Zwei Strafrechtslehrerinnen haben unter Berufung auf ihre Wissenschaft vorgeschlagen, die Strafzumessung bei Sexualstraftaten "grundsätzlich zu überdenken" und im Ergebnis: zu verschärfen. Was ist davon zu halten, Thomas Fischer?
Einleitung
In der FAZ vom 28. Dezember haben die Strafrechtslehrerinnen Frauke Rostalski (Köln) und Elisa Hoven (Leipzig) einen Text unter dem Titel "Übergriffe härter bestrafen" veröffentlicht. Er schlägt vor, die Strafzumessung bei Sexualstraftaten "grundlegend zu überdenken". Das Ergebnis des angeratenen Überdenkens kennen die Autorinnen schon: Verschärfen.
Als Basis der Anregung dienen, wie dem genannten Text zu entnehmen ist, zwei von den Autorinnen selbst durchgeführte "Studien". Die eine ist "eine breit angelegte Analyse von Kommentaren unter Medienberichten zu Strafurteilen" (gemeint offenbar: "Strafzumessung und Medienberichterstattung – Ergebnisse einer Studie zur Wahrnehmung von Strafurteilen auf Grundlage von Medienberichten", MschrKrim 2019, S. 65), die andere "eine Analyse von 86 amts- und landgerichtlichen Urteilen aus den Jahren 2016 bis 2020" (die Arbeit wurde von mir auf den Seiten der Lehrstühle nicht aufgefunden).
Voraussetzungen
Beide Autorinnen vertreten als Hochschullehrinnen nicht das Fach Kriminologie. Hoven verfügt durch ihre Habilitation über eine Lehrbefugnis für das Fach. Ihre Publikationen zu diesem Fach beschränken sich soweit ersichtlich auf jeweils wenige, eher populäre Fragestellungen mit rechtspolitischer Intention*. (Anm. d. Red.: Zur Klarstellung nach Veröffentlichung des Beitrags der Hinweis auf eine Auswahl empirischer und kriminologischer Arbeiten der Autorin Hoven**).
Die Kriminologie ist ein komplexes und anspruchsvolles wissenschaftliches Fach. Sie ist weder eine Unterform populärer Kriminalistik ("Meine schrecklichsten Fälle", "Serienmörder und wie ich sie gefangen habe") noch ein Ableger der Strafrechtsdogmatik. Vielmehr handelt es sich um ein spezielles Gebiet der Soziologie, welches seinerseits von einer Mehrzahl von Hilfswissenschaften umgeben ist. Wer kriminologische Studien durchführen und veröffentlichen will, sollte daher über eine solide entsprechende Ausbildung verfügen, namentlich auch in den empirischen Grundlagen, dem Forschungsdesign und den Methoden der Diskussion und Bewertung von Rohdaten.
Selbstverständlich darf jedermann einmal irgendetwas behaupten und dazu sagen, dies beruhe auf nichts als reiner Wissenschaft. Leider hat sich in den vergangenen Jahren eine Tendenz verstärkt, laienhaft kriminologische Fragestellungen quasi als bloßen Werbe-Rahmen für allerlei Vermischungen und rechtspolitische Selbstdarstellungen zu verwenden. Diese mögen im Rahmen einer feuilletonistischen Tätigkeit angemessen sein, sollten dann aber nicht als "Wissenschaft" ausgegeben werden. Der Text "Missbrauch härter bestrafen" der Autorinnen Rostalski und Hoven scheint mir hierfür ein Beispiel zu sein.
Inhalt des FAZ-Artikels
Nur kurz zusammengefasst:
• Das Landgericht Hamburg (Jugendkammer) habe kürzlich mehrere Täter einer Vergewaltigung zu milden (Jugend-)Sanktionen verurteilt. Die öffentliche Empörung sei groß gewesen. Man könne, ohne das Urteil und die Hintergründe zu kennen, keine Bewertung abgeben.
• Die Autorinnen haben "in einer bundesweiten Studie" einerseits Richtern, andererseits Laien verschiedene "Fallvignetten vorgelegt" (gemeint sind fiktive, kurz zusammengefasste Sachverhalte) und nach dem angemessenen Strafmaß gefragt. Laien hätten "signifikant" härtere Strafen vorgeschlagen.
• Strafurteile seien kommunikative Akte. Ein Abweichen der Strafvorstellungen von Justiz und Bevölkerung könne zu Vertrauensverlust führen ("Es droht eine Entfremdung"). Ob Vergewaltigung mit einem oder mit zehn Jahren Freiheitsstrafe zu ahnden ist, sei eine Frage der Werteentscheidung.
• Eine von den Autorinnen durchgeführte Untersuchung von 86 amts- und landgerichtlichen Urteilen aus fünf Jahren wegen Sexualstraftaten habe ergeben, dass die Strafen im unteren Drittel des gesetzlichen Strafrahmens lagen.
• Es folgt die Referierung von zwei Sachverhalten und Entscheidungen. Die erste Fall-Darstellung ist sieben Zeilen, die andere zwölf Zeilen lang. Abschließend wird mitgeteilt, beide Urteile seien vom Bundesgerichtshof aufgehoben worden.
• Das Maß der Milde sei "nicht tragbar"; sie missachteten das "Leid der Opfer von häuslicher Gewalt". Es müsse tatsächlicher Freiheitsentzug erfolgen.
• Sexuelle Übergriffe würden im Vergleich zu anderen Deliktsgruppen äußerst milde bestraft. Hierin manifestiere sich eine "Minderbewertung" der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen.
• Die Wertmaßstäbe der Gerichte stammen, so Hoven/Rostalski, aus einer Zeit, in welcher sexuelle Übergriffe bagatellisiert wurden und die "Vergewaltigung in der Ehe" straffrei gewesen sei. Dies müsse sich ändern. Sexualdelikte müssten "angemessen" (gemeint: härter) bestraft werden.
Plausibilität
Die vorstehend referierten Argumente klingen wie eine Zusammenfassung einer der verbreiteten "Alles-wird-immer-schlimmer"-Dokumentationen. Die skizzierte Argumentationskette des FAZ-Texts ist fragwürdig. Die empirischen Grundlagen bleiben vage; die Schlussfolgerungen sind eher politisch als wissenschaftlich. Warum und wie zum Beleg angeblich "nicht tragbarer" Milde 86 (von vermutlich in demselben Zeitraum ergangenen 30.000) Urteile ausgewählt und von diesen als beispielhaft unzureichend dann ausgerechnet zwei Entscheidungen herausgestellt wurden, die gar nicht rechtskräftig wurden, erschließt sich nicht. Mindestens begründungsbedürftig wären die Gleichsetzungen von "Übergriffen" mit "häuslicher Gewalt" und von Opfern sexueller Übergriffe mit Frauen. "Vergewaltigung in der Ehe" war im Übrigen – dies nur als pedantische Anmerkung – auch bis 1997 nicht straffrei (siehe unten).
Schwerwiegend ist die Behauptung, dass sexuelle Übergriffe "im Vergleich mit anderen Deliktsgruppen äußerst milde" bestraft würden. Diese Behauptung bedürfte dringend einer empirischen Bestätigung, die allerdings nicht ersichtlich ist. Es ist schon nicht erkennbar, welche "anderen Deliktsgruppen" wann, von wem und nach welchen Kriterien und Methoden von Hoven und Rostalski "verglichen" worden sein sollen. Einzig im FAZ-Text angedeuteter Parameter ist das Maß der Ausschöpfung des gesetzlichen Strafrahmens in 86 Urteilen ("im unteren Drittel"). Selbst dies könnte freilich eine Folge sehr differenzierter Ursachen sein, unter denen die gesetzlichen Strafdrohungen für exzessiv erweiterte Tatbestände nur ein Beispiel sein möge: Wer vom Diebstahl bis zur besonders schweren räuberischen Erpressung alle Handlungen mit Strafe von einem bis zu fünfzehn Jahren bedroht, muss sich nicht wundern, wenn die große Mehrzahl der Verurteilungen sich im untersten Bereich bewegt.
Die rechtspolitische Forderung "Härter Bestrafen" ist politisch legitim. Sie folgt allerdings nicht aus "Wissenschaft". Jedermann darf im Schutz des Art. 5 GG "fordern", fahrlässige Tötung solle mit lebenslanger Freiheitsstrafe und das Einreichen eines gelogenen Bewirtungsbelegs beim Finanzamt mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren geahndet werden. Ob solche Strafschärfungsträume aus Eingebungen, politischen Überzeugungen oder Wissenschaft generiert werden, ist aber nicht gleichgültig.
"Studien"
Das erforderliche Nachfragen beginnt hier schon bei den in Bezug genommenen Analysen und Studien der Autorinnen, die von ihnen selbst stammen. Das kann man machen, ist dann aber zur Offenlegung verpflichtet. Hieran fehlt es.
Die Behauptung, 86 (!) amts- und landgerichtliche Urteile aus fünf (!) Jahren "analysiert" zu haben, ersetzt dies auch dann nicht, wenn sie in einer Publikumszeitung erscheint. Die 86 "analysierten" Urteile (Akten? Verfahren?) stellen dem FAZ-Text nach die Hälfte der Basis der politischen Schlussfolgerungen der Autorinnen dar. Da sollte der FAZ-Leser erwarten dürfen, dass ihm kurz und nachvollziehbar mitgeteilt wird, welche Voraussetzung und Substanz diese Analyse hat. Die beiden einzigen im FAZ-Aufsatz dargelegten Urteile (Sachverhalte) sind gar nicht rechtskräftig: Was soll das?
Das Ergebnis einer Studie, wonach Laien, wenn man ihnen fiktive Sachverhalte mit der Bitte um Strafzumessung vorlegt, meist härtere Strafen vorschlagen als Strafrechtsprofis, darf als Banalität bezeichnet werden. Die Vielzahl von Variablen, welche sowohl die Input- als auch die Output-Seite einer solchen Untersuchung bestimmen, ihre möglichen Auswirkungen sowie deren methodische Berücksichtigung finden im Text der Forscherinnen keine Erwähnung. Ihre Schlussfolgerung geht daher in der Sache über das verbreitete "Immer mehr Bürger meinen…"-Narrativ nicht hinaus.
Rein spekulativ und tendenziös erscheint mir schließlich auch die von den Autorinnen vertretene Behauptung, die von ihnen für zu milde ("untragbar") gehaltene Strafzumessung rühre aus dem Umstand her, dass die heute tätigen Richter zu einer Zeit ausgebildet wurden, in welcher Sexualstraftaten "bagatellisiert" worden seien.
Schon die Grundlagen dieser Behauptung sind unplausibel. Die heute aktiven Strafrichter und Staatsanwälte dürften mehrheitlich zwischen 1990 und 2020 ausgebildet worden sein. Für eine "Bagatellisierung" von Sexualstrafteten in dieser Zeit fehlt ein empirisch haltbarer Anhaltspunkt.
Als Beleg führen die Autorinnen an, bis 1997 sei "die Vergewaltigung in der Ehe straflos" gewesen. Das ist zum einen allenfalls terminologisch richtig, denn in der Sache war die Tat auch vor 1997 als Gewalt-Nötigung und Körperverletzung (allerdings nur als Vergehen) strafbar. Zum anderen vermischt es rechtspolitisch-subjektive Wertungen ("Bagatellisierung") mit Strafrechtsdogmatik (Formulierung und Auslegung gesetzlicher Regeln) und belegfreien empirischen Behauptungen (etwa über "Ausbildung", Justizpersonal, Einstellungen) im Bereich populistischen "Meinens".
Der Begriff der Bagatellisierung, der ein offenkundig wertender ist, nimmt, wenn er als Tatsachenvoraussetzung verwendet wird, das Ergebnis der Fragestellung schon normativ voraus. Das sollten Strafrechtsprofessorinnen wissen.
Strafniveau und Rechtspolitik
Die Autorinnen Rostalski und Hoven referieren die These, dass ein "Abweichen der Strafvorstellungen von Bevölkerung und Gerichten" zu einer Legitimitätskrise des (Straf)Rechts führen könne. Das ist, mit Verlaub, eine überaus banale Erkenntnis, die seit mehreren tausend Jahren bekannt ist. Sie unterscheidet sich von den heute relevanten Theorien strafrechtlicher Legitimation dadurch, dass sie diese auf ein Niveau populistischer Übersichtlichkeit reduziert.
Nur am Rande darf angemerkt werden, dass in diesem Zusammenhang die im FAZ-Artikel einleitende Erwähnung des Urteils des Hamburger Jugendgerichts, verbunden mit dem Hinweis, ohne Kenntnis der Hintergründe könne man die Strafzumessung nicht bewerten, nicht sinnhaft erscheint. Denn ob die Forscherinnen die "Hintergründe" der von ihnen auserwählten 86 Urteile kannten und was sie unter diesem Begriff überhaupt verstehen möchten, bleibt im Dunkeln. Die Erwähnung des Hamburger Urteils wirkt wie ein nicht integrierter Disclaimer, dessen weise Mahnung zur Abgewogenheit durch den nachfolgenden Text konterkariert wird.
"Die Bevölkerung", auf deren Legitimitätsbeitrag die beiden Forscherinnen sich beziehen, forderte in den vergangenen sieben Jahrzehnten mal dies, mal jenes, je nach Windrichtung. Darunter war vielfach blanker Unsinn: "Kopf ab" und "Wegsperren für immer", Abschaffen des Jugendstrafrechts oder des Strafrechts überhaupt, langjährige Freiheitsstrafen für Kinder, Straflosigkeit terroristischer Anschläge, Höchststrafen für Schwule oder Pädophile, Kommunisten oder Stasi-IM’s. Derzeit liegt der Schwerpunkt des Strafverlangens bei Taten junger Migranten und jeglicher Art sexueller Grenzüberschreitung. Wie gut, dass die Bevölkerung unseres Rechtsstaats eine Justiz an ihrer Seite hat, die jedenfalls langfristig halbwegs das Gleichgewicht hielt!
Es soll wiederholt werden: Die populären Behauptungen, wonach im Bereich der Sexualdelikte empirisch "alles immer schlimmer" werde, sind empirisch nicht belegt: Vieles spricht dafür, dass seit 1990 die tatsächliche Zahl der Taten abgenommen hat, während die Verfolgungsdichte massiv zunahm. Die Behauptung, wonach eine signifikante Gerechtigkeits-Lücke zwischen der Ahndung von Sexualdelikten und Taten "anderer Deliktsgruppen" bestehe, ist fragwürdig und voraussetzungsvoll.
Die Wissenschaft ist, in den Grenzen des Begriffs, frei (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG). Wer öffentlich behauptet, seine "Studie" habe ergeben, dass die Gravitation nicht existiere, hat das Recht dazu, freilich keine Wahrheit auf seiner Seite. Wer behauptet, die Strafe für das Angrabschen einer als "erogen" geltenden Körperzone dritter Personen müsse viel höher als mit einer Mindest(!)strafe von einem Jahr sein oder solle nicht zur Bewährung ausgesetzt werden dürfen, läuft zwar vorn im Feld der medialen Aufmerksamkeit. Mit der Wissenschaft vom Strafrecht hat das allerdings wenig zu tun. Die negative und die positive Generalprävention sind nicht gleichzusetzen mit "Bild"-Schlagzeilen und "X"-Blasen.
Antworten, im Ergebnis
1. Der Beitrag "Übergriffe härter bestrafen" der Autorinnen Hoven und Rostalski in der FAZ vom 28. Dezember 2023 beruft sich auf empirische Erkenntnisse, die nicht plausibel sind. Der rechtspolitischen Schlussfolgerung "Härter Bestrafen" fehlt daher das wissenschaftliche Fundament.
2. Die Anzeige- und Verfolgungshäufigkeit von Sexualdelikten ist in den vergangenen 30 Jahren massiv angestiegen. Sexualstraftaten werden heute härter bestraft als vor einigen Jahrzehnten. Eine angebliche Kultur zu milde ausgebildeter Richter gibt es nicht.
3. Eine durchschnittliche Fehlbewertung in der Bestrafung von Sexualdelikten im Vergleich zu Taten aus anderen Deliktsgruppen lässt sich empirisch nicht belegen. Eine kritiklose Übertragung zweifelhafter Volksbefragungen in rechtspolitische Forderungen nach Strafverschärfungen mag parteipolitisch nützlich erscheinen, ist aber wissenschaftlich nicht begründet.
* Vgl. unter anderem Rostalski Juristische Rundschau 2014, 141 (zu „Hassdelikten“); Goldtdammer‘s Archiv für Strafrecht 2021, S. 1908 („Sinn und Nutzen verschärfter Strafrahmen“); Hoven, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 133, 322 („Strafzumessung von Laien und Richtern); Bd. 134, S. 1016 („Kriminologische und Kriminalpolitische Untersuchung zur Anhebung von Strafrahmen“ Zeitschrift für Kriminalpolitik 2023, 184 („Digitaler Hass“).
** Strafrechtliche Verfolgung von Tierschutzkriminalität in der Landwirtschaft – Eine empirische Untersuchung, 2022; Der Täter-Opfer-Ausgleich im Erwachsenenbereich in Sachsen. Eine Evaluierungsstudie, Zentrum für kriminologische Forschung Sachsen, e.V, Autorinnen Elisa Hoven/Jan Schriever/Anja Rubitzsch, 2023; Das Gesetz gegen Doping im Sport in der Praxis – Eine Evaluierung, 2021 (mit Michael Kubiciel); Auslandsbestechung – Eine rechtsdogmatische und rechtstatsächliche Untersuchung, 2018, (Habilitationsschrift).
Anm. d. Red.: Beitrag in der Version vom 12.01.2024, 12:50 Uhr, ergänzt wurde der Hinweis auf die Lehrbefugnis und auf weitere empirische/kriminologische Publikationen von Prof. Hoven im Fach Kriminologie.
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53570 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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