Startschuss für die neue Forschungsstelle Legal Tech an der Berliner Humboldt-Universität: Hans-Peter Schwintowski leitet dort die erste rechtswissenschaftliche Forschungseinrichtung für diesen Bereich.
LTO: Herr Professor Schwintowski, mit der rechtswissenschaftlichen Forschung im Bereich Legal Tech betreten Sie in ihrem Institut akademisches Neuland. Womit werden Sie sich beschäftigen?
Schwintowski: Beim Thema Legal Tech stehen wir im rechtswissenschaftlichen Forschungsbereich noch völlig am Anfang, Juristen haben hier bisher die Entwicklungen vor allem beobachtet. Es gibt noch keine Legal-Tech-Rechtswissenschaft, sondern nur Reaktionen der Rechtswissenschaft auf bestimmte einzelne Problemfragen. In unserer neuen Forschungseinrichtung werden wir in den kommenden drei Jahren die Grundfragen zum Thema Legal Tech herausfiltern. Eine davon lautet: Wie gut ist eigentlich unsere Justiz?
LTO: Haben Sie Zweifel an der Qualität der Justiz ?
Schwintowski: Nun, wir sind ins Grübeln gekommen, nachdem ein Kollege herausgefunden hat, dass die Hälfte aller Hartz-IV-Bescheide falsch ist. Professor Breidenbach hat dies im Wege eines digitalen Knowledge Tools festgestellt, einer Art Prüfprogramm, das er an die Bescheide angelegt hatte. Ich stelle mir ein solches digitales, mit Wissen gespeistes Prüfprogramm für die ganze Bandbreite von Gerichtsentscheidungen vor.
LTO: Sie meinen, eines Tages könnten Gerichtsurteile flächendeckend mit digitalen Prüfschablonen auf Fehler getestet werden?
Schwintowski: Genau. Hinter dem Knowledge Tool – also einem mit einer Datenbank verbundenen Programm – steht die Annahme, dass eine Falllösung standardisiert immer gleich abläuft: Bestimmte Regeln müssen im Rechtssystem aufgerufen werden. Die Frage lautet dann: Ist das auch passiert? In den besagten Hartz-IV-Fällen hat sich herausgestellt, dass 50 Prozent der Entscheidungen nicht deshalb falsch waren, weil ein Richter anderer Meinung war, sondern, weil das Rechtssystem falsch angewendet wurde, etwa weil bestimmte Normen nicht beachtet wurden.
"Staat sollte eine Digitalagentur schaffen"
LTO: Und wenn Sie dann herausfinden, dass die Justiz reihenweise fehlerhafte Urteile fällt?
Schwintowski: Dann darf das nicht hingenommen werden. Der Staat muss dann seine Richter stärken. Und zwar, indem er ihnen Legal-Tech-Systeme für die Rechtsfindung zur Verfügung stellt. Das ist übrigens auch seine Pflicht. Es zählt zu seinen Aufgaben für effektiven Rechtsschutz zu sorgen. So steht es in Art.19 Grundgesetz und Art 47. der EU-Grundrechtecharta.
LTO: Sehen Sie beim Thema Legal Tech noch an anderer Stelle den Staat oder den Gesetzgeber in der Pflicht?
Schwintowski: Wenn wir zum Ergebnis kommen, dass Legal Tech nicht nur Informatik, sondern auch Recht ist, wird sich zwangsläufig Handlungsbedarf ergeben. Ich bin jetzt schon der Meinung, dass der Staat, um den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht zu werden, eine Digitalagentur schaffen sollte. Das wäre eine Art BaFin, wo Legal-Tech-Anbieter ihre Produkte zunächst einmal zertifizieren müssten. Vielleicht werden wir auch eine Legal-Tech-Ordnung oder spezielles Legal-Tech-Recht brauchen. Zum Beispiel für die Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die von Legal-Tech-Betreibern genutzt werden. Wir können ja jetzt schon beobachten, wie Amazon oder Google es immer wieder schaffen, sich der Haftung zu entziehen.
LTO: Können sich Anwälte eigentlich auf eine Welt mit Anwalts-Robotern und digitalen Prüfprogrammen "freuen"? Auf einer Legal-Tech-Konferenz wurde für Teile der Anwaltschaft nämlich ein eher düsteres Szenario gezeichnet.
Schwintowski: Die Möglichkeiten, über die wir sprechen, werden erst in zehn bis 15 Jahren halbwegs vorhanden sein. Dann aber sehe ich vor allem die Chancen: Legal Tech wird das Gesamtvertrauen in den Rechtsstaat und in die Rechtsanwender stärken. Mit der passenden unterstützenden Software ausgerüstet werden Anwälte sich künftig mehr Zeit für die wirklich komplizierten Fälle nehmen können. Und bei den standardisierten Verfahren werden sie mittels Legal Tech weniger Fehler machen und viel mehr Fälle in kürzerer Zeit abarbeiten können. Außerdem werden sie Mandanten hinzugewinnen, weil die Menschen mit ihren Fragen schon deshalb zu den Anwälten gehen werden, weil dies schnell und kostengünstig möglich sein wird.
"Gigantische Vorteile für die Gerichte"
LTO: Und was macht Legal Tech mit den Gerichten?
Schwintowski: Für die Gerichte werden die Vorteile gigantisch sein: Das Zutrauen und das Vertrauen in ihre Arbeit wird extrem gestärkt werden. Sie werden mit der richtigen Software künftig Fälle in einer Geschwindigkeit bearbeiten können, wie man sich das heute noch gar nicht vorstellen kann. Schreibabteilungen werden wir in den Gerichten bald weitgehend nicht mehr gebraucht, wenn Computer die Aufgaben übernehmen.
LTO: Täuscht der Eindruck, dass der Rechtsbereich beim Thema Digitalisierung noch hinterherhinkt?
Schwintowski: Nein. Anders als zum Beispiel in der Versicherungswirtschaft oder auch in der Automobilwirtschaft, wo die Standardisierung per Digitalisierung längst zum Alltagsgeschäft gehört. Dass im Rechtssystem bei diesem Thema noch so großer Nachholbedarf besteht, hat auch etwas damit zu tun, dass wir keine unternehmerische Konzeption für Rechtssuche und Rechtsdurchsetzung haben.
Wenn ein Unternehmer Gewinn machen will, muss er die Kosten senken. Ein vergleichbarer Gedanke ist jedoch nicht Gegenstand unseres Staatsrechts. Effizienz als Rechtsprinzip ist hier längst noch nicht verankert. Wir sind weit davon entfernt, dass der Staat seine Aufgaben darauf hin überprüft, ob Abläufe vereinfacht, effizienter und für alle Menschen kostengünstiger werden könnten, sodass Steuern gesenkt oder für andere Aufgaben verwendet werden könnten.
LTO: Die neue Forschungsstelle wird durch das Unternehmen Coduka unterstützt. Dieses betreibt Legal-Tech-Anwendungen im Endkundenbereich, zum Beispiel geblitzt.de. Auch Sie persönlich sind an Coduka beteiligt. Ist eine gemeinnützige und unabhängige Forschung zu Legal Tech damit überhaupt gewährleistet?
Schwintowski: Zweifellos. Die Unabhängigkeit und steuerrechtliche Gemeinnützigkeit der Forschungsstelle haben wir in einem Kooperationsvertrag mit Coduka schriftlich fixiert: Das Unternehmen darf weder Einfluss auf Themenstellung, den Ablauf der Forschung und auch nicht auf die Ergebnisse nehmen. Die Zuwendung von Coduka dient ausnahmslos der Förderung von freier wissenschaftlicher Forschung.
Aber richtig ist: Ich habe mich vor einigen Jahren für eine zweiprozentige Beteiligung an diesem Unternehmen entschlossen, weil ich das standardisierte Modell von geblitzt.de hoch spannend finde. In den letzten Jahren habe ich mich dann zunehmend mit rechtswissenschaftlichen Fragestellungen aus dem Legal Tech Bereich befasst – völlig unabhängig von Coduka.
Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski hat eine Professur an der Berliner Humboldt-Universität am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Europarecht. Am Institut für Energie- und Wettbewerbsrecht in der kommunalen Wirtschaft (EweRK) leitet er dort auch die Forschungsstelle Legal Tech.
Hasso Suliak, Interview: erste Forschungsstelle für Legal Tech: . In: Legal Tribune Online, 05.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27335 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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