufgabe als gesetzlicher Richter nach und fällte eine grundlegende Entscheidung zum Verhältnis zwischen Flüchtlingsanerkennung und Auslieferungsersuchen.
Mit dem Votum für eine starke Bindungswirkung des Flüchtlingsstatus entschied der EuGH entgegen den Schlussanträgen seines Generalanwalts Jean Richard de la Tour. Dieser hatte vorgeschlagen, dass der ersuchte Staat nicht an die Anerkennungsentscheidung des anderen Mitgliedstaates gebunden ist. Stattdessen solle der ersuchte Staat eine eigenständige Prüfung anstellen. In der Anerkennung als Flüchtling sah de la Tour wie das OLG Hamm 2021 nur ein Indiz für eine Gefährdungslage dafür, dass der türkische Staat hier eine politische Verfolgung als Strafverfolgung kaschiert. Diesem Ansatz, der eher einer gesamtbetrachtenden Prognoseentscheidung entspricht, hat der EuGH nun eine Absage erteilt: Besteht die Flüchtlingseigenschaft noch, kann nicht abgeschoben werden. Weil diese bereits den Schutzgrund – also politische, rassische, religiöse Verfolgung – enthält, der nicht faktisch unterlaufen werden soll.
Mit dieser Entscheidung stärkt der EuGH den Flüchtlingsstatus und den Schutz von Geflüchteten vor einer Auslieferung in ihre Herkunftsländer. Er stärkt aber auch die Kooperationspflicht zwischen den Mitgliedstaaten, in dem er die Kontaktaufnahme zum Anerkennungsstaat verpflichtend gemacht hat. Dessen Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft darf nicht schlicht übergangen werden. Eine Auslieferung bleibt zwar möglich. Durch die Bindungswirkung an die Anerkennungsentscheidung und die eigenen Prüfpflichten des ersuchten Staates bei Aufhebung des Flüchtlingsstatus kann die Auslieferung nur nach einer umfangreichen Prüfung überwunden werden.
Keine Auslieferung von anerkannten Flüchtlingen: . In: Legal Tribune Online, 20.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54815 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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