Mit seinem Reichelt-Beschluss übergeht das BVerfG den BGH und nimmt Zulässigkeitskriterien an, die es zur Superrevisionsinstanz im Verfügungsverfahren machen. Mit dem wenig stringenten Beschluss hat sich das Gericht selbst keinen Gefallen getan.
Auch wenn es so manche Richter:innen am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gerne hätten, darf sich das Gericht seine Fälle nicht aussuchen, sondern ist an gesetzliche Vorgaben zur Zulässigkeit gebunden. So heißt es in § 90 Abs. 2 S. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG), dass die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtsweges erhoben werden kann. Eine Ausnahme statuiert § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG, etwa für den Fall, dass dem Beschwerdeführer ansonsten ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, sprich die Rechtswegerschöpfung für ihn "unzumutbar" ist.
Das BVerfG entnimmt dem Gesetz auch den Grundsatz der Subsidiarität. Danach muss der Beschwerdeführer nicht nur den Rechtsweg erschöpfen, sondern "alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, um eine fachgerichtliche Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen." Aus diesem Grunde war im Äußerungs- und Presserecht bislang bei einer Niederlage im Eilverfahren regelmäßig nicht sofort die Verfassungsbeschwerde zulässig. Vielmehr musste die dort unterlegene Partei zunächst das Hauptsacheverfahren führen und darauf setzen, dort Erfolg zu haben, auch wenn die gleichen Kammern und Senate wie zuvor entscheiden.
Im Fall des Journalisten Julian Reichelt ging das BVerfG nun anders vor: Es gab seiner Verfassungsbeschwerde statt, obwohl Reichelt nach der Niederlage vor dem Kammergericht in Berlin kein Hauptsacheverfahren geführt, sondern direkt das BVerfG angerufen hatte (Beschl. v. 11.04.2024, Az. 1 BvR 2290/23). Zwar tut das BVerfG im Beschluss so, als würde es an seiner Rechtsprechung zur Subsidiarität festhalten, gibt sie aber de facto für eine Vielzahl von Fällen auf. Es schwingt sich zur dritten Instanz im zivilrechtlichen Streit auf – mit nicht überzeugender Begründung.
Wahrscheinliche gerichtliche Niederlage "unzumutbar"
Die Richter der 1. Kammer des Ersten Senats (Harbarth, Härtel, Eifert) hielten es für "unzumutbar" (i.S.v. § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG), Reichelt auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Denn im Hauptsacheverfahren würde schließlich wieder das Kammergericht (KG) entscheiden. Da dieses im Eilverfahren nicht nur summarisch, sondern ausführlich geprüft habe und der Sachverhalt bereits umfassend aufgeklärt war, sei vom KG keine abweichende Entscheidung zu erwarten. Im Klartext: Es soll Reichelt nicht zuzumuten sein, sehenden Auges erneut eine Niederlage beim KG zu kassieren. Diese Argumentation des BVerfG ist aus mehreren Gründen schwach.
Erstens ist es zwar unwahrscheinlich, nicht aber ausgeschlossen, dass das KG seine Rechtsauffassung im Hauptsacheverfahren ändert. Auch wenn die Lust am Hinterfragen der eigenen Entscheidung nicht zu den hervorstechenden Charaktereigenschaften von Richter:innen gehört, gibt es natürlich regelmäßig Fälle von Rechtsprechungsänderung, etwa auch unter dem Eindruck der Urteile andere Gerichte zu ähnlichen Sachverhalten. Zu einer Änderung der Rechtsprechung eines bereits so entschiedenen Falls kommt es auch vermehrt, wenn sich die Besetzung des Gerichts ändert, so wie jüngst im Falle Gerhard Schröder vs. Axel Springer, wo erst das Hauptsacheverfahren nach Besetzungsänderung zur Niederlage Schröders führte.
BVerfG übergeht Karlsruher Kollegen vom BGH
Zudem enthält sich das Gericht jedweder weiteren Begründung, warum das Abwarten für Reichelt "unzumutbar" sein sollte. Hält das Gericht seine mindestens irreführende Aussage Deutschland zahle Entwicklungsgelder "an die Taliban", für so wichtig, dass er sie möglichst schnell wieder aufstellen können soll? Möglicherweise schwang hier mit, dass es sich dabei um Machtkritik von Reichelt am Staat gehandelt hat, die das Gericht als besonders geschützt ansieht. Doch das BVerfG begründet die Unzumutbarkeit des Abwartens nicht damit.
Vor allem – und das ist die entscheidende Schwachstelle – scheint das BVerfG seine 700 Meter Luftlinie entfernten Kolleg:innen vom Bundesgerichtshof (BGH) vergessen zu haben. Der dortige VI. Zivilsenat kippt regelmäßig und mit Vorliebe im Presserecht Entscheidungen der Vorinstanzen, auch solche in denen sowohl Landgericht und Oberlandesgericht in Verfügungs- und Hauptsacheverfahren gleichermaßen entschieden haben. Das Kernargument, dass Reichelt im Hauptsacheverfahren keine Chance gehabt hätte, ist damit schlichtweg falsch.
Ein Blick in die vom BVerfG selbst im Beschluss erwähnte vorangehende Rechtsprechung zeigt, dass es zuvor die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gerade mit Verweis auf die Erfolgschance BGH verneint hat: Wörtlich heißt es etwa im BVerfG-Beschluss vom 13.6.2006 (Az. 1 BvR 2622/05): "Bei Durchführung eines Hauptsacheverfahrens erhielte der Beschwerdeführer Gelegenheit, dies zur Nachprüfung durch das Revisionsgericht zu stellen." Exakt dies würde eigentlich im Fall Reichelt auch gelten. Nach unterstellt erfolglosem Hauptsacheverfahren hätte Reichelt Revision zum BGH oder zumindest Nichtzulassungsbeschwerde einlegen können, da der Streitwert über 20.000 Euro lag. Erst bei dortigem Misserfolg wäre das BVerfG an der Reihe gewesen.
Das BVerfG hielt es noch nicht einmal für nötig im Reichelt-Beschluss, den BGH auch nur zu erwähnen. Dieser wurde damit sang- und klanglos ein Stück weit entmachtet. Jedenfalls erfährt er nun einen starken Bedeutungsverlust als eigentliche dritte Instanz, wenn das BVerfG im Fall Reichelt keine Einzelfallentscheidung getroffen hat, sondern die neuen Kriterien ernst nimmt. Denn dann wird es sich in Zukunft für alle Medien und Betroffene von Berichterstattung lohnen, statt den mühsamen und langwierigen Weg eines Hauptsacheverfahrens gleich das Verfassungsgericht anzurufen.
Geringe Hürden für Zulässigkeit
Denn die Hürden, die das BVerfG jetzt an die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen Verfügungsentscheidungen getroffen hat, sind denkbar gering: Es fordert, dass das Verfügungsgericht nicht bloß summarisch entschieden hat und keine Tatsachen streitig sind. Die nicht bloß summarische Prüfung ist inzwischen fast der Regelfall in Verfügungsverfahren geworden. Und zwar gerade wegen der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, die die schnelle Einbindung der Gegenseite verlangt. Dadurch entscheiden die Instanzgerichte zunehmend erst nach umfassendem und langem Schriftwechsel der Parteien und somit folgerichtig nicht summarisch, sondern in aller Ausführlichkeit über den Sachverhalt. Da im Äußerungsrecht der Sachverhalt nicht selten unstreitig ist, sondern die Auslegung von Aussagen im Vordergrund steht, sind oft auch keine Tatsachen streitig.
Und so ist jedem Medium oder umgekehrt Betroffenen von Berichterstattung, auf die diese Voraussetzungen zutreffen, nur zu empfehlen, nach einer Niederlage im Verfügungsverfahren direkt das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Zumal dieses auch noch in – nach verfassungsgerichtlichen Maßstäben – Lichtgeschwindigkeit, von unter vier Monaten über den Fall entschieden hat.
Flut von Verfassungsbeschwerden zu erwarten
Man kann davon ausgehen, dass Betroffenenanwälte oder Justitiare bereits mit den Hufen scharren und alsbald nach einer Niederlage vor einem Oberlandesgericht im Verfügungsverfahren direkt das BVerfG anrufen werden und sich den mühsamen Weg über das Hauptsacheverfahren ersparen. Und natürlich greifen die Grundsätze der Entscheidung auch über das Äußerungsrecht hinaus für Eilverfahren.
Das BVerfG, was gerne über die Arbeitsbelastung klagt, hat sich mit dieser Entscheidung sehr viel Mehrarbeit eingehandelt. Was es nun nicht machen darf, ist dem Journalisten-Populisten Reichelt Schnellzugang zum Gericht zu gewähren, seine neuen laschen Zulässigkeitskriterien bei anderen Bürgern oder Unternehmen aber unangewendet zu lassen.
Das Verfassungsgericht hat sich mit dieser Entscheidung für viele Fälle – anstelle des BGH – zur dritten Instanz im Verfügungsverfahren gemacht und wird nun damit umzugehen haben. Neue Verfassungsbeschwerden muss es konsequenterweise unter den gleichen Voraussetzungen zur Entscheidung annehmen, wie den Reichelt-Fall. Es darf eben nicht nach Gutdünken Fälle auswählen, auch wenn die Entscheidungspraxis und die regelmäßig fehlenden Begründungen dies manchmal vermuten lassen. Gleiches Recht für alle.
* Um § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG ergänzte Fassung ohne inhaltliche Korrektur vom 17.4.24.
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Julian-Reichelt-Beschluss erleichtert Verfassungsbeschwerden: . In: Legal Tribune Online, 16.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54348 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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