Fast vier Jahrzehnte nach ihrer Verabschiedung wird die EU-Produkthaftungsrichtlinie vollständig überarbeitet. Für Hersteller, Importeure und andere Wirtschaftsakteure bringt die Neugestaltung einen Paradigmenwechsel.
Neben einer Modernisierung des Produktbegriffs zur Aufnahme von Software und digitalen Entwicklungsdateien und -unterlagen sieht die reformierte EU-Produkthaftungsrichtlinie auch eine Ausweitung des Kreises der Haftungsadressaten vor. Damit will der Gesetzgeber sicherstellen, dass ein Geschädigter auch dann einen Haftungsadressaten innerhalb der EU zur Verantwortung ziehen kann, wenn der Hersteller im – zivilrechtlich praktisch unerreichbaren - Ausland sitzt.
Neben diesen notwendigen Modernisierungen tritt aber auch ein Katalog an neuen, widerlegbaren Vermutungen in Kraft, die faktisch zu einer Art Beweislastumkehr führen. Damit ändern sich die juristischen Vorzeichen für Produkthaftungsstreitigkeiten maßgeblich.
Ausweitung der Haftung
Die größten Veränderungen im Rahmen des Anwendungsbereichs betreffen die Aufnahme von Software und digitalen Entwicklungsdateien bzw. -unterlagen, wie beispielsweise CAD-Dateien, in die Definition des Produktbegriffs. Ausnahmen gelten lediglich für sogenannte open source-Software, die nicht im Rahmen einer kommerziellen Tätigkeit entwickelt und angeboten wird. Dadurch wird Software erstmals sowohl allein als auch als Teil eines anderen Produkts vom Produktbegriff erfasst, sodass Hersteller von Software sowohl als Hersteller von Teilkomponenten als auch als Gesamthersteller haften. Eine vertragliche Beziehung zwischen dem Softwarehersteller und dem Anspruchsteller ist nicht erforderlich.
Während Absprachen zur Haftungsverteilung im Innenverhältnis der (Teil-) Hersteller untereinander zwar möglich sind, führen diese nicht zu einer Haftungsbegrenzung gegenüber dem Geschädigten. In der Praxis ist die Ausweitung der Haftungsadressaten von großer Bedeutung: Kamen bei einem Problem mit dem Bremssystem eines Kraftfahrzeugs bislang lediglich der Automobilhersteller und der Hersteller des Bremssystems als Haftungsadressaten in Betracht, fällt nun z.B. auch der Entwickler der für die Abstandskontrolle genutzten Software unter den Anwendungsbereich des Produkthaftungsrechts.
Eine weitere Änderung betrifft die Ausweitung des Adressatenkreises auf sogenannte Fulfillment-Dienstleister und Vertreiber sowie Online-Plattformen in Fällen, in denen der Hersteller und dessen Importeur oder Bevollmächtigter ihren Sitz außerhalb der EU haben. Wer also Waren eines Herstellers aus einem Drittstaat über eine Online-Plattform anbietet oder vertreibt, kann unter den genannten Voraussetzungen für Produktfehler haften. Das entspricht dem schon seit einigen Jahren von der EU verfolgten Ansatz einer gestaffelten, aber auch möglichst lückenlosen Erfassung sämtlicher Wirtschaftsakteure entlang der Herstellungs- und Lieferkette. Das hat den Vorteil, dass inländische Vertreiber und Anbieter die Einhaltung europäischer Vorschriften und Standards auch gegenüber Herstellern aus Drittstaaten vertraglich durchsetzen können. Von Nachteil dürfte demgegenüber sein, dass im Ernstfall jemand haftet, der die Qualität des Produkts nicht beeinflussen kann.
Neue Auskunftspflichten und Vermutungen
Die neue Produkthaftungsrichtlinie sieht einen dem deutschen Produkthaftungsrecht bislang unbekannten Herausgabe- bzw. Auskunftsanspruch vor: Der Hersteller muss Entwicklungsunterlagen, Produktzeichnungen und andere Dokumente herausgeben, wenn es sich um relevante Beweismittel handelt. Konkret sieht Art. 8 der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie vor, dass im Rahmen von Gerichtsstreitigkeiten nach Darlegung der Plausibilität eines produkthaftungsrechtlichen Schadensersatzanspruchs vom Hersteller relevante Beweismittel herauszugeben sind, vorausgesetzt, die Herausgabe ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen der Parteien notwendig und angemessen. Die EU-Produkthaftungsrichtlinie erwähnt zwar auch, dass Maßnahmen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen getroffen werden können, die Qualifikation der relevanten Beweismittel als Geschäftsgeheimnis führt aber ausgehend vom Wortlaut der Vorschrift nicht zum Wegfall der Herausgabepflicht.
Art. 8 der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie eröffnet den Gerichten zudem die Möglichkeit, die Vorlage der relevanten Beweismittel in einer leicht verständlichen und leicht zugänglichen Weise anzuordnen, was unter Umständen sogar mit einer Aufbereitung vorhandener Informationen in neuen Dokumenten verbunden sein kann. Auch wenn die Vorschrift ein Novum für das deutsche Produkthaftungsrecht bedeutet, sind vergleichbare Regelungen dem deutschen Recht nicht völlig fremd. Im Hinblick auf vergleichbare Ansprüche im Kartellschadensersatzrecht (§ 33g GWB) ist insbesondere denkbar, dass der deutsche Gesetzgeber diese dem deutschen Prozessrecht nicht immanenten Ansprüche auf Herausgabe und Information als materiellrechtliche Ansprüche ausgestaltet, die dann auch bereits im Rahmen außergerichtlicher Verhandlungen geltend gemacht werden könnten.
Noch relevanter für den Ausgang eines Rechtsstreits dürften die neuen Vermutungen sein, die dem an sich beweisbelasteten Geschädigten bei der Durchsetzung seiner Ansprüche helfen sollen. Hierunter fällt zum einen die Vermutung der Fehlerhaftigkeit in Fällen, in denen der Hersteller seinen Herausgabe- und Auskunftspflichten nicht nachkommt. Zum anderen greift eine Vermutung für einen kausalen Fehler in Fällen, in denen entweder der eingetretene Schaden dem typischen Schaden bei Vorliegen eines Produktfehlers entspricht, oder in denen der Nachweis des Fehlers und des Kausalzusammenhangs mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden ist.
Letzteres soll schon dann der Fall sein, wenn der Fall aus technischer oder wissenschaftlicher Sicht komplex ist. Beide Vermutungsregeln sind denkbar weit formuliert und haben das Potenzial, in der Praxis erhebliche Probleme bei der Auslegung ihrer Voraussetzungen zu schaffen. Falls der deutsche Gesetzgeber keine klaren Vorgaben aufnimmt, werden die Gerichte ein weites Ermessen haben. Im Ergebnis droht jedenfalls faktisch eine Beweislastumkehr. So dürfte beispielsweise im Bereich von Pharma- und Medizinprodukten das Schadensbild oftmals identisch sein, unabhängig davon, ob der Schaden auf einen Produktfehler, einen Arztfehler, andere medizinische Ursachen oder das schicksalhafte Fortschreiten der Grunderkrankung zurückgeht. Nach der Vermutungsregelung der EU-Produkthaftungsrichtlinie muss in diesen Fällen der Hersteller nachweisen, dass der vermutete Fehler nicht Ursache des Schadens ist.
In einem Markt, der durch immer komplexere Produkte, stetige technische Fortentwicklung und fortschreitende Digitalisierung geprägt ist, und in dem sich dadurch Kausalzusammenhänge teilweise selbst unter Einschaltung von Sachverständigen nicht sicher aufklären lassen, bedeutet dies eine Umkehr der Risikoverteilung. Führten Unklarheiten und Zweifel beim Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen einem Produktfehler und einem Schaden bislang eher zur Abweisung der Klage, so verschiebt sich dieses Risiko nun zum Hersteller, der eine gegen ihn greifende Vermutung entkräften muss. Die Unaufklärbarkeit wird oft zu einer Verurteilung führen.
Unternehmen sollten jetzt handeln
Nach der förmlichen Verabschiedung durch die EU-Institutionen und der Umsetzung in nationales Recht wird erwartet, dass die angepassten Vorschriften in Deutschland bis Mitte 2026 in Kraft treten. Die Zeit bis zum Inkrafttreten sollten Unternehmen nutzen, um ihre Mitarbeitenden mit den einschneidenden Änderungen vertraut zu machen und geeignete Mechanismen zur Risikoprävention zu implementieren.
Betroffen von den Veränderungen sind alle Branchen, deren Produkte am Ende der Produktions- und Lieferkette in Verbraucherhand gelangen, d.h. insbesondere die Konsumgüter-, Arzneimittel-/Medizinprodukte-, Automobil- und Softwarebranche. In vielen Fällen werden die künftige KI- Haftungsrichtlinie und neu eingeführte kollektive Rechtsschutzmechanismen das Bild steigender Haftungsrisiken vervollständigen. Die Produkthaftung wird vermutlich einer der wichtigsten Anwendungsfälle für die neue Verbandsklage werden.
Die Einführung von Herausgabe- und Auskunftspflichten stellt Unternehmen schon im Vorfeld vor große Herausforderungen: Insbesondere in weniger streng regulierten Branchen werden die relevanten Unterlagen nicht immer zentral in leicht abrufbarer Form zur Verfügung stehen. Die verbesserte Organisation interner Prozesse, die im Fall der Inanspruchnahme den schnellen Zugriff auf die notwendigen Informationen ermöglichen, wird an Bedeutung gewinnen. In der Praxis zeigt sich schon jetzt, dass es entscheidend auf die Qualität und Vollständigkeit der internen Dokumentation ankommt. Lücken in der Dokumentation machen es Klägern leichter, mit pauschalen Behauptungen zu angeblich missachteten Qualitätsstandards oder mangelhaften Testverfahren im Entwicklungsstadium durchzudringen.
Dr. Rupert Bellinghausen ist Partner, Anke Krause ist Counsel im Fachbereich Litigation, Arbitration & Investigations bei Linklaters in Frankfurt.
Handlungsbedarf für Unternehmen: . In: Legal Tribune Online, 28.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53980 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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