Ein Mann urinierte nachts in die Ostsee, wurde dabei von Ordnungsbeamten erwischt und sollte 60 Euro Geldbuße zahlen. Muss er aber nicht, so das AG Lübeck, das in seiner Entscheidungsbegründung zuweilen poetisch wird.
Die Weltlage ist sehr bedrückend, Nachrichten berichten über die Schrecken des Krieges und menschlichen Leids. Gerade deswegen ist zwischendurch eine kurze Ablenkung sehr willkommen. Diese kommt nun – wie so oft bei unterhaltsamen Krimis – aus dem hohen Norden.
Es ist eine laue Sommernacht am Meer. Freund:innen genießen in geselliger Runde in der Lübecker Bucht die salzige Ostseeluft, als einer von ihnen sich ein Stück – nach gerichtlicher Feststellung genau zwanzig Meter – von der Gruppe entfernt, um ins Meer zu urinieren. Er steht am "Spülsaum", also da, wo das Wasser Ablagerungen an Land spült, und blickt während des Urinierens in die opaken Weiten, wo man bei Tageslicht den Horizont sehen kann. Im "Schutz der Dunkelheit" ist er "allenfalls schemenhaft für Dritte sichtbar", wie das Amtsgericht (AG) Lübeck es später in sein Urteil schreiben wird (Urt. v. 29.06.2023, Az. 83a OWi 739 Js 4140/23 jug.).
Vor Gericht gelandet ist der Fall nicht etwa, weil sich jemand aus dem Freundeskreis oder zufällig vorbeikommende Passanten beschwert hätten. Nein, erst der Taschenlampen-Schein von drei patrouillierenden Mitarbeitenden des Ordnungsamts reißt den überraschten Wildpinkler aus dem Schutz der Nacht. Indiskret sind die Ordnungsbeamt:innen dabei keinesfalls: Sie lassen "der Angelegenheit ihren Lauf", warten, bis der Betroffene vollständig bekleidet, also "nach bürgerlichen Maßstäben wieder ansprechbar" ist, wie das Gericht zum Sachverhalt in das Urteil schreibt.
Die Beamt:innen lassen ansonsten keine Gnade walten: 60 Euro Bußgeld für eine Ordnungswidrigkeit nach § 118 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) soll der Mann bezahlen. Die Norm verbietet die "Belästigung der Allgemeinheit" durch eine "grob ungehörige Handlung".
Doch ist der – Achtung, genierliches Jura-Deutsch – "Vorgang des Wasserlassens" überhaupt eine "grob ungehörige Handlung", die die Allgemeinheit "belästigen" könnte? Ein deutlicher "Widerspruch zur Gemeinschaftsordnung" also? Oder gar ein "Verstoß gegen anerkannte Regeln von Sitte, Anstand und Ordnung"?
Das AG Lübeck sieht in seiner Entscheidung zwei mögliche Anknüpfungspunkte für einen Verstoß gegen § 118 OWiG: Erstens eine Verletzung des Schamgefühls der Öffentlichkeit, zweitens eine vom Urinieren möglicherweise ausgehende Verschmutzung oder entsprechende Gerüche. Im Ergebnis lässt das Gericht aber beide Anknüpfungspunkte nicht für die Erfüllung des Tatbestandes ausreichen.
"Geselliges Wasserlassen" und Küsten-Topographie
Was eine mögliche Verletzung des Schamgefühls der Öffentlichkeit anbelangt, führt das AG aus, dass in öffentlichen Toiletten, gerade solchen für Männer, an "durchgehenden Pissoirs" oder "Rinnen" oftmals das "gesellige Wasserlassen" stattfinde, sodass der Vorgang des Wasserlassens in der Gesellschaft eher nicht schambehaftet sei. Das gelte auch für das Urinieren unter freiem Himmel wie in diesem Fall, selbst wenn hier das Schamgefühl bei allen Geschlechtern verletzt werden könnte.
Das AG nennt dafür – vielleicht in melancholischer Erinnerung an den ausklingenden Sommer – weitere Aktivitäten im Freien, bei denen öffentliches Urinieren zumindest nicht unüblich sei, etwa bei längeren Wanderungen. Naturgemäß zeigt das AG aus der Hansestadt dabei besonderes Verständnis für die örtlichen geographischen Gegebenheiten am Meer: "Eine gewisse Üblichkeit und Duldung ist hierfür etwa bei Wanderungen benennbar, bei Arbeiten in Feld und Flur, bei Jägern und Pilzesammlern, Radsportlern und Radtourlern, Badenden an Seen und Flüssen und bei sonstigen naturnahen Beschäftigungen. Dass es am Spülsaum der Ostsee landschaftlich anders als in Bergen und an Waldrändern keine weiteren Möglichkeiten zum landschaftlichen Rückzug gegeben hat außer der Abkehr, kann dem Betroffenen dabei nicht zum Nachteil gereichen. So ist es halt an der Küste."
Eine "ungehörige Handlung" möchte das AG auch nicht an etwaigen Verunreinigungen oder Geruchsbelästigungen festmachen: "Die Ostsee enthält eine Wassermenge von 21.631 Kubikkilometern Brackwasser. Der Verdünnungsgrad wäre selbst im Wiederholungs- oder Nachahmungsfall so hoch, dass eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung ausgeschlossen ist." Im Studium würde diese Subsumtion vermutlich als sehr lebensnahe Sachverhaltsauslegung gelobt.
Von Hasen, Rehen und Robben
Schließlich lässt es sich das AG Lübeck in seiner Entscheidung nicht nehmen, sein Urteil mit einer lyrisch anmutenden Kurzabhandlung zum Verfassungs- und Naturrecht ausklingen zu lassen: "Nachdem als Anknüpfungspunkt einer Belästigung der Allgemeinheit das Schamgefühl, die Verunreinigung durch Rückstände oder die Belästigung durch Gerüche ausgeschlossen werden kann, ist das Verhalten des Betroffenen eine nach der allgemeinen Handlungsfreiheit des Artikel 2 Absatz 1 GG geschützte und letztendlich wohl auch naturrechtlich verankerte menschliche Willensbetätigung. Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee."
Mit anderen Worten: Lasst den Mann am Wasser Wasser lassen.
AG Lübeck spricht legendäres Urteil zum Wildpinkeln am Meer: . In: Legal Tribune Online, 13.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52915 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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