Millionenklage des Insolvenzverwalters: Haftet Etihad für die Pleite von Air Berlin?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Patrick Ostendorf

08.01.2021

Die Air-Berlin-Pleite liegt einige Jahre zurück, ihre juristische Aufarbeitung läuft aber noch. Der Rechtsstreit zwischen dem Insolvenzverwalter und der ehemaligen Gesellschafterin Etihad hat das Zeug zum Klassiker, meint Patrick Ostendorf.

Als sich die Hauptaktionärin Etihad, die staatliche Fluggesellschaft der Vereinigten Arabischen Emirate, im August 2017 weigerte, Air Berlin weiter finanziell unter die Arme zu greifen, war das Schicksal der Fluglinie besiegelt: Sie musste Insolvenz anmelden. Die juristische Bewältigung der Pleite ist dagegen noch lange nicht zu Ende. Mehr als drei Jahre, nachdem der Insolvenzantrag gestellt wurde, haben die kürzlich ergangenen Entscheidungen des Berliner Kammergerichts (Beschl. v. 03.12.2020, Az. 2 W 1009/20) und des englischen Court of Appeal (Urt. v. 18.12.2020, Az. [2020] EWCA Civ 1707) aber immerhin eines geklärt: 

Englische und nicht deutsche Gerichte werden jetzt abschließend darüber entscheiden, ob Etihad für die Folgen der Insolvenz – in Höhe von bislang wohl zwei Milliarden Euro - aufkommen muss und sich Gläubiger von Air Berlin damit noch Hoffnung auf Erfüllung offener Forderungen machen können. Die beiden Entscheidungen sind beachtenswert, und zwar nicht nur im Internationalen Zivilverfahrens- und Privatrecht, sondern auch mit Blick auf allgemeine Grundsätze des Vertragsrechts.

Ein Darlehensvertrag und eine Patronatserklärung

Im April 2017 hatte Etihad Air Berlin ein Darlehen in Höhe von 350 Millionen Euro gewährt, vorausgegangen war eine Vielzahl finanzieller Unterstützungsleistungen. Im Darlehensvertrag einigten sich die Parteien auf die Geltung englischen Rechts sowie auf eine "asymmetrische" Gerichtsstandsvereinbarung. Nach dieser Vereinbarung sollten englische Gerichte grundsätzlich ausschließlich für sämtliche Streitigkeiten aus oder im Zusammenhang mit dem Darlehensvertrag zuständig sein. Etihad sollte allerdings berechtigt bleiben, eine Klage alternativ auch vor anderen zuständigen Gerichten zu erheben. 

Um die Bescheinigung der möglichen Fortführung der Unternehmenstätigkeit durch die Wirtschaftsprüfer nicht zu gefährden, gab Etihad nach gescheiterten Verhandlungen über noch höhere Darlehensbeträge mit gleichem Datum gegenüber Air Berlin zusätzlich eine sogenannte Patronatserklärung ("Comfort Letter") mit folgendem Inhalt ab:

"For the purpose of the finalisation of the financial statements of Air Berlin plc for the year ended 31 December 2016, having had sight of your forecasts for the two years ending 31 December 2018, we confirm our intention to continue to provide the necessary support to Air Berlin to enable it to meet its financial obligations as they fall due for payment for the foreseeable future and in any event for 18 months from the date of this letter. Our commitment is evidenced by our historic support through loans and support on obtaining financing for Air Berlin."

Eine Rechtswahl- und/oder Gerichtsstandsvereinbarung enthielt diese Patronatserklärung nicht.

Klagen in Deutschland und England – doch wer ist zuständig?

Im Juli 2018 verklagte Prof. Dr. Lucas Flöther, der Insolvenzverwalter von Air Berlin, die Hauptaktionärin Etihad vor dem Landgericht Berlin auf Zahlung von rund 496 Millionen Euro und die Feststellung, dass Etihad zum Ersatz aller weiteren Schäden verpflichtet sei, die wegen Verletzung der Patronatserklärung, hilfsweise wegen Verletzung vorvertraglicher Pflichten in diesem Zusammenhang, entstanden seien. 

Etihad reagierte darauf, indem sie im Januar 2019 unter Berufung auf die im Darlehensvertrag enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung eine sogenannte negative Feststellungsklage vor dem englischen High Court einreichte. Zwangsläufig mussten beide Gerichte daher über eine mögliche Aussetzung des Klageverfahrens zugunsten einer abschließenden Klärung der Zuständigkeit durch das jeweils andere Gericht entscheiden. 

EU will "Torpedoklagen" erschweren

Vorgaben über die Koordination mehrerer Gerichtsverfahren im Fall eines gleichen Streitgegenstandes ergeben sich aus der EU-Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVO). Grundsätzlich entscheidet danach das Gericht, das zuerst angerufen wird, ob es zuständig ist (Art. 29 Abs. 1 EuGVO). 

Diese Regel gilt nach der letzten Änderung der EuGVO allerdings dann nicht mehr, wenn eine Partei das Gericht eines Mitgliedstaates anruft, das aufgrund einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung mutmaßlich zuständig ist: In diesem Fall muss auch ein früher angerufenes Gericht das Verfahren aussetzen, bis das auf Grundlage der Vereinbarung (ausschließlich) zuständige (und später angerufene) Gericht die Zuständigkeitsfrage geklärt hat (Art. 31 Abs. 2 EuGVO). 

Mit dieser Bestimmung wollte der Europäische Gesetzgeber den missbräuchlichen Einsatz sogenannter Torpedoklagen einschränken: Darunter versteht man negative Feststellungsklagen, die Schuldner vor notorisch langsam arbeitenden staatlichen Gerichten in der EU erheben, um Leistungsklagen ihrer Gläubiger vor zuständigen (schnelleren) Gerichten anderer Mitgliedsstaaten zu blockieren.

Etihad blockiert deutsche Leistungsklage

Mit der Klage in London hat Etihad - gestützt auf Art. 31 Abs. 2 EuGVO - einen "umgekehrten" Torpedo abgeschossen: Durch die hier eingereichte negative Feststellungsklage unter Berufung auf die - möglicherweise auch auf Ansprüche aus der Patronatserklärung anwendbare - ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung im Darlehensvertrag wurde die bereits in Deutschland laufende Leistungsklage erfolgreich blockiert. Denn letztlich muss für die Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 EUGVO nach Wortlaut und Telos der Vorschrift bereits der Anschein einer einschlägigen (ausschließlichen) Gerichtsstandsvereinbarung ausreichen. 

Angesichts der zeitlich und wirtschaftlich engen Beziehungen zwischen Patronatserklärung und Darlehensvereinbarung und dem weiten Wortlaut der Gerichtsstandsvereinbarung haben mittlerweile sowohl das Kammergericht als auch der Court of Appeal dieses Ergebnis ebenso bestätigt wie die grundsätzliche Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 EuGVO auf asymmetrische Gerichtsstandsvereinbarungen. Angesichts einschlägiger Bestimmungen im Austrittsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU konnte auch der Brexit nichts an diesem Ergebnis ändern.

Und materiell-rechtlich?

Wenn der englische High Court erwartungsgemäß seine internationale Zuständigkeit bejaht, wird er demnächst klären, ob die Patronatserklärung überhaupt vertragliche Pflichten von Etihad begründet. Dazu müsste der Erklärung im Rahmen der Auslegung ein hinreichender Rechtsbindungswille von Etihad entnommen werden können. Vieles spricht dafür, dass es daran fehlt. 

Dreh- und Angelpunkt der Erklärung ist nämlich lediglich die Bestätigung einer Absicht von Etihad - und damit einer zum Zeitpunkt der Abgabe bestehenden (inneren) Tatsache im Gegensatz zu einer auch für die Zukunft wirkenden Zusicherung -, Air Berlin jedenfalls für einen Zeitraum von 18 Monaten finanziell weiter zu unterstützen. Reine Absichten können sich aber jederzeit ändern. 

Die Ähnlichkeit mit der berühmten Leitentscheidung des Court of Appeal in der Rechtssache Kleinwort Benson vs. Malaysia Mining Corporation aus dem Jahr 1989 – in der das Vorliegen eines Bindungswillens wegen des Verweises auf die "Geschäftspolitik" des Patrons verneint wurde - sind nicht zu verkennen.

Chancen in Deutschland stünden wohl kaum besser

Ist das prozessuale Manöver von Etihad daher – wie es ein Branchendienst vermutet – vor allem damit zu erklären, dass eine Niederlage des Insolvenzverwalters in England wahrscheinlicher ist als vor deutschen Gerichten? Wirklich stichhaltig erscheint das nicht. Auch deutsche Gerichte würden auf Grundlage einer kollisionsrechtlichen Prüfung wohl zur Auffassung gelangen, dass englisches Recht nicht nur für die Frage der Rechtsverbindlichkeit der Patronatserklärung, sondern auch eine mögliche außervertragliche Haftung einschlägig ist. 

Darüber hinaus ist selbst bei unterstellter Geltung deutschen Rechts fraglich, ob die Chancen auf Schadensersatz tatsächlich besser stünden. Auch deutsche Gerichte haben vergleichbare Erklärungen im Einzelfall als nicht bindende, sogenannte schwache Patronatserklärungen bewertet. Dass allein das Vertrauen auf die freiwillige Erfüllung der Erklärung im Rahmen einer möglichen Haftung aus culpa in contrahendo schützenswert ist, muss durch das erkennbare Fehlen einer rechtsgeschäftlichen Bindungsabsicht wiederum zweifelhaft erscheinen.

Der Autor Prof. Dr. Patrick Ostendorf ist Of Counsel bei Orth Kluth Rechtsanwälte in Berlin und als Dozent an der HTW Berlin unter anderem spezialisiert auf die Bereiche Rechtsvergleichung, ausländisches Privatrecht und internationales Vertragsrecht.

Kanzlei des Autors

Zitiervorschlag

Millionenklage des Insolvenzverwalters: . In: Legal Tribune Online, 08.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43928 (abgerufen am: 04.11.2024 )

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