Auch wenn der Zweite Senat im Ergebnis nur geringfügig von dem Bundestagsbeschluss abwich, kritisierte er die schludrige Arbeit des Wahlprüfungsausschusses doch deutlich. Größere Sorgfalt hätte Zeit gespart und Vertrauen gestärkt.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Dienstagmorgen muss der Berliner Landeswahlleiter Stephan Bröchler bis zum 11. Februar eine Neuwahl in 455 Berliner Wahlbezirken organisieren. Es hätte aber deutlich schlimmer kommen können: Vor der Entscheidung stand sogar eine vollständige Neuwahl in Berlin im Raum.
Dass es nicht schlimmer kam, ist eine gute Nachricht für Berliner. Denn das BVerfG hat sorgfältig geprüft und sagt nun: Die Fehler waren nur in einem Fünftel der Wahlbezirke so gravierend, dass sie die Legitimation der Wahl beeinträchtigen. Ein Fünftel ist nicht wenig – für die etlichen Fehler in der Vorbereitung wird die Wahlleitung schließlich auch zu Recht kritisiert. Aber besser, als wenn das Gericht festgestellt hätte, dass die Wahl in weiten Teilen des Berliner Wahlgebiets fehlerbehaftet war.
"Schnell, schnell" kostet Zeit
Ärgerlich ist allerdings die Zeit, die dieses Verfahren gekostet hat. Die Hauptschuld daran trägt aber nicht das BVerfG: Die Richter mussten sich in diesem Mammutverfahren die Niederschriften aus allen 2.256 Urnenwahlbezirken und den damit verbundenen Briefwahlbezirken beschaffen und durchsehen. "Die Richter" – das meint vor allem das Dezernat von Berichterstatter Peter Müller. Die Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses hätten deutlich mehr Personal mobilisieren können, machten sich aber nicht die Mühe, die Niederschriften anzufordern. Der Ausschuss hat sich allein auf die Auswertung der behandelten Wahleinsprüche und das Vorbringen im Verfahren vor dem Wahlprüfungsausschuss beschränkt.
Bundestagsvertreter hatten im Verfahren argumentiert, die Niederschriften seien – soweit vereinzelt offenbar eingesehen – häufig unbrauchbar. Insbesondere seien besondere Wahlfehler wie lange Wartezeiten überwiegend nicht protokolliert worden. Diese doch etwas faul klingende Argumentation hat der Senat nicht akzeptiert – und sie überzeugt auch nicht: Selbst wenn manche Fehler in den Niederschriften nicht aufgeführt werden, sind die Protokolle damit doch nicht insgesamt unbrauchbar. Noch grundlegender: Wie kann der Ausschuss wissen, was in den Niederschriften steht, wenn er sie sich nicht in großer Zahl angesehen und systematisch ausgewertet hat?
Der Bundestag wollte Zeit sparen. Das ist nachvollziehbar, ging aber nach hinten los. Denn letztlich hat diese Schludrigkeit Zeit gekostet. Wertvolle Zeit, wenn es darum geht, eine teilweise irregulär zustande gekommene Sitzverteilung im Parlament zu korrigieren. Denn bei einer gründlicheren Vorarbeit des Wahlprüfungsausschusses hätte sich das Müller-Dezernat eigene Tatsachenfeststellungen dann gespart, das stellt das Gericht in Randnummer 130 klar. Dass eine doppelte Tatsachenfeststellung länger dauert als eine einmalige, liegt auf der Hand.
Schludrigkeit beschädigt Vertrauen in den Bundestag doppelt
Nun findet die Neuwahl in Berlin erst anderthalb Jahre vor der nächsten regulären Bundestagswahl statt. Und auch dies kreiert ein Legitimitätsproblem: Dass die Wahlfehler passiert sind, beeinträchtigt das Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der Wahl und damit auch die Legitimation des Bundestages – wenn auch nur in einem geringfügigen Umfang. Dass aber dieser Missstand am Ende über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren nicht korrigiert worden ist, beschädigt das Vertrauen in den Bundestag als demokratisch gewähltes Organ zusätzlich.
Hinzu kommt das Signal, das die schludrige Arbeit des Wahlprüfungsausschusses unabhängig von dem Zeitverlust sendet. Der mehrheitlich mit Ampel-Vertretern besetzte Wahlprüfungsausschuss hat weder alle verfügbaren Niederschriften auf Wahlfehler durchgesehen noch hat er sich dabei – worauf das BVerfG hinweist – von der Landeswahlleitung helfen lassen. Dass das Bundestagsplenum dies – ebenfalls mit dem Ampel-Stimmen – gebilligt hat, ist eine gefährliche Botschaft an die demokratische Öffentlichkeit. So kann eben der Eindruck entstehen, die Regierung habe ihre Mandate retten wollen.
Das Problem ist schon in dem zweigliedrigen Wahlprüfungsverfahren des Art. 41 Grundgesetz selbst angelegt. Denn die Gefahr, dass die Parlamentsmehrheit ihre eigene Wahl zu retten versucht, ist systemimmanent. Gerade deshalb täten die von der Regierung getragenen Mehrheiten in Wahlprüfungsausschuss und Parlament gut daran, die Wahl besonders sorgfältig überprüfen zu lassen, um nicht den Anschein opportunistischen Handelns zu erwecken. Der Vorwurf muss gar nicht zutreffen – schon der Eindruck von Klüngelei kann ausreichen, um antidemokratische Strömungen zu stärken.
Spätes BVerfG-Urteil zur Wahl in Berlin: . In: Legal Tribune Online, 19.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53460 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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