Kann die Schreibarbeit einer Sekretärin im KZ Beihilfe zum Massenmord gewesen sein? Diese Frage will der Bundesgerichtshof verhandeln.
Vor anderthalb Jahren verurteilte das Landgericht (LG) Itzehoe eine ehemalige KZ-Sekretärin wegen Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Das Urteil vom 20. Dezember 2022 ist nicht rechtskräftig, am morgigen Mittwoch (10:00 Uhr) will der Bundesgerichtshof (BGH) über die Revision der Verteidigung verhandeln. Die inzwischen 99 Jahre alte Irmgard F. wird nach Angaben ihres Verteidigers nicht an der Verhandlung in Leipzig teilnehmen.
Nach Feststellung der Itzehoer Strafkammer war die Angeklagte zwischen Juni 1943 und April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig tätig. Damit habe sie den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von Gefangenen Beihilfe (§ 27 Strafgesetzbuch, StGB) geleistet.
Die Angeklagte war damals erst 18 bis 19 Jahre alt, darum wurde sie nach Jugendstrafrecht verurteilt (§ 1 Abs. 2, 105 Jugendgerichtsgesetz (JGG) i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB). Mit der Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung war das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft gefolgt. Die Verteidigung hatte Freispruch gefordert.
GBA sieht grundsätzliche Fragen zur Beihilfe im KZ
Die Verhandlung vor dem 5. Senat des Bundesgerichtshofs findet auf Antrag des Generalbundesanwalts (GBA) statt. Die Revision der Angeklagten werfe nach seiner Einschätzung grundsätzliche Fragen zur Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord in Konzentrationslagern auf, teilte das Gericht mit.
Es soll vor allem um die Frage gehen, ob der Dienst als Sekretärin in einem KZ, das kein reines Vernichtungslager war, als Beihilfe zum Mord gewertet werden kann. Der Angeklagten muss nachgewiesen werden, dass sie von den grausamen und heimtückischen Morden der SS in Stutthof wusste und diese Mordtaten durch ihre Arbeit unterstützen wollte.
"Das Landgericht hat zu Unrecht angenommen, dass sich der Fall bruchlos in die jüngere Rechtsprechung zu NS-Beihilfetaten einordnen lässt", erklärte Verteidiger Wolf Molkentin. Das Ergebnis der Beweisaufnahme in Itzehoe mache es aber erforderlich, die juristischen Maßstäbe weiterzuentwickeln. Dies gelte für das in den Urteilsgründen zentrale Konstrukt der sog. psychischen Beihilfe und für die Anforderungen an eine vorsätzliche Beteiligung auch durch sog. neutrale Handlungen. Damit sind vor allem die Schreibarbeiten der Angeklagten gemeint.
Molkentin sieht auch in der Weiterentwicklung der Rechtsprechung durch den Prozess einen Wert. "Dies gilt übrigens auch für die Mandantin und ihre Familie: Wenn das Ergebnis nicht Freispruch lautet, wird so zumindest die Verurteilung besser nachvollziehbar", meinte der Anwalt. Laut einer Mitteilung des BGH könnte das Urteil entweder am 06. oder am 20. August 2024 verkündet werden.
dpa/jb/LTO-Redaktion
Revision gegen Irmgard F. beim BGH: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55104 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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