Ross Intelligence ist seit Sonntag nicht mehr erreichbar. Den Betreibern ging das Geld aus, nachdem sie von einem Konkurrenten verklagt wurden. Ans Aufgeben denken sie trotzdem nicht.
Es ist eine wohl beispiellose Auseinandersetzung, die derzeit im amerikanischen Legal-Tech-Markt tobt. Das Startup Ross und Thomson Reuters als Betreiber der juristischen Datenbank Westlaw haben sich in einen Rechtsstreit verstrickt, der das Jungunternehmen in die Insolvenz getrieben hat. Dessen Gründer aber wehren sich und haben eine kartellrechtliche Klage gegen Westlaw eingereicht.
Ross ging vor sechs Jahren an den Start mit dem Ziel, die juristische Recherche mit neuen Suchmethoden zu vereinfachen. Das Start-up hat dazu ein Programm entwickelt, dem Nutzer und Nutzerinnen Fragen stellen können, so als wendeten sie sich an eine reale Person. Das Programm durchsucht Gesetzestexte, sammelt Belege und stellt Zusammenhänge her. Mit dieser Idee sind die Gründer von Ross auf großes Interesse in der Szene gestoßen. Es war das erste Portfoliounternehmen von NextLaw Labs, einer Tochtergesellschaft der internationalen Großkanzlei Dentons, die in Legal-Tech-Anwendungen investiert.
Ross hatte zunächst mit Thomson Reuters kooperiert, doch die Zusammenarbeit ist inzwischen in einen heftigen Streit umgeschlagen. Im vergangenen Frühjahr haben Thomson Reuters und Westlaw das Startup wegen angeblicher Urheberrechtsverletzungen verklagt. Thomson Reuters behauptet, Ross habe Inhalte von Westlaw gestohlen, um das eigene, konkurrierende Produkt zu entwickeln. Ross soll dazu das Unternehmen Legal Ease Solutions veranlasst haben, über seinen Westlaw-Account massenhaft Daten aus der Westlaw-Datenbank zu kopieren und an Ross zu liefern. Ross wiederum wirft Westlaw vor, Wettbewerber mittels Rechtsstreitigkeiten aus dem Weg schaffen zu wollen, und hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Hat Ross Urheberrechte verletzt?
Die Argumente von Thomson Reuters haben, das berichtet jedenfalls das Online-Portal Law Site, vor Gericht bislang nicht wirklich überzeugt. Der Vorsitzende Richter soll in einer Anhörung im November 2020 die Vorwürfe als reine Spekulationen bezeichnet haben, will aber Thomson Reuters die Möglichkeit geben, die Klage abzuändern.
Auch wenn das Verfahren für Thomson Reuters damit alles andere als ein Selbstläufer zu sein scheint, ist Ross finanziell am Ende. Die Gründer teilten im Dezember mit, dass sie aufgrund des Rechtsstreits nicht in der Lage waren, eine weitere Finanzierungsrunde aufzubringen, und ihre finanziellen Ressourcen damit erschöpft seien. Das Unternehmen musste deshalb zum 31. Januar den Betrieb seiner Rechercheplattform einstellen.
Aufgeben wollen die Ross-Gründer dennoch nicht. Sie haben zum Gegenschlag ausgeholt und am 25. Januar eine kartellrechtliche Klage gegen Westlaw eingereicht. Der Vorwurf: Westlaw soll gemeinfreie Rechtstexte hinter einer Paywall monopolisieren. Westlaw etabliere ein Geschäftsmodell, mit dem das Unternehmen auf unfaire Weise die Kontrolle über den acht Milliarden US-Dollar schweren Markt für juristische Recherchen behalte, so die Ross-Gründer in einem Statement. Dies geschehe unter anderem durch Scheinprozesse, restriktive Lizenzbedingungen und unberechtigte Urheberrechtsansprüche.
Erinnerungen an den "Fall Kelsen" werden wach
Die Parteien fahren schwere Geschütze auf, demLegal-Tech-Juristen Nico Kuhlmann zufolge scheint eine derartige Auseinandersetzung in diesem Umfang in der Szene einzigartig zu sein. "Es ist ungewöhnlich – und schade – dass eine Kooperation zwischen einem Startup und einem etablierten Anbieter so eskaliert", kommentiert der Hogan-Lovells-Anwalt die Situation.
Die urheberrechtlichen Aspekte des Streits erinnern an den Fall des Berliner Start-ups Kelsen aus dem Jahr 2015. Das Unternehmen hatte eine Art digitalen Anwalt entwickelt, dem Nutzerinnen und Nutzer ihre Rechtsfragen stellen konnten und der mithilfe eines selbstlernenden Algorithmus Daten aller existierenden deutschen Rechtsquellen in Echtzeit abgleichen wollte – kostenlos und in Echtzeit. Allerdings hatten die Macher von Kelsen nur die Datenbanken zweier Konkurrenten kopiert und mit irreführenden Aussagen für sich geworben, wie das Landgericht (LG) Berlin später entschieden hatte (Urt. v. 05.05.2015, Az. 16 O 74/15). Die Verantwortlichen bei Kelsen mussten einräumen, dass ihr vermeintlich neuartiger Algorithmus nur als Prototyp existierte.
Wäre Ross ein deutsches Unternehmen, würde die Auseinandersetzung mit Thomson Reuters auch hierzulande interessante juristische Probleme aufwerfen. "Ein Unternehmen, das ein juristisches Produkt auf Basis von maschinellem Lernen baut, braucht dazu entsprechende Daten zum Anlernen des Algorithmus – und zumindest nach deutschem Recht genießen Gesetze, Verordnungen und Gerichtsurteile nach § 5 UrhG keinen urheberrechtlichen Schutz", so Kuhlmann.
Auf der anderen Seite habe ein Unternehmen, das viel Geld und Zeit in eine Datenbank investiert hat – die neben gemeinfreien Werken auch viele urheberrechtlich geschützte Aufsätze und Kommentare enthält – aber auch ein schützenswertes Interesse daran, dass niemand anders die Datenbank ohne Zustimmung für eigene kommerzielle Zwecke ausliest und verwertet. "Das deutsche Recht kennt darum ein entsprechendes Schutzrecht des Datenbankhersteller nach § 87b UrhG."
Der Streit zwischen Ross und Thomson Reuters tobt allerdings in den USA, wie er ausgehen wird, ist derzeit nicht absehbar. Es ist ungewiss, ob die Parteien mit ihren Vorwürfen – Urheberrechtsverletzung hier, Kartellrechtsverletzung da - vor Gericht durchdringen werden. Die Auseinandersetzung zeigt aber: Kampflos überlassen die etablierten Player den Start-ups das Feld nicht.
Pleite nach Rechtsstreit mit Thomson Reuters: . In: Legal Tribune Online, 01.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44144 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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