Frisch im Amt möchte der neue CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann den "Law and Order" Kern seiner Partei stärken. Allerdings nicht bei der Wirtschaftskriminalität, sondern im Deliktsbereich "Schwimmbad". Überzeugt das Thomas Fischer?
Anlass
Der Abgeordnete des Deutschen Bundestags (MdB) Carsten Linnemann (CDU/CSU) hat, kaum war er Generalsekretär der Partei CDU mit dem Auftrag, die Muskulatur dieser Partei etwas wahlkampftauglicher zu "definieren“, die medial so genannte "Forderung“ erhoben (sagen wir demokratie-theoretisch: den rechtspolitischen Vorschlag gemacht), in Fällen der Freibad-Strafbarkeit sowie ggf. auch sonstiger Empörungs-Kriminalität eine beschleunigte strafrechtliche Ahndung – sog. Beschleunigtes Verfahren – durchzuführen, damit "noch am selben Tag“ (gemeint: der Tat) der Täter (gemeint: der Beschuldigte) vor dem Richter stehe (gemeint: eine Hauptverhandlung erlebe). Wie häufig fallen Antworten aus fachlicher Sicht umso schwieriger, je schlichter die Frage ist.
Gesetz
Das "Beschleunigte Verfahren“ ist keine neue Erfindung, sondern ein alter Bekannter, zuletzt im Jahr 1994 "fortentwickelt“ durch das "Verbrechensbekämpfungsgesetz“ (siehe BT-Drucksache 12/6853). Es ist in den Paragrafen 417 bis 420 der Strafprozessordnung (StPO) geregelt. Wer immer sich rechtspolitisch oder rechtsdogmatisch dafür interessiert, sollte zunächst diese gesetzlichen Regelungen nachlesen.
Das Beschleunigte Verfahren setzt voraus, dass bei "einfachem Sachverhalt“ oder bei "klarer Beweislage“ auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Amtsgericht die Durchführung eines solchen Verfahrens angeordnet wird (vgl. § 417 StPO).
Wenn das der Fall ist, gelten – unter anderem – drastisch verkürzte Ladungsfristen (§ 418 Abs, 1 StPO), darf die Anklage auch mündlich erhoben werden (§ 418 Abs, 3 StPO) und dürfen Vernehmungen von Tatbeteiligten, Zeugen oder Sachverständigen durch Verlesungen von Urkunden ersetzt werden (§ 420 Abs. 1 StPO). Letzteres setzt die "Zustimmung des Angeklagten, des Verteidigers und der Staatsanwaltschaft voraus, sofern sie in der Hauptverhandlung anwesend sind“ (§ 420 Abs. 3 StPO).
Motiv
Wenn man fragen würde, ob Straftaten "schnell“ – im Sinne von "ohne schuldhaftes Zögern" – geahndet werden sollten, würde man bei einer der üblichen Umfragen eine Zustimmung von 100 Prozent erreichen. Wenn man fragen würde, ob Ermittlungen zu Straftaten möglichst schnell abgeschlossen (§ 170 Abs. 1 oder 2 StPO) werden sollten, wäre die Zustimmungsrate vermutlich deutlich niedriger. Und wenn man fragen würde, ob "übersichtliche" Beschuldigungen auf jeden Fall noch am Tag des Tatvorwurfs oder jedenfalls in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang abgeurteilt werden sollten, würden jedenfalls solche Personen mit "Nein“ antworten, denen vorstellbar ist, dass eine solche Regelung sie selbst nicht nur als Geschädigte, sondern vor allem auch als Beschuldigte treffen könnte. Beschuldigte, die fordern, noch am Tag des Tatvorwurfs rechtskräftig abgeurteilt zu werden, habe ich bislang sehr selten getroffen.
Der Grund für eine solche – unterstellt – differenzierte Meinung liegt nach aller Lebenserfahrung nahe: Je mehr konkretisiert und individualisiert die Frage ist – einschließlich der Möglichkeit, die befragte Person könne selbst als Beschuldigter betroffen sein –, desto höher ist das Bedürfnis nach Sorgfalt und Qualität der Sachaufklärung in Konkurrenz zur bloßen Geschwindigkeit des Verfahrens.
Anders gesagt: Zustimmung zum und Bedürfnis nach einem möglichst schnellen Verfahren steigen ganz offensichtlich mit dem Maß der Entfernung zur eigenen potenziellen Beschuldigten-Eigenschaft: Fast jeder etwa stimmt der Forderung zu, "Wirtschaftsstraftäter“ sollten schneller abgeurteilt werden, aber praktisch niemand der Forderung, im Verfahren wegen Steuerhinterziehung oder Betrug solle ihm selbst oder einem Angehörigen aus generalpräventiven Gründen "kurzer Prozess“ gemacht werden. Dass dies so ist, ist nicht etwa beklagenswert. Es zeigt vielmehr, dass die Bürger nach 250 Jahren verstanden haben, was Bürgerrechte sind.
Freibad und Autobahn
Die derzeitige öffentliche Diskussion über eine Anwendung des "Beschleunigten Verfahrens“ kreist kriminologisch meist um Taten aus dem Formenkreis der "Freibad-Delikte“ sowie der so genannten "Klima-Kleber“. Beides sind aber Kriminalitätsfelder, die sich bei näherem Hinsehen in besonders geringem Maße zur Behandlung im Beschleunigten Verfahren eignen: Aggressionsdelikte im Biotop der "Freibäder“ sind regelmäßig hoch streitig in tatsächlicher Hinsicht (Ablauf, "Wer hat angefangen“, "worum ging es überhaupt?“; usw).
Die materielle Täterschaft von "Klimaklebern“ oder "Klima-Aktivisten“ ist im Tatsachen-Bereich meist unstreitig, aber rechtlich hochstreitig. Warum also sollte ein wegen Nötigung verfolgter Beschuldigter einer Verfahrensgestaltung zustimmen (siehe § 420 Abs. 3 StPO), die seine Unterwerfung unter eine vorweggenommene Bewertung faktisch schon voraussetzt?
Beweis
Dies macht die dramatische Schwäche – um nicht zu sagen: Irrationalität – des genannten Vorschlags deutlich: Er leidet an einer eklatanten Vermischung von materiellem und prozessualem Recht. Wer ein "schnelles Verfahren“ oder gar eine taggleiche (oder tagnahe) Aburteilung "fordert“, geht ersichtlich davon aus, dass sowohl die Tatsachen-(Beweis-)lage als auch die (materielle) Rechtslage geklärt und weitestgehend unstreitig seien. Diese Voraussetzung lässt sich auf zwei verschiedene Weisen erreichen: Durch fallspezifische, konkrete "Unstreitigkeit“ – vor allem mittels Geständnis – oder durch Abkürzung (wie auch immer) der Tatsachenermittlung und Beweisaufnahme.
Bei den hier inmitten stehenden Tatvorwürfen ist es durchweg unwahrscheinlich, dass eine solche Verfahrenslage evident und die Sache daher zur Aburteilung im beschleunigten Verfahren "geeignet" ist. Vielmehr ist die Gefahr groß, dass der regelmäßige Versuch, dieses Verfahren anzuwenden, zu häufigen Verfahrensabbrüchen und zu Doppelarbeit führen würde. Einmal ganz abgesehen von der Frage, wie sich die geforderte taggleiche („am selben Abend vor dem Richter stehen“) Aburteilung justizorganisatorisch gestalten sollte.
Jugendstrafrecht
Im Jugendstrafrecht (und damit gegebenenfalls auch im Heranwachsenden-Strafrecht) kommt es in erhöhtem Maß auf "Erziehung" (Pädagogik), daher auch Erforschung der "persönlichen Verhältnisse" an. Deshalb werden Erziehungsberechtigte, Jugendämter, Jugendgerichtshilfe am Verfahren beteiligt. Die Durchführung des beschleunigten Verfahrens in Strafverfahren gegen Jugendliche ist daher – ebenso wie das Strafbefehlsverfahren – gesetzlich ausgeschlossen (§ 79 Abs. 2 JGG).
Deshalb ist die Forderung, es gegen "Freibad"-Rowdies und "Klimakleber" anzuwenden, auch kriminologisch rätselhaft, denn ein großer Teil der insoweit Beschuldigten gehört der Altersgruppe der Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) an. Für eine Änderung des JGG gibt es ersichtlich keine Mehrheit. Sie könnte selbst verständlich auch nicht auf einzelne Tatbestände oder gar kriminologische Tatbilder beschränkt werden. Zwar ist die These, "gerade" bei Jugendlichen komme es auf eine tatzeitnahe Ahndung an, um den gewünschten Erziehungszweck zu erreichen, nicht von vornherein unzutreffend. Sie hat allerdings keine Regelvermutung für sich. Wohlverhalten kann auch durch die Unsicherheit eines schwebenden Verfahrens, Einschaltung der Eltern, Mitwirkung des Jugendamts erreicht werden; es kommt auf den Einzelfall an.
Recht, Rechtspolitik und Rechtspropaganda
Das alles wissen natürlich auch die Politiker, die "Schnellverfahren“ fordern. Nach derzeit geltendem Recht sind ihre Forderungen daher nur schwer nachvollziehbar.
Bleibt also die – insinuierte – Forderung nach einer anderen Rechtslage. Sie wird bezeichnenderweise nicht ausdrücklich gestellt. Sondern es wird behauptet, es "müsse" oder "solle" so sein, damit "Gerechtigkeit“ herrsche. Das kann man freilich auch bei jedem beliebigen anderen kriminologischen Thema behaupten, sei die empirische Behauptung nun wahr oder falsch: Etwas mehr Sicherheit ist allemal gut, und etwas mehr schnelle Sicherheit erst recht.
Dass die Strafverfolgung "beschleunigt“ werden solle, ist eine ebenso ubiquitäre wie inhaltlich beliebige Forderung. Sie ist so banal und überzeugend wie die Forderung, alle Urteile der Justiz sollten "gerechter“ sein.
Die polemisch erhobene "Forderung“ nach Schnellverfahren vermischt daher formelle, verfassungsrechtlich begründete Anforderungen mit populären Hoffnungen und Gefühlen. Im derzeitigen Beschreibungs-Jargon nennt man dies "Populismus“. Diese Bezeichnung sollte ihrerseits nicht als inhaltliche Zuschreibung verwendet werden: Sie ist nicht Voraussetzung, sondern allenfalls Ergebnis einer inhaltlichen Analyse.
Wer fordert, bestimmte Beschuldigungen möglichst "beschleunigt“ abzuurteilen, hat offenbar eine abgeschlossene Meinung dazu, wie diese Kategorie von möglichen Taten materiell und prozessual zu beurteilen sei. Das ist vielleicht richtig, aber gleichwohl evident begründungsbedürftig. Man könnte also, zugespitzt, den Generalsekretär einfach einmal fragen: Warum genau sollten Beleidigungen, Nötigungen oder Körperverletzungen unter dem Drei-Meter-Brett "beschleunigt“, Umsatzsteuerhinterziehungen (§ 370 AO) oder Veruntreuungen von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) aber mit aller Sorgfalt und ausführlicher Beweisaufnahme aufgeklärt werden?
Beurteilungslage
Die Forderung nach "Schnellverfahren" setzt voraus, dass alles schon klar ist. Dem liegt eine pauschalisierende, im Ergebnis beschränkte Vorstellung des (angeblichen) Verfahrensgegenstands und der Sachverhalte zugrunde. Es gibt aber keinerlei Anlass zu glauben, die Beurteilungslage bei einer Schlägerei am Sprungturm unter Migrantenkindern der dritten Generation sei übersichtlicher oder gar offensichtlicher als die Lage bei Betäubungsmitteldelikten oder Diebstählen der Kinder von Bundestagsabgeordneten oder bei Belästigungstaten von Zahnärzten, Rechtsanwälten oder Amtsräten.
Im Gegenteil: Wer je eine Hauptverhandlung wegen einer "Schlägerei" mit zwei Parteien geleitet hat, weiß, dass die Beweislage meist das Gegenteil von einfach ist. Wer fordert, Beschuldigte aus solchen Vorkommnissen sollten „beschleunigt“ abgeurteilt werden, hat also entweder keine Erfahrung oder ein fallspezifisches Vorurteil oder zielt auf Bestätigung durch emotionale Bedürfnisse ab. Beides ist in keiner Weise sachdienlich.
Die "Freibad"-Kriminalität von Jugendlichen und Heranwachsenden aus sozial eher randständigen Milieus wird in wiederkehrenden Wellen skandalisiert und in ihrem realen Ausmaß überschätzt. Sie stellt eine spezielle Herausforderung an die sozialen Integrationsleistungen insgesamt dar, weil sich hier im Tatumfeld auf engstem Raum extrem unterschiedliche Personen(gruppen) begegnen und weil sich dieser öffentliche Raum gerade den auffälligen Jugendlichen oft als (einziger) Freiraum vermeintlicher Gleichheit darstellt. Dem ist mit immer noch mehr "Security" und Strafverfolgung allein nicht beizukommen.
Antworten, im Ergebnis:
1. Der rechtspolitischen Forderung nach mehr "beschleunigten Verfahren“ in bestimmten Deliktsbereichen mangelt es an kriminologischer und rechtsdogmatischer Plausibilität.
2. "Freibad“- oder "Klimakleber“-Kriminalität sind in der Sache ungeeignet zur Aburteilung im sog, beschleunigten Verfahren.
3. "Beschleunigte Verfahren“ im rechtstechnischen Sinn gegen Jugendliche sind aus guten Gründen gesetzlich unzulässig und auch rechtspolitisch abzulehnen.
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 26.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52343 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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