Im Bundestag verfehlten beide Gesetzentwürfe zur Regelung der Suizidhilfe eine Mehrheit. Auch dreieinhalb Jahre, nachdem das BVerfG ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben statuierte, können Betroffene dieses de facto nicht ausüben.
Fast dreieinhalb Jahre ist es nun her, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 Strafgesetzbuch a.F.) für verfassungswidrig erklärte und das grundrechtlich geschützte Recht auf selbstbestimmtes Sterben hervorhob. Seitdem ist eine politische Debatte über eine Neuregelung der Sterbehilfe in vollem Gange. Sie sollte am heutigen Donnerstag ihr Ende finden, daraus wurde aber nichts: Von den zwei zur Abstimmung stehenden Entwürfen fand am Ende keiner eine Mehrheit.
Beobachtete man in der heutigen Debatte die Redner:innen, wurde eines klar: Viele empfinden den Status quo als unbefriedigend – und das völlig zu Recht. Seit dem Urteil vom Februar 2020 wird im Bundestag über mögliche Neuregelungen diskutiert und es liegt immer noch kein Ergebnis vor. Das bedeutet: Wir haben in Deutschland weiterhin keine spezialgesetzliche Regelung, die den Rahmen für eine Hilfe zum selbstbestimmten Suizid absteckt.
Nach dreieinhalb Jahren immer noch Rechtsunsicherheit
Wir wissen zwar, dass die allgemeinen Grenzen der Tötungsdelikte (§§ 212 ff. StGB) und des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) zu wahren sind. Insbesondere die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) zeigt, dass wir nicht einmal auf das ausdrückliche und ernstliche Verlangen eines anderen hin töten dürfen. Zudem ist Natrium-Pentobarbital als geeignetes Suizidmittel wegen der Bestimmungen im BtMG nicht verfügbar. Aber haben wir nicht aus der Entscheidung des BVerfG gelernt, dass solche sicheren Mittel künftig verfügbar sein sollen?
Für Betroffene – insbesondere Suizidwillige und Ärzt:innen – ist das ein Schlag ins Gesicht. Denn nun bleibt alles, wie es seit fast dreieinhalb Jahren ist, und das bedeutet für Betroffene vor allem eins: Unsicherheit. Unsicherheit für Ärzt:innen, die ihren Patient:innen helfen wollen und nicht wissen, ob ihnen deswegen eine Strafverfolgung droht. Welche Kriterien sollen beispielsweise für die Feststellung eines freiverantwortlichen Willens gelten und welche Dokumentationspflichten gibt es?
Aber vor allem auch Unsicherheit für Suizidwillige, die mit ihren Ängsten und Fragen allein gelassen werden: Wo kann ich hingehen, um Hilfe zu bekommen? Darf mein Arzt mir helfen und kann er mir ein Mittel verschreiben, damit ich friedlich einschlafen kann?
Das alles sind Fragen, auf die sich heute keine klare Antwort finden lässt, weil sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages uneinig sind.
Bundestag nimmt das Thema ernst, ist aber tief gespalten
Die Abstimmungsergebnisse zeigten zumindest, dass eine neue Regelung der Suizidhilfe nicht am mangelnden Interesse der Abgeordneten scheiterte. Denn die Beteiligung von insgesamt 690 Abgeordneten war kurz vor der Sommerpause sehr hoch.
Der Entwurf von Lars Castellucci (SPD) und Co., der eine Regelung im Strafgesetzbuch vorsah, erfreute sich dabei einiger Beliebtheit (304 Ja-Stimmen/363 Nein-Stimmen/23 Enthaltungen). Eine ähnlich hohe Beteiligung (287/375/20) konnte auch der zusammengeführte Entwurf von Katrin Helling-Plahr (FDP), Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) und anderen erreichen, der ein eigenes Suizidhilfegesetz vorsah. Diese Zahlen zeigen vor allem, dass sich die Mehrheit eine Neuregelung gewünscht hat.
Dass das Vorhaben trotzdem scheiterte, liegt daran, dass die Entwürfe von unterschiedlichen Regelungskonzepten ausgingen, die die Abgeordneten in zwei Lager spalteten. Zwei Lager, die am Ende einfach zu weit auseinander lagen und von denen keines groß genug war, um sich das andere einzuverleiben. Das Abstimmungsergebnis zeigt, dass der Weg zu einer mehrheitlich getragenen Lösung noch lang ist und weitere Monate oder Jahre dauern könnte.
Ein untragbarer Zustand. Natürlich ist nachvollziehbar, dass man sich über solch ein Thema schwer einig wird – eben, weil es so wichtig ist. Doch muss es in dreieinhalb Jahren doch möglich sein, eine mehrheitsfähige Lösung zu finden.
Immerhin Einigkeit bei Suizidprävention
Erfreulich ist hingegen das Abstimmungsergebnis über den Antrag "Suizidprävention stärken" (BT-Drs. 20/7630), der mit 693 Ja-Stimmen angenommen wurde. Das zeigt trotz aller Meinungsverschiedenheiten, dass der immens wichtige Präventionsgedanke in der Mitte des Parlaments angekommen ist. Bei fast 10.000 Menschen, die sich jährlich in Deutschland das Leben nehmen, ist das ein positives Signal in die richtige Richtung. Denn bisher ist es nicht gelungen, die defizitäre Versorgungslage in vielen Bereichen zu verbessern.
Es bleibt zu hoffen, dass Strukturen und Angebote der Suizidprävention dadurch künftig Aufwind erfahren und Betroffenen besser geholfen werden kann.
Was die weitere spezialgesetzliche Ausgestaltung angeht, hilft es nichts – wir müssen in die Zukunft blicken. Nach der heutigen Abstimmung sind beide Entwürfe erst einmal vom Tisch. Was an ihrer Stelle folgt, ist völlig unklar: Werden sie in ähnlicher Form erneut eingebracht, bewegen sich die beiden Lager aufeinander zu oder entsteht ein ganz neuer Entwurf?
Auch der Zeitpunkt weiterer Debatten steht in den Sternen. Klar ist: Der Bundestag verabschiedet sich zunächst in die Sommerpause. Bei der regen Beteiligung an der heutigen Debatte ist aber damit zu rechnen, dass das Thema im Gespräch bleibt. Auch wenn es viel Zeit kosten wird, gibt das heutige Abstimmungsergebnis zumindest die Chance, das Thema weiter in die Öffentlichkeit zu tragen und eine offene Diskussion zu ermöglichen.
Anne Baldauf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie und Doktorandin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie hat außerdem einen Masterabschluss im Studiengang Medizin-Ethik-Recht (M.mel.).
Abstimmung über Neuregelung der Suizidhilfe gescheitert: . In: Legal Tribune Online, 06.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52173 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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