2015 sprach die ganze Rechtswelt über Legal Tech. 2021 wurde noch kein Anwalt durch eine KI ersetzt und erste Tech-Unternehmen sind pleite. Doch die Evolution geht weiter, meinen ELTA-Board-Mitglieder Holger Zscheyge und Tobias Heining.
LTO hat 2015 eine erste Sonderausgabe zum Thema Legal Tech herausgegeben. Im September 2016 hat sich ELTA gegründet, die European Legal Tech Association, deren ehemaliger bzw. amtierender Präsident Sie sind. Welche Vorstellung hatten Sie damals von dem sich neu erschließenden Markt?
Heining: Alle starrten damals nur über den Atlantik, obwohl auch in Europa viel passierte, nur dass hierzulande häufig niemand wusste, was next door los ist. ELTA wollte die Legal-Tech-Lagerfeuer in den Ländern zusammenbringen.
Waren das wirklich Lager- oder vielleicht doch nur Strohfeuer? Einige sog. Legal-Tech-Unternehmen gibt es bereits nicht mehr, die Legal-Tech-Beauftragten in den großen Wirtschaftskanzleien scheinen sich anderen Themen zuzuwenden. War das alles nur ein Hype?
Zscheyge: Das würde ich nicht so sagen. Unternehmen gehen eben pleite, das ist Teil des unternehmerischen Lebens. Tatsächlich sprach 2014/2015 plötzlich jeder über Legal Tech, doch neu ist daran eigentlich nichts. Die Anwaltssoftware Annotext kam 1978 auf den Markt – da gab es bei den meisten Anwälten noch nicht mal PCs. Vor einigen Jahren schienen viele Menschen dann aber zu glauben, dass wir uns jetzt einfach neue Produkte kaufen und durch Magie unsere Probleme gelöst sind – aber wenn die Finanzbuchhaltung nicht funktioniert, ändert daran auch eine Software nichts.
Heining: Es ist und war eine der gravierenden Fehleinschätzungen in Unternehmen und Kanzleien, dass man es durch Technologie vermeiden könne, sich um strukturelle Defizite zu kümmern. Und dann kam die Ernüchterung, dass die beste Technologie nichts bringt, wenn man Prozesse nicht glattgezogen und sich nicht gefragt hat, wohin man eigentlich will. Die Leute, die das begriffen haben, arbeiten sehr wohl kontinuierlich am Thema weiter, tragen das aber nicht so monstranzmäßig vor sich her.
Es gibt jetzt ein gemeinsames Verständnis: Es gibt Tools, mit denen man arbeitet, um anwaltliche Leistungen auf andere Weise zu erbringen. Das ist schlicht notwendig, weil der Markt es erfordert und weil die Arbeitsbelastung so enorm zunimmt, dass man sie allein mit Menschen gar nicht mehr erledigen kann.
"Wir erleben den Tag nicht, an dem KI eine komplexe Rechtsberatung übernimmt"
Was man bislang sieht, ist von der viel beschworenen Revolution allerdings meilenweit entfernt. Auch smart contracts spielen noch keine Rolle. Was kann Legal Tech jetzt eigentlich technisch leisten?
Zscheyge: Die KI war eine Zeit lang ein Verkaufsargument, wie auch die Blockchain. Auch smart contracts sind aus meiner Sicht im Moment ein nettes Thema, aber solange die rechtliche Situation unklar ist, wird es hierzulande in dem Bereich wenig geben. 99,9 Prozent der Menschen wissen gar nicht, was eine Künstliche Intelligenz überhaupt ist, was man braucht und wie es funktioniert; dabei hat jeder "Terminator" und "Blade Runner" gesehen. Der Film wurde 1982 gedreht – doch von der dort entworfenen Realität sind wir weit entfernt.
Die Erwartung, dass KI alles kann und wir in fünf Jahren keine Anwälte mehr brauchen, ist völlig verfehlt. Wir alle werden nicht den Tag erleben, an dem KI eine komplexe Rechtsberatung übernimmt. Natürlich wird ein Tool eine GmbH-Satzung erstellen können, wenn bloß Name und Stammkapital geändert werden sollen. Aber: Der Hype hindert uns daran, Technologie dort einzusetzen, wo sie anwendbar ist, nämlich bei repetitiven Aufgaben, die ohnehin kein Anwalt machen will.
Sie sprechen es an: In Deutschland haben die sog. Legal-Tech-Unternehmen zunehmend Probleme mit Teilen der Anwaltschaft, die ihren Markt bedroht sehen.
Zscheyge: Da werden Kämpfe gekämpft, die völlig überflüssig sind. Legal Tech wird verkauft über Angst und Druck. Stellen Sie sich vor, die Erfindung der elektrischen Waschmaschine wäre begleitet worden von einer Kampagne: Dass elektrischer Strom tödlich sein kann, ab jetzt jeder wissen müsse, was Ampère bedeutet und die Ehefrauen nun auch abdanken könnten - dann würden wir immer noch mit der Hand waschen. Fakt ist: Kunden wollen den Preis für anwaltliche Dienstleistung nicht mehr bezahlen. Dafür muss man Lösungen finden, genau wie in anderen Industrien wie dem Transport- oder Musiksektor oder der Telekommunikation. Telefonanrufe beispielsweise bringen den TK-Unternehmen auch nichts mehr ein.
Rechnen Sie mit einem so disruptiven Wandel auch für die Rechtsbranche?
Zscheyge: Nein, denn Telekommunikation ist ja zu 99 Prozent technisch gestützt, das ist in der Rechtsberatung anders. Aber Anwälte können sich, wenn Technologie wiederkehrende Tätigkeiten übernimmt, auf höherwertige Leistungen konzentrieren, die auch mehr Spaß machen. Worauf basiert denn anwaltliche Dienstleistung? Menschen streiten – das werden sie auch weiterhin tun.
Heining: Der Markt ist ein ganz anderer, so disruptiv kann es daher nicht werden, auch weil die Gesprächspartner auf beiden Seiten komplett anders gestrickt sind als zum Beispiel im Telekommunikationsmarkt, wo Unternehmen mit Unternehmen sprechen, die einer Unternehmenslogik folgen. Das ist im Rechtsmarkt nicht immer der Fall: Anwaltskanzleien sind strukturell andere Gebilde und auch in den Rechtsabteilungen, also auf Seiten der Mandantinnen und Mandanten, ist der Modus operandi ein anderer als in anderen Branchen.
"Mit Software machen Kanzleien Beratungsleistung skalierbar"
Und doch sind Anwaltskanzleien jetzt Softwarelizenzgeber für ihre Mandantinnen – das wäre noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Und was bedeutet das für kleinere Einheiten, die nicht selbst Tools programmieren und zur Verfügung stellen können?
Heining: Das sind ja zwei unterschiedliche Geschäftsmodelle, von der freiberuflichen Tätigkeit, dem Verkauf von Stunden, hin zum gewerblichen Geschäftsmodell. Kanzleien sind für diese Art von Modell aber sehr gut geeignet. Viele Anbieter von Legal-Tech-Modellen verfügen nicht über die anwaltliche Expertise und in der Regel auch nicht über ausreichend Daten, Dokumentationen oder Informationen, um eine Software zu bauen, die ein rechtliches Problem adressiert oder lösen kann. Eine Kanzlei hat all das, verfügt aber nicht über das strukturelle und prozessuale Wissen. Die Großen, die beides haben, sind prädestiniert dafür, solche Legal-Tech-Produkte zu entwickeln.
Zscheyge: Die Kanzleien lösen mit Software, die Beratungsleistung in ein Produkt überführt, das Hauptproblem der Skalierbarkeit von Beratungsleistung. Ich würde auch nicht sagen, dass nur große Kanzleien das realisieren können. Zwar liegen derzeit noch viele Lösungen in einem Preisbereich, den sich eine kleine oder mittlere Kanzlei noch nicht leisten kann. Das wird sich aber ändern und es sind auch noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die Standardsoftware bietet. Es ist viel intern automatisierbar, ohne einen Cent mehr auszugeben.
Wie wird die Rechtswelt in 15 Jahren also aussehen?
Zscheyge: Gerade Corona hat einiges in Bewegung gesetzt. Online-Gerichtsverhandlungen, Beratungen über Teams oder Zoom und alle Unterlagen liegen jetzt in der Cloud - das Verständnis ist jetzt da und damit werden sich auch einige Prozesse beschleunigen. In fünf oder zehn Jahren werden wir viel weiter sein – denn Juristen sind genauso technologieaffin wie im Schnitt jede andere Berufsgruppe, ich glaube nicht an diese Mär, dass das anders sei. Auch dem Anwalt zuckt das Auge, wenn man ihm sein iPhone wegnimmt.
Heining: Das ist ein wichtiger Punkt: Natürlich sind Anwälte keineswegs techavers. Große Kanzleien investieren viel Geld in ihre Technologisierung. Die Zukunft fällt nicht in 20 Jahren vom Himmel, sie ist das, was wir heute daraus machen. Die Marktbewegung wird passieren wie anderswo auch, nämlich wenn die großen Player anfangen, sich in eine Richtung zu bewegen. Dann schmälert sich der Zielkorridor und alle marschieren in dieselbe Richtung. Die Big Four haben sich jetzt in etwa entschieden, wohin es gehen wird - und bewegen sich nun, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, darauf hin.
Nämlich wohin?
Heining: Es gibt eine Verschiebung im Ressourceneinsatz, weg von rein anwaltlichen Beratern hin zu anderen Expertinnen und Experten. Außerdem gibt es den Shift hin zu mehr Einsatz von Technologie, um im Commodity-Bereich standardisierte Tech-Lösungen anzubieten, im mittleren Bereich die Effizienz zu steigern und auch im Rocket-Science-Bereich Software einzusetzen, um die intellektuelle Anwaltsleistung stärker zu boosten.
"Intellektuellen Input für einen besseren Rechtsmarkt liefern"
Welche Rolle kann und will die ELTA künftig bei dieser Entwicklung spielen? In Deutschland hat sich zuletzt der auf nationaler Ebene agierende Legal Tech Verband gegründet, während man, mit Verlaub, von ELTA im vergangenen Jahr eher wenig gehört hat.
Zscheyge: Wir haben in den ersten Jahren vor allem die Organisation aufgebaut. ELTA hat mittlerweile 29 sog. Ambassadors in verschiedenen Ländern, eine einzigartige paneuropäische Struktur in diesem Bereich. Jetzt kommen wir mit Initiativen raus, u.a. der ELTA Academy, in der wir uns mit Inhalten beschäftigen.
Unser Ziel ist es, eine Community aufzubauen von Legal-Tech-Interessierten in Europa aus Kanzleien, Legal Departments sowie Software-Anbietern und auch im Bereich staatlicher Strukturen - damit nicht alle in jedem Land allein denken müssen. Wenn wir die Anwender von Legal Tech davon überzeugen können, sich dem Thema stärker zu widmen, kommen die anderen Stakeholder dazu, also die Studierenden, der Staat etc. Auch im Bereich Research können wir dann aktiv werden, bis hin zu Positionspapieren und ähnlichem.
Will ELTA also Lobbyarbeit für Legal Tech machen?
Zscheyge: Wir wollen kein Lobbyverband in dem Sinne sein, Einzelinteressen durchzusetzen. Wir wollen dabei helfen, einen Markt zu schaffen, in dem Anwender und Herstellerinnen von Lösungen zusammenarbeiten und so den Rechtsberatungsmarkt insgesamt verbessern, transparenter machen und einen einfacheren Zugang zum Recht schaffen. Es geht nicht darum, Technologien um der Technologie willen einzusetzen. Aber Politik braucht intellektuellen Input, um Entscheidungen zu treffen. Diesen wollen wir liefern.
Heining: Wir sind auf einem guten Weg. Wir haben mit ELTA eine Organisation geschaffen, die Gleichgesinnte grenzübergreifend unterstützt bei den Herausforderungen der Digitalisierung des Rechtsmarkts, denen wir uns ja alle stellen müssen. Dafür reicht nicht bloß ein offenes Ohr, sondern es braucht Leute mit Hintergründen und Erfahrung, die sich mit ihren Ideen einbringen, und die ELTA zusammenbringt.
Holger Zscheyge ist Präsident der ELTA sowie Gründer und Managing Director von Infotropic Media, einem Fachverlag für juristische und Business-Informationen sowie Events in Russland. Er ist Organisator der ersten Legaltech-Konferenz in Russland – Moscow Legal Tech – und einiger Events zu Themen an der Schnittstelle von Recht und Technologien, wie "Legal AI" und "Cybersecurity for Lawyers".
Tobias Heining ist Director Business, Clients & Strategy bei Osborne Clark. Er ist Gründungsmitglied und Teil des Boards von ELTA, deren Präsident er von 2018 bis 2020 war. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der digitalen Transformation des Rechtsmarkts und der Produktifizierung von Anwaltsleistungen sowie den damit verbundenen Auswirkungen auf Strategien und Geschäftsmodelle von Anwaltskanzleien.
Legal Tech nach dem Hype: . In: Legal Tribune Online, 09.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44451 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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