Bei Bürgerrechtlern und liberalen Rechtspolitkern ist die Erleichterung über das Ende im "Wiederaufnahme-Streit" groß. Zu Recht. Das BVerfG hat zum Mehrfachverfolgungsverbot eine Entscheidung von bemerkenswerter Klarheit getroffen.
Wie das Verfahren vor dem BVerfG in Sachen Wiederaufnahme des Strafverfahrens ausgehen würde, hatte sich schon in der mündlichen Verhandlung im Mai angedeutet: Immer wieder hatten einige der Richter des Zweiten Senates irritiert bei den Prozessvertretern von Union und SPD nachgefragt, wie sie denn auf die Idee kämen, dass das Grundgesetz bei schwersten, unverjährbaren Straftaten eine Ausnahme vom Verbot der Doppelbestrafung bzw. -verfolgung zulasse. Trotz der Schwere der Taten schienen sich diese Richter massiv daran zu stören, dass Freisprüche in Mord- oder Völkermord-Verfahren dann nie so richtig in Rechtskraft erwachsen würden.
Nun ist klar: Die Gründe, die die Vertreter der damaligen GroKo dafür ins Feld führten, warum ein rechtskräftiger Freispruch für Mordverdächtige aber auch deren Angehörigen keinen Rechtsfrieden schaffen soll, überzeugten am Ende die Mehrheit des Zweiten Senats des BVerfG nicht. Mehr noch: Sie erwiesen sich als krass verfassungswidrig.
Und das ist auch gut so: Das BVerfG erläuterte in seinem Urteil auf knapp 60 Seiten letztlich das, was der ehemalige Strafrichter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer in seiner LTO-Kolumne seinerzeit auf den Punkt gebracht hatte: "Von der Anklage schwerster Straftaten rechtskräftig Freigesprochene trifft keine Pflicht des Sonderopfers, lebenslang unter der Drohung der Verfahrenswiederholung zu stehen." Und: Eine Durchbrechung des hohen Gutes der Rechtssicherheit ist durch die wenigen Einzelfälle, die bisher überhaupt diskutiert wurden und sich durchweg auf spezifische Konstellationen bezogen, nicht gerechtfertigt.
Das Feedback an die damalige GroKo: Sechs, Setzen!
Diese Aspekte hat die Senatsmehrheit in seinem Urteil ausführlich aufgegriffen und klargestellt, dass das in Art. 103 Abs. 3 GG neben einem Mehrfachbestrafungs- auch statuierte Mehrfachverfolgungsverbot dem Gesetzgeber eine Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel klipp und klar verbietet. Das Grundgesetz treffe eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit. Zudem verletzte die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig waren, das Rückwirkungsverbot.
Zwei Grundprinzipien eines gerechten Strafverfahrens verletzt – verheerender kann die verfassungsrechtliche Lehrstunde aus Karlsruhe für SPD und Union kaum ausfallen. Sechs, Setzen!
Natürlich ist das Motiv für die Gesetzesänderung moralisch nachvollziehbar: Die Tötung der 17-jährigen Frederike von Möhlmann ist ein fürchterliches Verbrechen. Auch ist schwer erträglich, wenn nach einem rechtskräftigen Freispruch plötzlich Beweismittel auftauchen, die das Gericht möglicherweise nun doch von der Täterschaft überzeugen. Aber die Betonung liegt auf "möglicherweise". Denn auch die mutmaßlich überführenden Beweismittel müssen sich erst einmal in einem Gerichtsverfahren als belastbar erweisen. Sicher wäre also nach dem GroKo-Gesetz eine Verurteilung im Fall Möhlmann nicht gewesen. Die vermeintliche "Herstellung der materiellen Gerechtigkeit", wie das nun nichtige Gesetz hieß, wäre also auch nach einem zweiten, dritten oder vierten Prozess vielleicht gar nicht eingetreten.
Vergleichbare Regelung in der NS-Zeit
Das BVerfG hat den verfassungsrechtlich unwürdigen § 362 Nr.5 StPO erfreulicherweise einkassiert. Und zwar nicht hartherzig, sondern auch mit Rücksicht auf Opfer bzw. deren Hinterbliebene: Für sie würde ein Strafprozess, der wegen des grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie endete, eine erhebliche seelische Belastung darstellen. Und je mehr Zeit vergeht, desto weiter tritt das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung zurück.
Man kann das Gericht heute nur für das beglückwünschen, was es der Politik mit heutigem Urteil ins Stammbuch geschrieben hat: In einem Rechtsstaat wird die Möglichkeit einer im Einzelfall unrichtigen Entscheidung um der Rechtssicherheit willen in Kauf genommen.
In der mündlichen Verhandlung hatte Strafverteidiger Stefan Conen für das Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen* übrigens daran erinnert, wann dies in Deutschland einmal anders war: Die Möglichkeit, rechtskräftige Freisprüche aufgrund nachträglich bekanntgewordener Beweise wieder aufzuheben oder Strafen nach Rechtskraft zu verschärfen, gab es im deutschen Strafprozessrecht bisher lediglich in der NS-Zeit. Nach der Diktatur sei die Regelung unverzüglich wieder abgeschafft worden. Gut, dass sie nicht mehr auflebt.
*präzisiert am 1.11.2023, 7:36 Uhr
Wiederaufnahme des Strafverfahrens: . In: Legal Tribune Online, 31.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53042 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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