Das BVerfG diskutiert gefährliche Ideen: Sind alle Wahlgesetze verfassungswidrig, weil die Bürger die Details nicht verstehen? Christian Rath beobachtete am Dienstag die Verhandlung zum Bundeswahlgesetz - und zwar kopfschüttelnd.
Am Dienstag verhandelte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) mündlich über eine Normenkontrollklage von 216 Abgeordneten von FDP, Linken und Grünen gegen das 2020 von der Großen Koalition beschlossene Bundestagswahlrecht. An dieser Verhandlung war fast alles irritierend: dass sie überhaupt stattfand, was diskutiert wurde und welche Folgen das Urteil haben könnte.
Im Wahlrecht hat Peter Müller, der federführende Richter, gerade einiges zu tun. Die Ablehnung des Eilantrags gegen die Wiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahl ist immer noch nicht begründet - zwei Monate nach dem Beschluss. Bei den Wahlprüfungsbeschwerden gegen die Bundestagswahl in den chaotischen Berliner Stimmbezirken geht es nicht voran. Und bald kommen schon die von Linken, CDU-CSU und Bayern angekündigten Klagen gegen das im März beschlossene neue Bundestagswahlrecht.
Purer Luxus
Doch der Zweite Senat des BVerfG nahm sich am Dienstag trotzdem einen ganzen Tag lang Zeit, um über das 2020 beschlossene Wahlgesetz zu verhandeln. Ein Verfahren, an das sich kaum noch jemand erinnerte und auf das kaum jemand gewartet hat. Sogar die Kläger hatten das Interesse verloren und einen Antrag auf Ruhen des Verfahrens gestellt. Dieser wurde vom Zweiten Senat allerdings am 22. März abgelehnt: Es bestehe ein öffentliches Interesse an dem Verfahren, weil die derzeitigen Bundestagsabgeordneten nach dem angegriffenen Gesetz gewählt wurden und weil es in Berlin bald Wiederholungswahlen auf Grundlage dieses Gesetzes geben könnte.
Diese Begründung gegen das Ruhen des Verfahrens war nachvollziehbar. Aber bestand auch ein öffentliches Interesse, gerade zu diesem Verfahren eine der raren mündlichen Verhandlungen durchzuführen? Ist das nicht purer Luxus, wenn man weiß, wie viel der Zweite Senat gerade zu tun hat? Schließlich scheiden die Richter:innen Sybille Kessal-Wulff und Peter Müller Ende des Jahres aus, weshalb sich nun die Großverfahren im Senat drängen, die sie vorher noch erledigen wollen. Besonders hoch ist der Zeitdruck für Müller, dessen Amtszeit schon am 30. September endet.
So war es wohl einfach Müllers letzte Chance, als Verfassungsrichter noch die These vom unverständlichen und deshalb verfassungswidrigen Wahlrecht zur Diskussion zu stellen. Das Verfahren widerlegt jedenfalls einmal mehr die Karlsruher Rhetorik, das Gericht und die Richter hätten keine eigene Agenda und reagierten nur auf vorgefundene Klagen. Was die Richter mit den Klagen machen, unterliegt offensichtlich ganz den verfassungspolitischen Erwägungen der Richter.
Die Überhangmandate als Randaspekt
Darauf deutete auch der Verlauf der mündlichen Verhandlung hin. Um das konkrete Thema der drei unausgeglichenen Überhangmandate, die von der großen Koalition 2020 zugelassen worden waren, ging es erst am Ende des Verhandlungstages am Dienstagabend. Und der Punkt war auch schnell erledigt. Dafür brauchte man die mündliche Verhandlung sicher nicht.
Die Kläger hatten geltend gemacht, dass die drei unausgeglichenen Überhangmandate den Erfolgswert der Wählerstimmen gezielt zugunsten der großen Koalition verzerren. Doch damit kamen sie nicht weit: Schließlich hatte das BVerfG ja 2012 selbst erklärt, dass in der personalisierten Verhältniswahl bis zu 15 Überhangmandate unausgeglichen bleiben können.
Hilfsweise könnten die drei Mandate aber auch darüber rechtfertigt werden, dass sie signifikant zur Verkleinerung des Bundestags beitrugen. Weil die drei Mandate für die kleine CSU nicht ausgeglichen werden mussten, entfielen 51 Ausgleichsmandate für andere Fraktionen. Der aktuelle Bundestag hat daher "nur" 736 statt 787 Abgeordnete.
Die eigentlichen Themen: Verständlichkeit und Menschenwürde
Über Stunden ging es am Dienstag dagegen um die Frage, ob das aktuelle Bundestagswahlrecht noch verständlich genug ist. Berichterstatter Peter Müller schien dies deutlich zu verneinen.
Gegenstand der Prüfung und Exempel der Debatte war dabei § 6 Bundeswahlgesetz (BWG), eine Monster-Norm mit sieben Absätzen und 850 Wörtern. Der Paragraf regelt die Verteilung der Listenmandate auf die Bundesländer und auf die Parteilisten, die Anrechnung von Direktmandaten und den Ausgleich von Überhangmandaten. Nur eine Handvoll Wahlrechtsexpert:innen verstehen § 6 BWG. Zu ihnen gehört immerhin auch Bundeswahlleiterin Ruth Brand, wie sie am Dienstag in Karlsruhe versicherte.
Auf Letzteres könnte es ja eigentlich ankommen. Aber nicht für Peter Müller: Er will, dass möglichst alle Bürger verstehen, wie das Wahlrecht funktioniert. Die Verständlichkeit des Wahlgesetzes könne dabei ein Gebot des Demokratieprinzips sein, so Müller. Mit dieser These überraschte er die Verfahrensbeteiligten und ging noch weiter: Gerade der Menschenwürdegehalt des Demokratieprinzips erfordere allgemeinverständliche Wahlgesetze.
Wer ist Adressat des Gesetzes?
Die Gegenposition der Vertreter von Bundestag und Bundesregierung, aber auch der Sachverständigen, war vielstimmig und überzeugend: Entscheidend sei, dass die Bürger die Grundzüge des Wahlrechts verstehen, das heißt: wie sie eine Partei und ihren Wahlkreisbewerber wählen und so ihre Interessen gezielt in politisch Handeln umsetzen können. Die Details der Umrechnung von Stimmen in Mandate, inklusive der mathematischen Verfahren, das interessier die meisten Wähler sowieso nicht und das müsse sie auch nicht interessieren, solange alles fair zugeht und dies von Gerichten überprüft werden kann.
Tatsächlich besteht auch kein Handlungsdruck seitens der Bürger. Bei der vergangenen Bundestagswahl gab es zwar viele Wahlbeschwerden, aber nicht weil § 6 BWG zu kompliziert geraten wäre, sondern wegen des organisatorischen Chaos in Berlin. Die Bürger wissen durchaus, worauf es ankommt.
Verfassungsrichterin Sibylle Kessal-Wulf stellte dieses Gespür der Bürger:innen jedoch in Frage. "Vielleicht haben sie nur kapituliert und es aufgegeben, das Wahlrecht verstehen zu wollen. Wollen wir uns damit abfinden?" Auch andere Richter:innen äußerten Unbehagen. So schilderte Ulrich Maidowski, wie er sich beim Lesen von § 6 BWG immer wieder verhake."Dabei hatte ich eine Eins im Mathe-Abi", argumentierte der Richter. Christine Langenfeld plädierte dafür, sich am Verständnis der "normalen Bürger" zu orientieren.
Aber muss der Bürger im modernen Staat wirklich alle Gesetze selbst verstehen? Oder ist es in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft nicht normal, dass sich zumindest ein Teil der Gesetze nur an Spezialisten wendet und dass sich Bürger im Zweifel von ausgebildeten Juristen beraten lassen müssen?
Ist es nicht eine geradezu populistische Vorstellung, dass wichtige Gesetze stets für alle verständlich sein müssen, so wie ein Sachverständiger warnte. Doch Verfassungsrichterin Rhona Fetzer erwiderte nur, sie könne schon verstehen, warum Richter:innen und Anwält:innen ein Problem mit der Normenklarheit hätten - da sie dann ja nicht mehr gebraucht würden.
Karlsruhe muss keine Angst vor Populismus haben. Der Populismus sitzt schon auf der Richterbank.
Unüberschaubare Folgen
Wenn sich Richter Müllers Sichtweise durchsetzt, wäre jedenfalls nicht nur § 6 BWG verfassungswidrig, sondern weite Teile des Wahlrechts in Bund und Ländern, die sich bisher eben eher an Wahlbehörden richten als an die Wähler.
Doch auch bei vielen anderen Rechtsgebieten stellt sich die Frage nach der Verständlichkeit der Normen. Rechtsprofessor Heinrich Lang, der Vertreter der Bundesregierung, las in Karlsruhe genüßlich Vorschriften des Steuerrechts, etwa zum Ehegattensplitting, vor. "Und wer sich daran nicht hält, kann sogar wegen Steuerhinterziehung bestraft werden", fügte er hinzu.
Wenn die Verständlichkeit von Gesetzen zum verfassungsrechtlichen Gebot würde, wäre eine Klageflut zum BVerfG sicher. Und es gäbe eine Menge neuer dogmatischer Probleme: Denn wer soll denn der Maßstab für ein verständliches Gesetz sein? Der durchschnittlich intelligente und interessierte Bürger? Und was ist dann mit der Menschenwürde der unterdurchschnittlich Intelligenten? Haben diese keinen Anspruch auf Gesetze, die auch sie verstehen?
Selbst die klagenden Parteien gehen nicht so weit
Nicht einmal die Kläger schlugen sich so richtig auf die Seite der Verfassungsrichter. Ihre Rechtsvertreterin, die Juraprofessorin Sophie Schönberger, schwankte zwar, ob sie die Steilvorlage Müllers nutzen will. Letztlich kam es ihr aber gerade nicht auf die Verständlichkeit für die Bürger:innen an, sondern vielmehr auf die Bestimmtheit der Norm. Nach der Wesentlichkeitstheorie müsse der Gesetzgeber alle Fragen des Wahlrechts selbst regeln und dürfe nichts der Auslegung der Wahlleiterin überlassen, so Schönberger.
Schönberger kann sich sogar vorstellen, in Wahlgesetzen mathematische Formeln zu verwenden, um die Rechenoperationen möglichst eindeutig zu beschreiben. Spätestens da wurde klar, dass Bestimmtheit und Normenklarheit nicht das selbe sind, sondern dass oft sogar ein Spannungsverhältnis besteht. Je präziser ein administrativer Vorgang beschrieben wird, umso schwerer lesbar ist oft das Gesetz.
Deutlich wurde in der Verhandlung auch, dass die Forderung nach leicht zu verstehenden Wahlsystemen inhaltlich keineswegs neutral ist. Gerade ein kombiniertes System wie die personalisierte Verhältniswahl erfordert komplexe Regelungen. Dass ein reines Mehrheitswahlrecht nach englischem Muster oder eine ausschließliche Verhältniswahl mit Bundeslisten im Detail leichter nachzuvollziehbar wären, liegt auf der Hand. Umso fragwürdiger wäre es aber, wenn das BVerfG hier in seinem Unmut über komplexe Gesetze dem Gesetzgeber faktisch inhaltliche Vorgaben machen würde. Und es wäre geradzu paradox, wenn das Gericht sich auch noch auf das Demokratieprinzip berufen würde, um dem Bundestag komplexere Gestaltungsmöglichkeiten zu nehmen.
Lösungsmöglichkeiten
Eine praktische Lösungsmöglichkeit brachte Richter Maidowski ins Spiel: Das Bundeswahlgesetz wäre lesbarer, wenn es mit Legaldefinitionen arbeiten würde. Tatsächlich taucht zum Beispiel der zentrale Begriff der "Überhangmandate" im gesamten Gesetz nicht ein einziges Mal auf, sondern wird nur kompliziert umschrieben.
Das BVerfG könnte aber auch den eigenen Beitrag zur Komplexität des Wahlrechts hinterfragen. Das Hin und Her des Gerichts bei den Überhangmandaten und die Suche nach ominösen negativen Stimmgewichten haben den Gesetzgeber übervorsichtig werden lassen. Der Versuch, gegenläufige Interessen im Wahlrecht auszugleichen, ist oft schon schwierig genug. Wenn dabei aber immer noch die berechtigte Furcht vor einer Karlsruher Intervention mitschwingen muss, dann macht dies das Wahlgesetz im Zweifel eher noch komplexer.
Das BVerfG sollte deshalb klarstellen, dass negative Stimmgewichte, die nur eine Handvoll spezialisierter Mathematiker:innen erkennen können, für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Wahlrechts völlig irrelevant sind. Hier würde es wirklich Sinn machen, mehr auf den Horizont eines normalen Wahlberechtigten abzustellen.
Man kann nur hoffen, dass der Zweite Senat die gestrige Verhandlung zum Wahlrecht als eine Art wissenschaftliches Abschiedskolloquium für Richter Müller versteht, bei dem der Unmut über schwer lesbare Gesetze mal so richtig ausgesprochen werden konnte - ohne daraus nun eine neue Dogmatik erzwungener Simplizität zu entwickeln.
Karlsruhe hadert mit Komplexitätsfragen: . In: Legal Tribune Online, 19.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51576 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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